22
Wir erreichten Kansas gemeinsam mit der Sturmfront und jagten dem Licht hinterher, bis die Sonne unterging und wir durch drückende, absolute Finsternis fuhren. Die Wolkendecke am Himmel schluckte jede Spur von Sternenlicht, und als es zu regnen anfing – etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang –, konnte man selbst mit eingeschalteten Scheinwerfern praktisch nichts mehr sehen.
Als der Regen einsetzte, übernahm Becks das Steuer, während ich nach hinten ging und mich der inzwischen ziemlich sinnlosen Aufgabe widmete, nach Verfolgern Ausschau zu halten. Bislang hatten wir noch niemanden gesehen, aber das bedeutete nicht, dass uns niemand auf den Fersen war, sondern nur, dass dieser Jemand wachsam genug war, um sich unseren Blicken zu entziehen. Vielleicht würde der Regen ihn ja leichtsinnig werden lassen, sodass er dichter zu uns aufschloss, um uns nicht zu verlieren. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass ich mein eigenes Bein treffen würde, wenn ich unter diesen Umständen auf etwas zu schießen versuchte. Unglücklicherweise mussten wir dieses Risiko eingehen.
Eine Sache war gut an dem heulenden Wind: Da Becks und Mahir vorne saßen und ich hinten, konnten sie mich bei dem Sturm nicht hören. »Himmel, George, hör dir das mal an«, flüsterte ich. »Als wollte es uns bis zurück nach Kalifornien pusten.«
Mir gefällt das nicht, sagte sie knapp und mit vor Anspannung schneidender Stimme. Fast hatte ich das Gefühl, dass ich sie neben mir sehen würde, wie sie mit ihrem Lieblings-40er in den Händen auf der Straße nach Ärger Ausschau hielt. Wenn ich den Kopf nur ein wenig zur Seite drehen würde, könnte ich sie vielleicht sehen – aber ich tat es nicht. Sie fügte hinzu: Irgendetwas stimmt hier nicht. Warum folgen sie uns immer noch nicht?
»Vielleicht sind sie sich nicht sicher, ob wir es waren.« Die Erklärung kam mir blödsinnig vor, noch ehe die Worte ganz aus meinem Mund waren. Die Leute, mit denen Dr. Wynne zusammengearbeitet hatte, wussten zweifellos, dass er Kelly geschickt hatte, um uns zu infiltrieren – den Ausbruch in Oakland hatte er nicht einfach per Fernsteuerung auslösen können, und mit Sicherheit konnte er keine Luftschläge anordnen, solange sie nicht von jemand anderem abgesegnet wurden. Die ehrlichen Mitarbeiter der Seuchenschutzbehörde würden vielleicht verwirrt sein, wenn man Kelly tot in seinem Labor fand, aber die Korrupten wussten mit Sicherheit ganz genau, wer sie zurück nach Memphis gebracht hatte, und sie würden die Straßen im Auge behalten. Wo waren sie also?
Es ist zu einfach.
»Ich weiß.« Ich holte tief Luft und beobachtete weiter das bisschen Straße, das in Dunkelheit und Regen noch erkennbar war. Beinahe wünschte ich, dass dort jemand gewesen wäre. Ein zweites Paar Scheinwerfer hätte zumindest das Schwarz ein wenig aufgebrochen. »Ich glaube, wir haben Scheiße gebaut, George. Ich glaube, wir haben so richtig Scheiße gebaut.«
Wir hätten uns einen besseren Plan überlegen sollen. Es gab sicher einen anderen Weg. Ihr Tonfall wurde verbittert. Wenn jemand es hätte besser wissen sollen, dann ich.
Ich widersprach nicht. George war selbst zu Lebzeiten stur gewesen. Jetzt, wo sie tot war, war es praktisch unmöglich, ihre Meinung zu ändern. »Also fahren wir jetzt nach Hause, sammeln uns und verschwinden dann irgendwo. Bei Maggie können wir nicht bleiben. Dort ist es nicht sicher.«
Wir können sie auch nicht alleine dort zurücklassen. Ich konnte beinahe ihr resigniertes Gesicht vor mir sehen, als sie meine Worte wiederholte: Dort ist es nicht sicher.
»Scheiße!«, flüsterte ich und ließ mich zurücksinken, den Blick noch immer auf die Straße gerichtet.
Maggie war nie auf ihre Arbeit als Bloggerin angewiesen gewesen. Sie hatte nie arbeiten müssen. Sie hatte das Geld ihrer Eltern und hätte ihr ganzes Leben mit demonstrativem Müßiggang verbringen können. Ich bin mir nicht sicher, wie sie und Buffy einander kennengelernt haben. Es hat eigentlich nie eine Rolle gespielt. Sie waren Freundinnen, als Maggie zu unserer Website hinzugestoßen ist, und sie sind bis zu dem Tag, an dem Buffy gestorben ist, Freundinnen geblieben. Sie war die Einzige, die infrage gekommen war, um bei den Fiktiven die Leitung zu übernehmen, und sie hatte vom ersten Tag an hervorragende Arbeit geleistet … obwohl sie es nie nötig gehabt hatte. Die meisten Leute steigen ins Nachrichtengeschäft ein, weil etwas sie dazu zwingt, etwas, womit sie irgendwie fertig werden müssen. Maggie hatte einfach einen Zeitvertreib gesucht. Sie machte ihre Sache gut, sie machte sie professionell, und jetzt war sie in ebenso großer Gefahr wie der Rest von uns.
Sie wusste, dass es ein gefährlicher Job ist, als sie ihn angenommen hat, sagte George, um mich zu beruhigen. Sie hatte keinen Erfolg damit.
»Tatsächlich?«, fragte ich. »Buffy nämlich nicht.«
Darauf wusste nicht einmal George etwas zu erwidern.
