21
Ich hielt das Gaspedal durchgetreten, während wir durch ein Wohngebiet rasten, auf einem der Schleichwege aus der Stadt. Mahir saß mit einem Smartphone auf dem Beifahrersitz und gab alle paar Minuten Routenänderungen ein, wenn er Updates per GPS erhielt. Jede Veränderung musste bei der Highway-Behörde angegeben werden, und da unsere Lizenzen in Ordnung waren, war es, solange kein Haftbefehl gegen uns vorlag, sicherer, unsere Route registrieren zu lassen, als uns mit den Folgen herumzuschlagen, falls man uns erwischte, während wir ohne die erforderlichen Papiere eine Staatsgrenze überquerten.
Unser absurder kleiner Zickzackkurs war nicht gerade der schnellste Weg ans Ziel, obwohl wir wohl zu keinem Zeitpunkt langsamer als 120 fuhren, aber es war eindeutig der verwirrendste. Ich hätte uns nicht verfolgen können – zumindest nicht ohne einen Peilsender an unserem Wagen, und wenn der Seuchenschutz so tief bei uns mit drinsteckte, dann waren wir ohnehin schon tot. Wenn sie das Register der Highway-Behörde hackten, würden sie herausbekommen, welche Fahrzeuge auf unsere Website und ihre Mitarbeiter gemeldet waren, aber ich bezweifelte ernsthaft, dass sie eine komplette Liste der Fahrzeuge hatten, die auf Garcia Pharmazeutika registriert waren.
Becks saß, ihr Gewehr fest umklammernd, hinten und wartete auf den Moment, in dem ein Wagen ohne Nummernschild von hinten heranbrausen würde und sie schießen musste. Vielleicht war das reine Paranoia, aber ich glaubte nicht daran. Der Seuchenschutz hatte schon seit langer Zeit verdammt viel Macht. Unser Tod würde niemandem groß auffallen, mit Ausnahme von Maggie, und nicht einmal sie würde viel dagegen unternehmen können. Ihre Eltern hatten Geld, politischen Einfluss und viel Geduld. Das bedeutete aber nicht, dass sie sich für Maggie mit dem Seuchenschutz anlegen würden, selbst wenn sie sie davon überzeugen konnte, dass die von uns zusammengetragenen Ergebnisse authentisch waren.
Als wir auf halbem Weg zwischen Memphis und Little Rock waren, verlangsamte ich auf eine vernünftigere Geschwindigkeit von neunzig Stundenkilometern. Noch immer waren keine Verfolger zu sehen. »Becks? Wie sieht es auf der Straße aus?«
»Nichts zu sehen.« Ich sah sie im Innenspiegel. All ihre Aufmerksamkeit war auf die Straße gerichtet, angespannt wartete sie auf den Moment des Überfalls. »Keine Menschenseele, seit wir an dem Ausflugsbus vorbei sind.«
»So, wie du fährst, dachten die armen Kerle da drin wahrscheinlich, dass wir auf der Flucht vor einem Ausbruch wären«, sagte Mahir. Ein unterdrücktes Lachen war aus seiner Stimme herauszuhören. Ich war mit diesem hysterischen Unterton besser vertraut, als mir lieb war, obwohl ich ihn seit einer ganzen Weile nicht mehr so deutlich vernommen hatte. Wenn man genug Zeit im Feld verbracht hatte, verschwand er irgendwann. Hysterie verbraucht zu viel Energie, um sie ständig aufrechtzuerhalten. »Wahrscheinlich haben sie umgedreht, sobald die Straße breit genug war.«
»Solange sie nicht in unsere Richtung fahren, ist mir das egal.« Becks flüsterte, und gleichzeitig war ihre Stimme laut und verständlich. Je leiser und nachdrücklicher der Tonfall, desto aufregender und gefährlicher erscheint die Lage den Zuschauern zu Hause an den Bildschirmen. Man muss nur lernen, so laut zu flüstern wie andere Leute schreien, um sicherzugehen, dass die Kameras den Ton auch aufnehmen. Ich kannte mich mit so was aus, war aber trotzdem beeindruckt. Sie machte das verdammt gut.
»Wir haben genug Benzin, um es bis kurz hinter Little Rock zu schaffen – ab dort machen wir dann alles anders«, sagte ich. »Mahir, such uns eine Route, bei der wir keine der Straßen benutzen, die wir auf dem Weg nach Tennessee benutzt haben! Wenn möglich, will ich durch völlig andere Bundesstaaten fahren.«
»Warum sagst du mir das?«, fragte Mahir gereizt. Er begann, hektisch auf seinem Display herumzutippen, um ein besseres GPS-Programm aufzurufen. »Ich bin der Einzige hier im Auto, der nicht auf diesem Kontinent geboren ist.«
»Wunderbar. Das bedeutet, dass du keine dummen Vorurteile darüber hast, welche Gebiete man meiden sollte.«
»Wie, du meinst schlechte Stadtviertel?«
»Ich dachte eher an Gebiete wie Colorado, aber klar, wie du meinst.« Ich bog scharf in ein weiteres Wohngebiet ein, wodurch Becks mit der Schulter gegen das Fenster prallte. Sie fluchte, schrie mich aber nicht an. Unsere Lage war zu ernst, um uns mit dummen Streitereien aufzuhalten. »Becks, ist die Luft noch rein?«
»Wenn der Seuchenschutz keine unsichtbaren Autos hat, ja«, knurrte sie.
»Das genügt mir.« Ich zog einen Wegwerfkopfhörer aus der Tasche, steckte ihn mir ins Ohr und schaltete ihn ein, indem ich dagegentippte. »Hier spricht Shaun Mason. Ich aktiviere das Sicherheitsprotokoll Campbell. Die Brücke ist runtergelassen, die Bäume kommen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Hand böse ist. Jetzt gib mir Zucker, Baby.«
Mahir starrte mich verwirrt an. »Was sollte der Scheiß?«
»Wegwerftelefon. Ich wollte sichergehen, dass ich es nicht versehentlich aktiviere.« Das Ohrteil piepste, als die Verbindung über ein halbes Dutzend Dummy-Server und noch ein halbes Duzend Firewalls hergestellt wurde.
Wegwerftelefone sind so ziemlich das Sicherste, was es gibt, wenn es einem nichts ausmacht, ein paar Hundert Kröten für einen Anruf auszugeben, der nicht länger als sechs Minuten dauern darf und mit der völligen Vernichtung des dafür benutzten Telefons enden muss. Aber sicher ist es.
»Tja, das ist allerdings etwas, das niemand versehentlich sagen wird!«
»Genau. Und jetzt kümmer dich wieder darum, uns ein Schlupfloch zu suchen.«
Das Piepsen hörte auf, und Alaric meldete sich am anderen Ende. »Shaun? Bist du das? Wo bist du?«
»Das ist eine gute Frage, die ich dir nicht beantworten werde, ganz egal wie sicher diese Verbindung ist. Wir haben maximal sechs Minuten Zeit, bevor man diesen Anruf zurückverfolgen kann, also hol Maggie und stell das Telefon auf Lautsprecher! Alles klar?«
»Sie ist hier«, sagte Alaric. Ein Klicken ertönte. Als er erneut sprach, klang seine Stimme blechern und etwas weiter weg, als käme sie durch ein Rohr. »Leg los!«
»Alles klar. Wynne hat uns verraten. Ich weiß nicht, ob er von Anfang an Dreck am Stecken hatte oder ob sie ihn nach der Wahl angeworben haben, aber vielleicht spielt das auch keine Rolle. Er ist tot. Kelly auch.« Ich verzog das Gesicht, als mir klar wurde, dass ihr Tod noch eine weitere unerwartete tragische Komponente hatte. »Scheiße! Wir können nicht mal etwas über sie an die Mauer posten. Offiziell ist sie vor Monaten gestorben, und zwar nicht durch die Infizierten.«
»Verdammt«, flüsterte Alaric. Die Zeit lief uns davon, aber wir verfielen trotzdem für einen Moment in Schweigen und dachten über das Ausmaß der Tragödie nach. Die Mauer ist ein virtuelles Monument für diejenigen, die durch Kellis-Amberlee ums Leben gekommen sind. Es begann während des Erwachens mit einigen Bloggern, Ärzten, Studenten und engagierten Müttern – mit Menschen, die besonders viel bei der Zombieapokalypse verloren hatten. Seitdem wurde sie noch immer betrieben. Die Bloggergemeinde betrachtet die Mauer als Dienst an der Allgemeinheit und als lebensnotwendige Erinnerung daran, dass niemand sicher ist; dass es nicht wirklich vorbei ist. Vielleicht streifen die Infizierten nicht mehr wie früher auf den Straßen herum, aber es gibt sie nach wie vor. Sie werden niemals verschwinden. Und immer wieder erscheinen neue Namen an der Mauer.