»Shaun?« Mahir brüllte fast, damit man ihn durch den heulenden Wind hören konnte. »Wir haben keinen Funkempfang. Ab hier gibt es keine GPS-Verbindung mehr, wir müssen also auf eine nachvollziehbare Beschilderung hoffen.«
»Na prima«, rief ich so locker wie möglich zurück. »Was ist unsere letzte bekannte Position?«
»Wir haben vor etwa zwanzig Minuten Colorado erreicht«, rief Becks. »Denver umfahre ich – wir nehmen die Abkürzung durch Centennial und lassen Wyoming ganz aus. Wenn wir Nevada erreichen, kannst du wieder ans Steuer.«
»Abgemacht.« Ich kletterte über die Rückbanklehne und setzte mich so hin, dass ich nach vorne zur Windschutzscheibe hinausschauen konnte. »Aber ich muss ein bisschen schlafen, bevor ich wieder fahren kann. Mahir, kannst du nach hinten Ausschau halten? Schrei einfach, wenn dir was komisch vorkommt!«
»Ich glaube, das kriege ich hin«, sagte Mahir und löste seinen Anschnallgurt.
Ich streckte mich auf der Mittelbank aus, während er an mir vorbeikraxelte. Eine Tüte billige Kartoffelchips gab ein brauchbares, wenn auch komisch riechendes Kissen ab, und meine Jacke stellte eine bessere Decke dar als so manches, was ich in Motels bekommen hatte. Ich schloss die Augen, lauschte dem Heulen des Windes und dem Klang neuer Countrymusik aus dem Radio. Georges Geisterfinger strichen mir über die Stirn, linderten meine Anspannung, und alles um mich herum verblasste, als ich in einen unruhigen Schlaf fiel.
Ich erwachte mehrere Hundert Kilometer und fünfeinhalb Stunden später. Mahir schlief auf dem Rücksitz des Wagens, und das Radio war laut aufgedreht – obwohl das kaum auffiel. Die Wolkendecke wirkte hier dünner und ließ eine Ahnung von etwas hindurch, bei dem es sich möglicherweise um Sonnenlicht handelte. Der Wind machte immer noch auf Sturm und pfiff sogar noch lauter als zu dem Zeitpunkt, an dem ich eingeschlafen war. Ich setzte mich benommen auf, rieb mir den Schlaf aus den Augen und schluckte zweimal, um meine Kehle frei zu machen, ehe ich krächzte: »Wo sind wir?«
»Etwa fünfzig Kilometer weit in Nevada«, sagte Becks. Sie klang erschöpft. Ich wollte sie gerade fragen, warum sie immer noch wach war, als ich die Schicht leerer Red-Bull-Dosen auf dem Boden bemerkte. Die waren noch nicht da gewesen, als ich eingeschlafen war.
Ich rieb mir erneut die Augen. »Wart ihr noch mal einkaufen?«, riet ich.
»Sozusagen.« Becks begegnete meinem Bick im Innenspiegel, und mit einem Schreck wurde mir klar, dass sie kurz vor einer Panikattacke stand. »Wir haben immer noch keine Funkverbindung. Ich bekomme kein brauchbares Radiosignal rein. Vor etwa zwanzig Minuten habe ich zum Tanken angehalten, aber die Tankstelle war völlig verlassen. Sie war offen, aber es war niemand da. Ich habe so viel zusammengerafft wie möglich, aufgetankt und bin dann verduftet.«
»Hast du auch noch was außer Red Bull mitgenommen?«
»Allerlei Donuts, genug Cola, damit du es durch Nevada schaffst, und ein bisschen getrockneten Lachs.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. »Ich glaube, wir sollten nicht noch einmal haltmachen, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Hier draußen stimmt etwas ganz und gar nicht.«
»Wie meinst du das?« Ich wühlte zwischen den Sitzen herum, bis ich schließlich die Tüte mit den Colaflaschen fand. Ich nahm mir eine Cola und eine Schachtel Donuts – die billigste Sorte, die schmeckte, als hätte man sie in Plastik mit einem Hauch Schokoladenaroma getaucht. Dann stand ich gebückt auf, kletterte zum Beifahrersitz und ließ mich neben Becks nieder.
»Ich habe seit Burlington niemanden mehr gesehen«, sagte Becks. Sie umklammerte das Steuer so fest mit beiden Händen, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Die Straßen waren dort ziemlich normal. Leute, die versuchten, nach Hause zu kommen, bevor der Sturm richtig losbricht, Leute, die sich mit Vorräten eindeckten – alles wie erwartet. Durch Centennial sind wir so spät gekommen, dass mir die leeren Straßen nicht weiter komisch vorkamen, aber jetzt steht die Sonne schon seit einer Stunde am Himmel. Man sollte Autos sehen. Selbst hier draußen müsste es Pendler geben. Wo zum Geier sind die also alle?«
»Vielleicht ist heute ein Feiertag.«
»Oder vielleicht stimmt hier etwas ganz und gar nicht.« Becks drückte auf den Sucher am Radio und zog eine finstere Miene, als er ein Dutzend Sender durchlief, auf denen nur Rauschen zu hören war, ehe er wieder bei dem Country aus der Dose landete, den wir schon gestern Abend gehört hatten. »Alle Live-Nachrichtensender sind tot. Außer den vorprogrammierten Musiksendern läuft gar nichts. Ich schwöre, ich würde jemanden umbringen für eine Internetverbindung. Hier stimmt wirklich etwas ganz und gar nicht.«
»Hast du versucht, jemanden anzurufen?« Wenn wir ohne Sicherheitsvorkehrungen jemanden anriefen, konnte dadurch unsere Position auffliegen. Das durften wir nur im absoluten Notfall tun. Doch nach dem, was Becks erzählt hatte, hätte ich ihr einen Anruf nicht übel genommen.
Sie ließ langsam den Atem entweichen und nickte. »Das habe ich.«
»Und?«
»Und ich habe niemanden erreicht.« Sie klammerte die Hände noch fester ums Steuer. »Alle Leitungen waren blockiert. Ich bin nicht mal bei der Polizei durchgekommen. Es ist niemand zu Hause, Shaun. Nirgendwo im Land ist jemand zu Hause.«
»He!« Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Atme tief durch, in Ordnung? Ich bin mir sicher, dass es eine absolut vernünftige Erklärung für all das gibt. Wie immer.«
»Wirklich?«, fragte Becks.
Wirklich?, fragte George.
»Nein«, antwortete ich. »Aber wir haben noch einen weiten Weg vor uns, ehe wir bei Maggie sind, also sollten wir versuchen, bis dahin ruhig zu bleiben. Ich hätte nur ungern einen tödlichen Unfall, wenn das für dich in Ordnung ist.« Ich warf einen Blick zurück zu Mahir, der sich mit geschlossenen Augen auf den Rücksitz gefläzt hatte. Er benutzte einen von Kellys Pullovern als Decke. Es sprach wohl nichts dagegen. Sie würde ihn nicht wieder brauchen.