Georges Name steht dort. Und Buffys und Daves, da er bei einem Ausbruch gestorben ist. Zum Teufel noch mal, selbst Tates Name stand an der Mauer. Er hat meine Schwester ermordet, aber die Mauer verurteilt niemanden. George hat sie einmal als ultimatives Monument für die Wahrheit bezeichnet, ein allgemein anerkanntes Abbild der Welt in ihrem derzeitigen, nicht gerade wünschenswerten Zustand. Wir konnten unmöglich so tun, als wäre der Grund für Kellys Tod irgendetwas anderes als Kellis-Amberlee gewesen … aber wegen ihres gottverdammten Klons würde ihr Name niemals an der Mauer erscheinen.
Ich schätze, es gibt auf dieser Welt nichts, was uns nicht auch belügen kann, sagte George mit einem Mal bedrückt. Ich glaube, ich bin froh, dass ich gestorben bin, bevor ich das herausfinden musste.
Darauf gab es für mich nichts zu erwidern. Mit einem Räuspern brach ich das Schweigen. »Wir sind auf dem Weg nach Hause. Ich kann dir nicht sagen, welche Route wir nehmen – das wäre nicht sicher, und ich weiß es auch nicht genau –, aber ich möchte, dass ihr im Haus bleibt, euch einschließt und auf gar keinen Fall rausgeht. Auf gar keinen Fall.«
»Die Hunde …«, setzte Maggie an.
»Dafür habt ihr die Wachleute! Hol sie aus dem Wald, und lass sie die kleinen Scheißerchen ausführen. Verdammt noch mal, Maggie, ich glaube, dir ist nicht klar, wie tief wir derzeit in der Kacke stecken. Alaric, fang an, wo es nur geht, Sicherheitskopien von unseren Daten anzulegen. Schick verschlüsselte Kopien an alle unsere Mitarbeiter, an alle, die jemals für uns gearbeitet haben, an deine Exfreundin, an den neuen Freund deiner Exfreundin, an alle.«
»An alle?«, wiederholte Alaric.
Ich zögerte.
Mach schon, sagte George.
»Ja – an alle«, antwortete ich. »Lass die Bombe hochgehen! Verschlüssele die Daten, um die Sache etwas zu verlangsamen, aber tu es. Wir kümmern uns später um die Folgen, vorausgesetzt, es gibt ein Später. Vergewissert euch beide, dass euer Testament auf dem neuesten Stand ist. Maggie, sag deinen Fiktiven, dass sie verdammt noch mal bis auf Weiteres zu Hause bleiben sollen. Niemand, der eine Wahl hat, soll sich in einem Umkreis von hundert Kilometern um Weed blicken lassen.«
»In Ordnung, Boss«, sagte Alaric leise.
»Bieg an der nächsten Kreuzung links ab«, sagte Mahir
»Alles klar.« Etwas langsamer fuhr ich um die Kurve. Es waren nach wie vor keine anderen Autos zu sehen. »Ich meine es todernst, Leute. Wir riegeln uns bis auf Weiteres ab. Behandelt jede Tür und jedes Fenster als verschlossene Luftschleuse und öffnet sie nur, wenn euer Leben davon abhängt. Wahrscheinlich hängt euer Leben nämlich davon ab, sie nicht zu öffnen, weil diese Arschlöcher klar unter Beweis gestellt haben, dass sie einen Skrupel nicht erkennen würden, wenn er sie in den Hintern beißt. Mahir, wie steht es um unsere Sicherheit im Netz?«
»Ich habe nicht die geringste Scheißahnung, Shaun. Wenn du eine Möglichkeit weißt, Buffy von den Toten zurückzuholen, kann sie es dir vielleicht sagen. Ich weiß nur, dass du in anderthalb Blocks nach rechts abbiegen musst.«
»Gut. Tja, die Toten sind unterwegs, Jungs und Mädchen, und sie sind nicht auf unserer Seite, also sind wir fürs Erste auf uns gestellt. Ich habe keine Möglichkeit, dir unsere Daten sicher zu übermitteln.«
Maggie meldete sich zu Wort. »Ich sage meinen Fiktiven, dass ich wieder mal ein Problem mit den Abflüssen habe, und beschränke Genaueres auf die sicheren Server. Kannst du überhaupt noch mal anrufen?«
»Vielleicht«, antwortete ich vorsichtig. »Ich will nichts versprechen, aber ich werde es versuchen. Fürs Erste solltet ihr davon ausgehen, dass ihr bis zu unserer Ankunft nichts mehr von mir hört und dass wir kurz danach alle aus dem Haus verschwinden müssen. Wenn es irgendeinen sichereren Ort gäbe, würden wir gar nicht erst wiederkommen.« Früher oder später würde der Seuchenschutz darauf kommen, dass wir bei Maggie waren. Ich betete einfach, dass sie genug Angst vor ihren Eltern hatte, um nichts Drastisches zu unternehmen, bevor wir Zeit hatten, unseren Kram zusammenzusuchen und uns davonzumachen. »Packt eure Taschen und haltet euch abreisebereit!«
»Schon dabei.«
»Gut. Die Fahrt dürfte nicht länger als drei Tage dauern, vorausgesetzt, wir halten überhaupt zum Schlafen. Wenn wir nicht innerhalb einer Woche da sind …«
»Wenn ihr nicht innerhalb einer Woche da seid, braucht ihr gar nicht mehr zu kommen«, antwortete sie. »Dann sind wir nämlich schon weg, wenn ihr hier eintrefft.«
»Genau die richtige Antwort.« Ich warf Mahir einen Blick zu. Seine Aufmerksamkeit war nach wie vor auf das Telefon in seiner Hand gerichtet. »Mahir? Möchtest du deiner Frau eine Nachricht zukommen lassen?«
»Nein.« Er blickte auf und warf mir ein angespanntes Lächeln zu. »Sie wusste, wo ich hinwollte. Sie wusste, dass ich vielleicht nicht zurückkehren würde. Es ist besser, wenn wir die Sache nicht noch weiter verkomplizieren, meinst du nicht auch?«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, also schüttelte ich bloß den Kopf und warf einen Blick in den Rückspiegel. Becks hielt nach wie vor mit grimmiger Miene Ausschau. »Becks? Hast du noch eine Nachricht an jemanden?«
»Scheiß drauf!« Mit zusammengekniffenen Augen begegnete sie meinem Blick durch den Rückspiegel, fast als wollte sie mich dazu herausfordern, ihr zu widersprechen. »Wir schaffen es nach Hause, und dann machen wir sie alle platt.«
»Klingt nach einem Plan. Alaric? Maggie? Ihr habt eure Befehle. Also los! Wenn möglich melden wir uns, und wenn nicht, stellt ein Licht für uns raus, bis unsere Zeit abgelaufen ist.«
»Es war schön, mit dir zusammenzuarbeiten, Boss«, sagte Alaric.
»Das Gleiche gilt für dich, Kumpel, aber noch ist es nicht vorbei.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte Maggie. »Passt auf euch auf, Leute, und zieht nicht irgendwelche dummen Heldentaten ab! Wenn ich mich auf die Bahamas absetze, möchte ich, dass mir nicht nur Alaric Gesellschaft leistet.«
»Das wäre wahrlich ein schlimmeres Schicksal als der Tod«, antwortete Mahir trocken.
»Wir tun unser Bestes«, sagte ich. »Passt auf euch auf!«
Damit gab es nichts mehr zu sagen, und wir hatten das Zeitlimit ohnehin fast erreicht. Ich unterbrach die Verbindung, zog mir den Kopfhörer vom Ohr und warf ihn in das Kleingeldfach neben dem Fahrersitz. »Sobald wie möglich halten wir an und verbrennen das Ding.«
»Lieber zu früh als zu spät«, sagte Becks.
»Schon dabei. Mahir?«
»Nach rechts.«
Ich bog rechts ab.
Unsere ursprüngliche Route hatte uns durch den amerikanischen Südwesten nach Tennessee geführt. Stunde für Stunde war die Wüste an unseren Fenstern vorbeigezogen. Mahirs neue Route verlief etwa über die gleichen Straßen, zumindest bis wir Little Rock erreichten. Dann wurde es komisch. Anstatt südwärts zu fahren, um die Berge und das als gefährlich ausgewiesene Ackerland zu meiden, wandten wir uns nach Norden, raus aus Arkansas und nach Missouri. In Fayetteville hielten wir zum Tanken.