Becks seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht.«
»Du weißt, dass ich recht habe. Das ist ja das Nervige an mir.«
Darüber lächelte sie sogar ein bisschen. »Stimmt.«
»Wann hat Mahir sich hingehauen?«
»Etwa eine halbe Stunde hinter Centennial. Ich dachte mir, dass es nicht schaden kann. Das Einzige, was uns auf einer so leeren Straße umbringen könnte, ist ein Luftschlag, und danach kann man schlecht Ausschau halten. Außerdem war er sowieso am Einschlafen. Ich habe ihm nur die offizielle Erlaubnis gegeben, nicht mehr so zu tun, als wäre er wach.«
»Armer Kerl. Er ist die Verhältnisse im Feld wirklich nicht gewohnt.«
»Shaun, niemand ist Verhältnisse wie diese gewohnt. Zombiehorden, verlassene Shopping-Malls, Skateboardfahren in Geisterstädten, klar, für so was sind wir ausgebildet. Sich mit dem Seuchenschutz anlegen, um herauszufinden, wer hinter einer weltweiten Verschwörung steckt? Eher nicht. Dafür bin ich nicht Irwin geworden.«
»Wofür dann?«
Sie blinzelte mich überrascht an. »Wie bitte?«
»Wofür bist du dann Irwin geworden?« Mit einer Handbewegung deutete ich auf den Sturm vor unserer Windschutzscheibe. »Es bringt uns kein bisschen schneller nach Weed, wenn du dir den Kopf darüber zerbrichst, was dort draußen vorgeht. Jetzt sag mir, weshalb du Irwin geworden bist, während ich versuche, meinem Kreislauf genug Koffein zu verabreichen, damit ich sicher fahren kann.«
»Alles klar. Ich … alles klar.« Becks holte tief Luft und trommelte mit den Fingern aufs Steuer. »Wie kommt es, dass du mich das jetzt erst fragst?«
»Wir hatten ohnehin schon viel zu tun, bevor wir dich für die Website angeheuert haben, und dann ging es richtig mit dem Ryman-Wahlkampf los, sodass einfach keine Zeit dafür war. Danach … ich weiß nicht. Danach war ich wohl zu sehr damit beschäftigt, mich wie ein Arschloch aufzuführen, um daran zu denken. Tut mir leid. Aber jetzt frage ich dich.«
»In Ordnung.« Becks deutete ein Kopfschütteln an. »In Ordnung. Du weißt doch, dass ich von der Ostküste stamme, oder?«
»Ja. Aus Westminster, wie die X-Men.«
»Nein, aus Westchester in New York. Keine Mutanten. Viel Geld. Altes Geld.« Sie warf mir einen Blick zu. »Meine Eltern sind nicht in derselben Gewichtsklasse wie die Garcias, aber sie konnten meinen Schwestern und mir mit ihrem Vermögen eine Kindheit bieten, die anderen wie aus dem Märchenbuch vorkommen muss. Tanzstunden mit drei, Reitstunden mit fünf – ja, auf richtigen Pferden. Die waren wahrscheinlich das einzig Gefährliche, was meine Eltern jemals gutgeheißen haben. Eigentlich hätte ich studieren und irgendeinen vernünftigen Abschluss machen sollen, um anschließend nach Hause zurückzukehren und einen Mann zu heiraten, der aus ebenso gutem Hause stammte und ebenso wohlerzogen war wie ich selbst.«
»Was ist passiert?«
»Ich bin auf das Vassar College gegangen, so eine Geisteswissenschaftler- und Künstler-Uni. Als Hauptfach hatte ich Englisch und als Nebenfach amerikanische Geschichte. Irgendwann habe ich angefangen, mich dafür zu interessieren, wie sich dieses Land verändert hat, und dann ist mir klar geworden, dass ich eigentlich ins Nachrichtengeschäft wollte.« Becks wurde langsamer und machte einen Schlenker um einen herabgefallenen Ast, der die halbe Straße blockierte. »Also habe ich meinen Eltern gesagt, dass ich Politik an der New York University studieren wolle, gewechselt und meinen Abschluss in Film gemacht, mit Journalismus als Nebenfach. Als meine Eltern rausfanden, was ich dort in echt getrieben habe, haben sie mich selbstverständlich enterbt.«
»Selbstverständlich«, wiederholte ich ungläubig.
Becks fuhr fort, als hätte ich überhaupt nichts gesagt. Vielleicht war das auch besser so. »Nach etwa acht Monaten freiberuflicher Arbeit habe ich die Stellenausschreibung für die Nachrichtenabteilung eurer Website gesehen. Zu der Zeit machte ich Action-Nachrichten und Infos … ich machte alles, außer Geld für meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich wohnte in einer Einzimmerwohnung in Jersey City und aß zu jeder Mahlzeit Sojanudeln. Beinahe wäre ich zum Wohlfahrtsdienst gegangen. Und dann habe ich den Job gekriegt.«
»George war echt begeistert von deiner Bewerbung«, sagte ich.
»Danke!« Becks lächelte leicht. »Ich wusste schon nach meiner zweiten Pressekonferenz, dass die Newsies nichts für mich waren. Ich hätte die Leute am liebsten so lange geohrfeigt, bis sie ihre Ärsche in Bewegung setzten und etwas unternähmen. Also habe ich versucht, das Fach zu wechseln. Ich wollte nur … ich weiß nicht. Ich glaube, ich wollte zur Abwechslung mal meinen Spaß haben. Ich wollte leben, bevor ich sterbe.«
»Cool.« Ich trank meine Cola in einem Zug aus, wischte mir mit dem Handrücken über den Mund und warf die Flasche nach hinten. »Danke, dass du es mir erzählt hast! Ich bin jetzt bereit zu übernehmen, wenn du rechts ranfährst.«
»Tja, wir sind wohl über den Punkt hinaus, an dem man Geheimnisse voreinander hat, was?« Becks wurde langsamer. »Was mich an etwas erinnert. Was ist das für eine Bombe, die Alaric hochgehen lassen soll?«
Ich verzog das Gesicht.