Mahir blieb im Wagen sitzen, während ich auftankte und Becks in den obligatorischen kleinen Laden bei der Tankstelle ging. Während sie aufgepasst hatte, dass uns niemand verfolgte, hatte sie ihr Äußeres verändert, und das ziemlich drastisch. Ihr Haar lag jetzt flach an, und irgendwie war es ihr gelungen, Jacke und Hose gegen ein Trägertop und rosafarbene Shorts auszutauschen, die genauso gut aufgemalt hätten sein können und absolut nichts der Fantasie überließen.
Ich musste mir nicht ausmalen, wie sie ohne Kleider aussah, und es fiel mir noch immer schwer, ihr nicht auf den Hintern zu starren, während sie lässig in Richtung Geschäft schlenderte. Das Einzige an ihrer Kleidung, was gleich geblieben war, waren die Schuhe, die immer noch klobig und schwer waren und mehr an »Fight Club« als an eine Modenschau erinnerten, aber in dieser Aufmachung würde wohl kaum jemand auf ihre Füße schauen.
Manchmal bist du echt typisch Kerl, sagte George.
»Tja, ich bin derjenige von uns beiden, der noch nicht tot ist, schon vergessen?«
Ich habe mich auch nicht beschwert, sondern nur eine Feststellung getroffen.
Schnaubend drückte ich auf den Knopf zum Auftanken. Wenn der Seuchenschutz darüber Bescheid wusste, dass wir eine Karte der Garcia Pharmazeutika zum Bezahlen benutzten, waren wir am Arsch, aber unser Bargeld war schon in Little Rock alle gewesen, weshalb wir keine andere Wahl hatten. Die Wahrheit mag einen frei machen, aber einen vollen Tank kann man sich nicht von ihr kaufen.
Die von Mahir vorgeschlagene Route war gut. Sie verlief durch einen Zipfel von Missouri nach Kansas. Von dort würden wir durch Colorado, Wyoming und Utah fahren und schließlich den Endspurt durch Nevada antreten. Von den sechs Bundesstaaten, die wir durchqueren mussten, ehe wir Kalifornien erreichen würden, waren Selbstbedienungstankstellen nur in zweien verboten, und das waren die beiden, in denen wir insgesamt am wenigsten Zeit verbringen würden: Colorado und Utah. Wenn wir uns das Benzin richtig einteilten, mussten wir in diesen beiden Staaten mit Ausnahme von Pinkelpausen nicht mal haltmachen. Das war gut. Je mehr wir uns von anderen Menschen fernhielten, desto besser.
Während der Tank volllief, putzte ich die Windschutzscheibe, überprüfte den Reifendruck und gab mir alle Mühe, nicht darüber nachzudenken, dass wir vor einer Organisation auf der Flucht waren, die schon aufgrund eines Niesens den Ausnahmezustand verhängen konnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Seuchenschutz all das im Alleingang bewerkstelligte oder dass alle seine Mitarbeiter in die Sache verwickelt waren – Kelly war es eindeutig nicht gewesen, und ich nahm stark an, dass all die anderen Mitglieder ihres Teams, die ums Leben gekommen waren, ebenfalls von nichts gewusst hatten. Trotzdem, eine Verschwörung einiger strategisch positionierter Einzelpersonen, die zu allem bereit sind, um ihre Ziele zu erreichen, ist schon schlimm genug, insbesondere, wenn diesen Personen praktisch unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen. Gleichzeitig hatten diese Leute bislang offenbar versucht, zumindest halbwegs unauffällig zu agieren, sonst hätten sie sich nicht die Mühe gemacht, Ausbrüche herbeizuführen und bei ihren Morden natürliche Todesursachen vorzutäuschen. Diesen ganzen Agentenscheiß muss man nur veranstalten, wenn man seine Existenz verheimlichen will.
Becks kam aus dem Laden, mit Papiertüten in beiden Armen und dem selbstgefälligen Lächeln einer Katze, die einen Kanarienvogel gefressen hat, auf den Lippen. Das Lächeln verblasste, sobald sie weit genug entfernt war, damit der Kassierer sie nicht mehr sehen konnte. Sie öffnete die Hintertür des Transporters, ohne auch nur Hallo zu sagen, und kraxelte mit ihren Einkäufen ins Auto. Ich zog den Einfüllstutzen heraus, öffnete die Fahrertür und setzte mich ans Steuer.