Sie warf mir einen stechenden Blick zu, während sie am Straßenrand hielt. »He, ich habe deine Frage auch beantwortet!«
»Ich weiß, ich weiß. Ich will ja auch antworten. Es ist bloß kompliziert.« Ich löste meinen Sicherheitsgurt und schob mich zwischen den Sitzen hindurch, sodass Becks genug Platz hatte, um in den Beifahrersitz zu klettern. »Also. Du weißt, wie die Lage mit den Masons ist, oder? Dass sie George und mich adoptiert haben, nachdem ihr leiblicher Sohn während des Erwachens ums Leben gekommen ist?«
»Ich habe Georgias Essay zum Thema Adoptionen gelesen«, sagte Becks zurückhaltend, während sie sich auf dem Sitz niederließ, den ich soeben frei gemacht hatte.
»Ja. Also, nachdem sie gestorben ist, haben sie versucht, mir ihr Material wegzunehmen. Wir haben uns sogar vor Gericht um ihren Nachlass gestritten. Sie haben verloren. George hatte ein hieb- und stichfestes Testament. Aber glücklich waren sie darüber nicht.«
»Die Bombe geht also …«
»An die Masons.« Ich schnallte mich an und stellte den Sitz neu ein, bevor ich die Hände ums Steuer schloss. »Wenn einer dieser beiden Quotenjäger sich einmischt, dann wird die Geschichte nie wieder begraben. Zum Teufel, vielleicht haben wir Glück, und es trifft sie, falls noch jemand sterben muss.«
»Es ist ziemlich schrecklich, so etwas über seine Eltern zu sagen.«
»Wenn sie meine Eltern wären, dann hätte ich vielleicht ein schlechtes Gewissen.« Ich schaute zu Becks. »Schlaf ein bisschen! Von hier an bringe ich uns nach Hause.«
Sie nickte, und ein Ausdruck, den ich nicht zu deuten vermochte, erschien auf ihrem Gesicht. Vielleicht handelte es sich um Verständnis. Schlimmer noch, möglicherweise handelte es sich um Mitleid. »In Ordnung.«
Ohne sie noch einmal anzuschauen, fuhr ich wieder auf den Highway. Der Asphalt war vom Regen rutschig, aber es regnete bereits so lange, dass der Großteil des Öls weggespült war, und die Art, in der man die Straße angelegt hatte, wirkte sich zu unserem Vorteil aus. Seit dem Erwachen war die Arbeit bei der Straßenwartung sehr viel gefährlicher, weshalb man das amerikanische Highway-System an die tägliche Zombie-Gefahr angepasst hatte. Dort, wo Überschwemmungen drohten, waren die Straßen leicht erhöht, und man hatte die Abflussrinnen und -rohre verbessert. Es brauchte schon eine Flut biblischen Ausmaßes, um eine der größeren Straßen wie die, auf der wir unterwegs waren, zu überspülen. Sollte es ruhig schütten wie aus Kübeln. Wir würden es trotzdem nach Hause schaffen.
In einer Hinsicht hatte Becks recht: Die Straßen waren verlassen. Während wir durch Nevada brausten, sah ich niemanden sonst. Am meisten beunruhigte mich, dass es nicht einmal Polizeistreifen gab. Die Kontrollstellen waren unbemannt und führten ihre Bluttests automatisch durch. Ich rechnete damit, dass nach dem Regen auch wieder Autos auftauchen würden, aber nichts dergleichen geschah. Unsere Fahrt über eine leere, sonnenbeschienene Straße war sogar noch verstörender als eine Fahrt durch die Dunkelheit. Vorher hatte ich es wenigstens auf die tief hängenden Gewitterwolken schieben können, dass Amerika mit einem Mal verlassen zu sein schien.
Im Radio kam größtenteils Rauschen, mit Ausnahme einiger weniger Stationen, die vorprogrammierte Sendelisten ausstrahlten, und solange ich als Einziger wach war, konnte ich das GPS nicht wieder einschalten. Ich versuchte es weiter mit dem Telefon, aber alle Leitungen waren besetzt. Daran änderte sich auch nichts, als wir über die Grenze nach Kalifornien kamen. Kurz darauf wachte Mahir auf, kletterte auf die Mittelbank und fragte verschlafen: »Wo sind wir?«
»In Kalifornien, und demnächst müssen wir zum Tanken halten. Becks hat Donuts geholt. Schmecken scheiße, sind aber essbar. Hinter mir in der Tasche.«
»Danke!« Mahir fischte eine Schachtel mit Donuts aus der Tüte, die mit etwas bestreut waren, bei dem es sich angeblich um Puderzucker handelte. Ich hätte nicht darauf wetten wollen, worum es sich bei dem Überzug wirklich handelte. Ebenso wenig wollte ich mir etwas von dem Zeug in den Mund stecken. Mahir hatte keine derartigen Bedenken. Ein paar Minuten vergingen in relativer Stille, bevor er, den Mund voll Donutteig, fragte: »Ie eit och?«
»Sprich nicht mit vollem Mund, Mann! Das ist eklig. Wir haben noch etwa fünf Stunden vor uns. Weiter vorne kommt eine Raststätte. Ich tanke auf, während du das GPS wieder in Gang bringst, alles klar?«
Er schluckte und nickte. »Wunderbar.«
»Gut.«
Ich wollte es nicht zugeben, aber ich hatte Angst gehabt zu halten, während die beiden anderen schliefen. Etwas an der Welt da draußen war einfach zu unheimlich, und tief in meinem Innern wusste ich, dass ich niemals zurückkehren würde, wenn ich alleine in diese Leere hinaustrat.
Die Raststätte wirkte diesem Gefühl kein bisschen entgegen. Das Restaurant war geschlossen, die Metalljalousien vor den Fenstern heruntergelassen. Nirgendwo waren andere Fahrzeuge zu sehen. Ich hatte beim Tanken die ganze Zeit die Hand an der Waffe, und ich verlor keine Zeit damit, die Fenster zu putzen oder unter die Motorhaube zu schauen. Etwas an der ganzen Sache versetzte mich in äußerste Anspannung, und wenn man länger als ein paar Monate aktiv als Irwin arbeitet, dann lernt man, der leisen Stimme in seinem Hinterkopf zu vertrauen, wenn sie einem sagt, dass man lieber verduften sollte.
Das ist nicht gut, sagte George.
»Da hast du recht«, brummte ich und stieg wieder ein. »Mahir, wie sieht’s mit dem GPS aus?«
»Kein Glück. Alle örtlichen Netzwerke sind entweder gesperrt oder offline. Ich fürchte, wir sind für den Rest des Heimwegs blind.«
»Schließlich muss dieser Tag unbedingt noch schlimmer werden.« Ich steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Der Wagen ließ sich problemlos anlassen – Gott sei Dank, eine Panne war das Letzte, womit wir uns jetzt hätten herumschlagen wollen –, und wir kehrten auf die Straße zurück.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang standen wir an Maggies Auffahrt. Becks fuhr, und ich saß auf dem Beifahrersitz, während Mahir hinten unermüdlich auf seinem Laptop tippte. Er war schon seit vier Stunden am Schreiben und hielt wie ein typischer Newsie alles fest, was wir sahen und hörten. Es war ein tröstliches Geräusch. George hatte immer dasselbe getan, damals, als sie noch Finger gehabt hatte.
Die ersten beiden Tore erkannten uns erwartungsgemäß und öffneten sich, um uns durchzulassen. »Sieht aus, als ob wir zu Hause und in Sicherheit wären«, sagte Becks. »Noch ein kleines Stück und … heilige Scheiße!« Sie trat fest in die Bremsen. Ich ruckte nach vorne, und nur mein Anschnallgurt verhinderte, dass ich mit dem Kopf auf die Armaturen knallte. Von hinten war ein Poltern zu hören, als Mahir – der nicht angeschnallt gewesen war – von der Bank fiel.
»Himmel noch mal, Becks, was soll der Scheiß?«, fragte ich.
Sie antwortete nicht. Stattdessen hob sie einen zitternden Finger und zeigte nach vorne auf die Auffahrt. Ich riss die Augen auf.
Normalerweise ist das dritte Tor auf Maggies Auffahrt das erste, an dem autorisierte Besucher mit dem Sicherheitssystem interagieren müssen. Heute war das normale System allerdings nicht im Einsatz. Das Tor stand offen, und drei Männer in voller Schutzmontur standen mit Sturmgewehren im Anschlag auf der Straße und versperrten uns den Weg. Ihre Gesichter waren hinter Atemmasken verborgen, die die Luft filterten und sie vor Flüssigkeits- oder Partikelattacken schützten. Mehr als alles andere waren es die Masken, die mir verrieten, dass es sich nicht um eine Übung handelte. Die Dinger waren höllisch unbequem, und man zog sie nicht ohne einen guten Grund über.
Einer der Männer winkte uns heran. Becks fuhr im Schneckentempo vor, bis er uns mit einem weiteren Wink zu verstehen gab, dass wir anhalten sollten. Er kam an den Wagen und klopfte mit der Mündung seines Gewehrs an mein Fenster. »Bitte lassen Sie das Fenster herunter, Sir«, sagte er für den Fall, dass seine Geste nicht deutlich genug gewesen war.
Schwer schluckend tat ich wie geheißen. »Äh, hallo«, sagte ich. »Sie sind doch einer von Maggies Wach-Ninjas, oder? Ich dachte schon, dass es Sie gar nicht wirklich gäbe.«
»Papiere.«
»Klar doch.« Ich kramte meine Börse hervor und reichte ihm meine Lizenz.
»Alle drei.«
»Schon dabei. Becks? Mahir? Wie wär’s, wenn ihr mal mithelft?«
»Hier«, sagte Becks und drückte mir ihre Lizenzkarte in die Hand. Mahir tat es ihr nach.
Ich reichte die Karten an den Wach-Ninja weiter. »Hat das hier etwas mit dem Verschwinden der gesamten Bevölkerung des mittleren Westens zu tun? Wir sind im Moment nämlich ein bisschen verängstigt, und ich müsste wirklich mal auf die Toilette.« Ich plapperte wild drauflos, um die plötzliche Gewissheit, dass Maggie und Alaric etwas passiert war, zu überspielen. Wir waren an einem Tatort angekommen. Das musste es sein. Es war die einzig logische Erklärung.
Der Wach-Ninja antwortete nicht. Er steckte unsere Karten nacheinander in ein tragbares Lesegerät, reichte sie mir dann zurück und winkte einen der anderen Männer heran. Dieser hatte eine Reihe erstklassiger Bluttesteinheiten dabei – dasselbe Modell, das wir verwendet hatten, um Georges Infektion zu bestätigen.
»Bitte verteilen Sie die hier an die anderen Angehörigen ihrer Gruppe«, sagte der erste Mann, während der zweite mir vorsichtig die Testeinheiten durchs Fenster reichte. Er vermied es, dabei meine Finger zu berühren, als hätte ich eine ansteckende Krankheit, die sich irgendwie durch sein dreifach verstärktes kugelsicheres Gewebe und die Haut darunter hätte bohren können. Dazu ist nicht einmal Kellis-Amberlee in der Lage. Das aktive Virus wurde bislang immer nur durch direkten Kontakt mit Flüssigkeiten übertragen. Gott sei Dank, sonst würden wir schon seit langer Zeit nur noch durch die Welt schlurfen!
Ich reichte Becks eine der Testeinheiten, hielt die andere hinter mich und wartete, dass Mahir sie mir abnahm. Dabei wandte ich den Blick nicht von dem Mann in Schutzmontur ab. Das hier entsprach nicht den Vorschriften für den Fall eines Ausbruchs. Sie hätten gar nicht erst draußen sein sollen, und wenn schon, hätten sie anfangen sollen zu schießen, sobald wir in Reichweite gekommen waren. »Was geht hier vor?«
»Bitte öffnen Sie Ihre Testeinheiten.«
Ich konnte drei Wach-Ninjas sehen, was bedeutete, dass es wahrscheinlich ein halbes Dutzend mehr von ihnen gab, die ich nicht sehen konnte. Wenn sie alle so schwer bewaffnet waren wie diese hier, dann würde es uns wohl nur einen vorzeitigen und sinnlosen Tod einbringen, wenn wir Ärger machten. Mit gerunzelter Stirn öffnete ich den Verschluss der Testeinheit und steckte die Hand hinein. Der Verschluss klappte herunter und hielt meine Hand in der richtigen Position für die Probenentnahme fest, mit gespreizten Fingern. Leise Schnapplaute neben und hinter mir verrieten mir, dass Becks und Mahir dasselbe taten. Ich beobachtete weiter den Wach-Ninja, bei dem Versuch, herauszufinden, was vorging.
Der maskierte Security-Ninja schaute mir nun nicht mehr ins Gesicht, sondern blickte auf die Lichter an meiner Testeinheit. Mit einem Schreck fiel mir auf, dass seine Begleiter sich rechts und links neben dem Wagen aufgestellt hatten, womit sie auf den richtigen Positionen standen, um uns alle sofort zu erschießen, falls ein Testergebnis positiv ausfallen sollte. Dann wäre alles im Wagen voller Blut, womit er sich in eine fahrende Seuchenzone verwandeln würde. Wenig später würde es überall in dem beengten Innern des Wagens nach Schießpulver riechen …
Blut, das in einem halben Dutzend unterschiedlicher Farbtöne an den Wänden trocknet, in Rot und Braun und, oh Gott George, ich glaube nicht, dass ich das ohne dich hinkriege. Ich glaube nicht, dass ich das ohne dich überhaupt tun darf. Nimm es also bitte zurück, ja? Nimm das Blut zurück, mach die Augen auf, und wenn du mich jemals geliebt hast, komm zurück, mach das Blut weg und komm zurück …
Georges Stimme drang durch das plötzliche Durcheinander in meinem Kopf und sagte klar und ruhig: Das ist lange her. Es war in einem anderen Wagen. Dein Testergebnis ist sauber.
»Wie bitte?«, fragte ich, bevor mir einfiel, dass es keine gute Idee ist, in der Anwesenheit fremder Menschen Selbstgespräche zu führen.
Der Wach-Ninja hörte mich entweder nicht, oder man hatte ihn über meine kleinen Marotten informiert. »Vielen Dank für Ihre Kooperation, Mr Mason«, sagte er. Von irgendwo her erschien ein vierter Mann – ich war mir nicht sicher, ob ich so genau wissen wollte, von wo oder wie viele seiner Freunde dort noch lauerten. Er hatte einen großen Sondermüllbeutel dabei. »Wenn Sie die Einheiten bitte einsammeln und mir wiedergeben würden, dann lassen wir Sie gerne weiterfahren.«
»Äh, ja.« Ich nahm den Beutel mit der freien Hand entgegen, warf meine grün leuchtende Testeinheit hinein und reichte ihn dann an Becks weiter. »Wollen Sie uns vielleicht jetzt sagen, was hier vorgeht? Wir haben nämlich nicht die geringste Ahnung, und langsam werde ich wirklich nervös.«
»Ich auch«, warf Becks ein.
»Und ich«, sagte Mahir. Er beugte sich vor und warf seine Testeinheit in den Beutel, den Becks in den Händen hielt. »Ich glaube, das hier ist offiziell der schlimmste Urlaub, den ich je hatte.«
»Ms Mason, Ms Atherton, Mr Gowda.« Der Wach-Ninja streckte die Hand aus, und nach einer kurzen Pause reichte Becks mir den Beutel, und ich reichte ihn an den Mann weiter. Er zog ihn aus dem Wagenfester und gab ihn dem vierten Mann, der damit sofort wieder im Unterholz am Straßenrand verschwand. »Wenn Sie bitte zum Haus weiterfahren würden, Ms Garcia erwartet sie voll Ungeduld.«
Und wahrscheinlich war sie durch das Sicherheitssystem benachrichtigt worden, sobald wir das erste Tor durchquert hatten. »Sie verraten uns nicht, was vorgeht, stimmt’s?«
»Bitte fahren Sie zum Haus weiter!« Der Wach-Ninja hielt inne. Als er erneut sprach, klang seine Stimme sehr viel menschlicher und machte mir sehr viel mehr Angst. »Es ist nicht sicher für Sie, sich hier draußen aufzuhalten. Es ist für niemanden sicher, sich hier draußen aufzuhalten. Und jetzt kurbeln Sie die Fenster hoch und fahren Sie!«
»Schon dabei. Danke!« Ich schloss mein Fenster und drehte mich zu Becks um, die aussah, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie starr vor Schreck oder stinksauer sein sollte. »Du hast den Herrn gehört. Verschwinden wir verdammt noch mal von hier, bevor sie beschließen, uns nur zur Sicherheit abzuknallen.«
»Ach, na gut!« Becks trat aufs Gas, und wir brausten weiter die gewundene Auffahrt empor.
Die anderen Tore standen offen, und jedes war von zwei Männern in kompletter Schutzkleidung flankiert. Was auch immer vorging, es war schlimm genug, um die private Wachtruppe zu mobilisieren, die Maggies Eltern für sie unterhielten. Das war schon für sich genommen erschreckend.
Maggies Haustür war geschlossen, und die Jalousien waren zugezogen. Nichts rührte sich, als wir vor dem Haus zum Stehen kamen. Becks schaltete den Motor ab, saß einfach da und schaute zur Windschutzscheibe hinaus.
»Und jetzt?«, fragte sie.
»Jetzt schnappen wir uns alles, was wir absolut nicht entbehren können, und laufen zum Haus«, antwortete ich und nahm die Tasche mit meinem Laptop und den Waffen drin. »Was zum Henker hier auch immer vorgeht, es ist so übel, dass Männer in Schutzanzügen auf Maggies Auffahrt stehen. Geht davon aus, dass wir, sobald wir einmal drin sind, das Haus höchstens dann wieder verlassen, wenn die Welt untergeht.«
»Komisch«, bemerkte Mahir. »Ich befürchte eigentlich eher, dass wir uns da drin vor dem Weltuntergang verkriechen müssen.«
Auf drei, sagte George.
»In Ordnung. Eins, zwei …« Und damit sprang ich aus dem Wagen, warf mir meine Tasche über die Schulter und rannte zum Haus. Hinter mir knallten die Wagentüren, als Becks und Mahir mir folgten, die eine etwas schneller als der andere.
Es war kein Bluttest nötig, um ins Haus zu gelangen. Wer die bisherigen Sicherheitsvorkehrungen passiert hatte, galt als sauber – zumindest waren bisher alle davon ausgegangen. Ich öffnete die Eingangstür und fand mich vor einer Notfall-Luftschleuse wieder, von der Sorte, die man überall in ganz gewöhnliche Flure oder Türrahmen einsetzen kann. Diese hier war gerade weit genug in den Eingangsbereich zurückgesetzt, dass wir drei davor Platz fanden.
In der Luftschleuse gab es keine Klappe für die Bulldoggen. Was auch immer vorging, man ließ auch sie nicht raus.
Mahir und Becks drängten sich hinter mir rein, während ich noch dastand und entsetzt die Luftschleuse anstarrte. Sobald Mahir durch die Tür war, knallte sie hinter uns zu. Als er am Knauf drehte, riss er die Augen auf. »Das verdammte Ding hat uns eingeschlossen«, sagte er.
»Irgendwie überrascht mich das nicht.«
»Herzlich willkommen«, sagte die Luftschleuse.
Wir zuckten zusammen.
Becks fing sich als Erste wieder. Sie räusperte sich und sagte: »Hallo, Haus! Was sollen wir machen?«
»Bitte ziehen Sie alle äußeren Kleidungsschichten aus, und legen Sie sie in den Sterilisierungsbehälter!« Eine Klappe öffnete sich am Fuß der Luftschleuse und gab den Blick auf einen Metallbehälter frei.
»Wir sollen uns ausziehen?«, platzte es aus mir heraus.
»Bitte ziehen Sie alle äußeren Kleidungsschichten aus«, wiederholte das Haus mit der unendlichen Geduld einer Maschine. »Sobald alle potenziell kontaminierten Materialien zur Sterilisierung in den Behälter gelegt worden sind, können wir mit den Bluttests beginnen.«
Mahir räusperte sich. »Entschuldigung, aber …«
»Wenn Sie der Aufforderung nicht nachkommen, wird eine Sterilisierung durchgeführt.«
Na schön, vielleicht war ihre Geduld nicht unendlich. »Was ist mit unserer Ausrüstung?«, fragte ich. »Unsere Laptops überstehen keine vollständige Sterilisierung.«
Eine zweite Klappe öffnete sich neben der ersten. »Bitte legen Sie Ihre Ausrüstung hinein«, sagte das Haus. »Alles, was nicht kontaminiert ist, erhalten Sie später zurück. Alle Gewebe werden isoliert und sterilisiert. Alle Materialien, bei denen eine Kontaminierung festgestellt wird, werden vernichtet. Ihnen bleiben fünf Minuten, um meiner Aufforderung Folge zu leisten.«
»Lasst uns aufhören, uns mit diesem Gruselhaus zu streiten, und einfach tun, was es von uns will, in Ordnung?« Ich legte meine Tasche in den Ausrüstungsbehälter und zog mir das Hemd über den Kopf und stopfte es in den Kleiderbehälter. »Mir ist heute irgendwie nicht danach, sterilisiert zu werden.«
»Was tut man als Journalist nicht alles für seinen Job«, brummte Mahir und zog sein Hemd aus.
Innerhalb von nicht mal einer Minute standen wir drei barfuß und in Unterwäsche da und versuchten, einander bloß nicht anzuschauen. Da wir eingepfercht waren wie Sardinen in der Dose, war das nicht einfach. Die Klappe an der Luftschleuse schloss sich erst, als wir auch das letzte bisschen Kleidung hineingesteckt hatten. »Bitte legen Sie ihre Hände auf die Testflächen«, sagte das Haus, dessen Stimme immer noch mechanisch ruhig klang. »Der Bluttest wird durchgeführt, sobald alle Anwesenden dieser Aufforderung Folge geleistet haben.«
»Scheiße, ich hasse sprechende Maschinen«, brummte ich und klatschte meine Hand auf das nächstbeste Testfeld.
Damit auch Mahir und Becks an ihre jeweiligen Testfelder herankamen, mussten wir praktisch eine Runde Twister im Stehen spielen. Bisher war mir noch nie aufgefallen, wie eng dieser verdammte Flur war. Schließlich hatten wir alle drei Hautkontakt mit dem Sicherheitssystem des Hauses. Drei Lichterreihen leuchteten auf und begannen, abwechselnd rot und grün zu blinken.
»Wir waren zwischen dem Tor und hier keinerlei Ansteckungsgefahr ausgesetzt«, sagte Mahir. Er klang verunsichert. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich war mir meiner auch nicht besonders sicher.
»Was, wenn das das Problem ist?«, fragte Becks und äußerte damit den einen Gedanken, den ich verzweifelt zu unterdrücken versuchte. »Vielleicht ist deshalb niemand auf der Straße – und die Männer tragen deshalb alle Masken. Vielleicht ist das Virus nun letztendlich doch auf dem Atemweg übertragbar.«
»Es ist schon längst auf dem Atemweg übertragbar«, antwortete ich. Das stimmte – Kellis-Amberlee verbreitet sich über Tröpfcheninfektion –, aber darum ging es nicht. Becks sprach nicht von der passiven, kooperativen Variante von Kellis-Amberlee, derjenigen, die uns vor Erkältungen und Krebs schützt. Sie meinte die aktive Variante, die einen zum umherschlurfenden Zombie macht, der selbst die eigene Familie auffressen würde, um das Virus, das seinen Körper antreibt, mit Nahrung zu versorgen.
»Ich schätze, wir werden es gleich erfahren, nicht wahr?«, sagte Mahir. Wie auf ein Stichwort blieben die Lichter nach und nach bei Grün stehen, zuerst bei Becks, dann bei Mahir. Meine blinkten noch ein paar Sekunden, gerade lange genug, dass es mir ein bisschen die Kehle zuschnürte. Doch dann wurden auch sie endgültig grün, und die Luftschleuse öffnete sich zischend.
»Danke für Ihre Kooperation«, sagte das Haus.
Ich hielt der Decke den Mittelfinger hin.
Mahir und Becks schoben sich an mir vorbei, während ich noch das Haus beschimpfte. Sie traten aus der Luftschleuse ins Wohnzimmer, wo Maggie und Alaric warteten. Becks rannte auf Alaric zu, um ihn zu umarmen, während Mahir beiseitetrat, die Arme vor der Brust verschränkte und verunsichert dreinschaute. Auch ich verließ die Luftschleuse und blickte mich wachsam um.
Von innen war deutlich zu erkennen, dass die Jalousien nicht bloß heruntergelassen, sondern verschlossen und mit durchsichtigen Plastikplatten verstärkt waren. Der Boden war nahezu bedeckt von winzigen Bulldoggen. Um welche Notlage es sich auch handelte, auch für das Rudel galt die Ausgangssperre.
Maggie trat ruhig auf mich zu, gab mir eine feste Ohrfeige und schlang dann, während ich sie noch verwirrt anstarrte, die Arme um mich. »Wir dachten, du wärst tot«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Du hast nicht angerufen, du hast einfach nicht angerufen, und wir dachten, du wärst tot. Du Arschloch. Beim nächsten Mal findest du gefälligst eine Möglichkeit, uns eine Nachricht zukommen zu lassen.«
»Wie wär’s, wenn es kein nächstes Mal gibt? Geht das auch?«
Maggie war angezogen, ich dagegen hatte praktisch nichts an, weshalb mir ihre Umarmung noch unangenehmer war, als es ohnehin schon der Fall gewesen wäre. Ich entzog mich ihr und schaute mich erneut um. »Ich habe euch zwar gesagt, dass ihr die Fenster zumachen sollt, aber so weit musstet ihr es auch nicht treiben.«
»Moment mal … was?« Alaric löste sich von Becks. Er sah völlig verwirrt aus. »Was meinst du damit? Nachdem du uns gesagt hast, dass wir die Fenster zumachen sollten … weißt du nicht, was da draußen los ist?«
Maggie musterte einen Moment lang mein Gesicht, während ihr eine entsetzliche Erkenntnis kam. »Oh mein Gott«, flüsterte sie. »Ihr wisst es wirklich nicht. Ihr habt keine Ahnung, nicht wahr?«
»Wovon haben wir keine Ahnung?« Ich schüttelte den Kopf. »Seit Kansas haben wir niemanden gesehen, aber wir dachten, dass die Leute nur wegen des Sturms drinnen bleiben …«
»Nicht nur wegen des Sturms.« Alaric durchquerte mit abgehackten Bewegungen das Zimmer, griff nach der Fernbedienung und machte den Fernseher an. Er drückte eine Dauerwerbesendung weg und schaltete auf CNN.
Der Bildschirm zeigte eine überflutete Straße mit dem hilfreichen Schriftzug »Miami – Liveaufnahmen« darunter. Ein Nachrichtensprecher erklärte mit leiser, angstvoller Stimme etwas über Todesopfer und über die Suche nach Überlebenden. Ich hörte ihn gar nicht richtig. Das Bild schlug mich völlig in seinen Bann, weil mein Gehirn sich weigerte, zu akzeptieren, was meine Augen ihm mitteilten.
Wie immer war es George, die die Situation zuerst erfasste, und als sie begriff, begriff auch ich. Oh mein Gott …, sagte sie entsetzt.
Ich konnte ihr nicht widersprechen.
Die Straße war voller Trümmer und leerer Autos. Braun-weißes Wasser strudelte über verstopften Gullys. Die Abflüsse hätten gereinigt werden müssen, bevor die Überschwemmung derartige Ausmaße hatte annehmen können, und offenbar hatte man das auch versucht; das war deutlich an den zahlreichen Menschen in orangefarbenen Jacken zu erkennen, die als Teil einer zuckenden Horde auf der Straße herumschlurften. Ich hatte noch nie zuvor so viele Infizierte auf einem Haufen gesehen. Ich zählte fünfzig, bevor mein Gehirn mir den Dienst versagte und sich weigerte, weitere Eindrücke zu verarbeiten.
»… wir wiederholen, die Bundesregierung hat ganz Florida zur Gefahrenzone erklärt. Nicht infizierte Bürger werden dazu aufgerufen, in ihren Häusern zu bleiben und auf Hilfe zu warten. Wer auf der Straße angetroffen wird, kann ohne Vorwarnung erschossen werden. Wer sein Zuhause verlässt, wird als infiziert eingestuft und entsprechend behandelt. Bitte bleiben Sie daheim, und warten Sie auf Hilfe! Bitte …« Dem Nachrichtensprecher versagte die Stimme, als er bei seiner sorgfältig vorbereiteten Rede aus dem Tritt geriet. Die Bilder von der Flut liefen lautlos weiter. Selbst ein Stöhnen vom Band kann Zombies anlocken.
Der Nachrichtensprecher fand seine Stimme wieder und sagte: »Berichte über vergleichbare Ausbrüche sind aus Huntsville, New Orleans, Baton Rouge und Houston eingetroffen. Bis jetzt haben wir noch keine genauen Angaben, aber die Zahl der Todesopfer geht laut Schätzungen in die Tausende und steigt beständig.« Erneut verstummte er, diesmal für länger, ehe er fortfuhr: »Viele bezeichnen die derzeitigen Ereignisse als das zweite Erwachen. Gott erbarme sich meiner, aber ich bin mir nicht so sicher, ob sie damit unrecht haben. Gott erbarme sich uns aller!«
Ein knackendes Geräusch war zu hören, wie wenn jemand ein Mikrofon hinlegt, gefolgt von Schritten. Die Bilder der Flut und der Infizierten liefen ohne Ton weiter.
»Das geht vor«, sagte Alaric. Seine Stimme klang ausdruckslos, und mit einem Schreck fiel mir ein, dass die meisten seiner Familienangehörigen in Florida lebten. »Das zweite Erwachen. Ihr seid mitten durchgefahren, ohne es zu bemerken.«
»Oh mein Gott«, flüsterte ich wie George vor mir. Das Bild im Fernsehen wechselte, und nun stand unten »Huntsville«. Die Stimme des Nachrichtensprechers meldete sich nicht wieder zu Wort. »Ist das echt?«
»Es ist echt«, antwortete Maggie.
Das ist das Ende der Welt, sagte George, und ich stimmte ihr im Stillen zu.
Maggie weinte ohne jede Scham. Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Ihre Nase war wund; offenbar weinte sie schon seit einer ganzen Weile immer wieder. Sie griff nach meiner Hand, und ich zog sie nicht weg, sondern ließ zu, dass sie ihre Finger mit meinen verschränkte. Becks trat neben Alaric, und er nahm sie einmal mehr in die Arme und drückte sie an seine Brust. Zu fünft standen wir da und starrten auf den Fernseher.
Auf das Ende der Welt.