»Gab’s Probleme?«, fragte ich und drehte mich zu Becks herum, die gerade Wasser- und Colaflaschen und Snacks auf dem Rücksitz ausbreitete. Wir hatten ihr gesagt, dass sie so viel kaufen sollte, wie es möglich war, ohne Verdacht zu erregen. Anscheinend bedeutete das für sie, jede Menge Zeug wie für eine Junggesellinnen-Party zu kaufen, einschließlich einer Flasche billigen Korns und siebzehn Packungen M&Ms.
»Nächstes Mal ziehst du dir das Schaut-mal-meine-Titten-Oberteil an, und ich tanke auf.« Sie warf mit einer Packung M&Ms nach meinem Kopf. Ich fing sie auf und reichte sie Mahir. »Nein, keine Probleme. Wenn man unsere Bilder in den Nachrichten gezeigt hat, dann wusste das Arschgesicht am Tresen zumindest nichts davon. In Memphis gab es einen kleineren Ausbruchsalarm, und das Gebiet um die Seuchenschutzbehörde herum ist abgesperrt, aber das hat nicht genügt, um Arschis Blick von meinem Hintern loszueisen.«
»Siehst du, ich würde mit dem Oberteil keine vergleichbaren Ergebnisse erzielen. Dafür habe ich einfach nicht die richtige Figur. Mahir wäre vielleicht ein bisschen besser geeignet. Beim nächsten Halt können wir es mit ihm probieren.« Ich streckte den Arm aus, um mir eine Flasche Cola vom Rücksitz zu nehmen, bevor sie mir die auch noch an den Kopf werfen konnte. »Dann können wir weiter?«
»Denke schon.« Becks zog ihre Jacke wieder an und öffnete anschließend eine Tüte M&Ms. »Mahir, denk dran, die Wettermeldungen für unsere Route einzuholen. Als ich rausgegangen bin, kam gerade eine Sturmwarnung.«
»Alles klar«, antwortete er und nahm sich etwas zu trinken, bevor er erneut begann, auf seinem Telefon herumzutippen.
Ich steckte meine Flasche in den Getränkehalter und ließ den Motor an. Wir waren lange genug an einem Fleck gewesen, und wir hatten noch einen verdammt weiten Weg vor uns, ehe wir auch nur ansatzweise in Sicherheit sein würden.
Eine Stunde später erreichten wir Kansas, wo ich es drauf ankommen ließ und bei einer der alten Raststätten haltmachte. Das Tor an der Auffahrt war nicht einmal zugekettet. Wenn wir dort reinwollten, um uns auffressen zu lassen, war das unser Problem und nicht das der örtlichen Behörden. »Wir sollten sie wegen Fahrlässigkeit anzeigen«, brummte Becks, während wir das Tor öffneten.
»Der ist gut«, sagte ich freundlich. »Und wie erklären wir, was wir hier draußen machen? Sind wir auf einem Ausflug, um uns die Geisteräcker Nordamerikas anzusehen oder was?«
Sie warf mir einen bösen Blick zu. Ich zuckte mit den Schultern und stieg wieder ein, um den Wagen hinter die efeuüberwucherten Bäume zu fahren, wo man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte. Früher war die Freifläche in der Mitte wohl mal ein netter kleiner Picknickplatz gewesen. Damals haben die Leute ihre Kinder und Hunde an solche Orte mitgenommen und sie frei im Gras herumtollen lassen, damit sie sich ein bisschen verausgaben konnten, bevor es weiterging, auf dem Weg zum amerikanischen Traum. Heutzutage würden sie einen für so was wegen Kindesmisshandlung einbuchten. So verrückt waren nicht mal die Masons, und die haben eine Menge gefährlichen Kram mit mir und George veranstaltet, als wir noch klein waren. In der Nähe eines ungesicherten Gebäudes zwischen Bäumen durchs Gras zu rennen ist eine gute Methode, sich selbst aus dem menschlichen Genpool zu entfernen.
Becks stand mit ihrem Gewehr Wache, während ich das Wegwerftelefon zu einer alten Grillmulde brachte. Mahir folgte mir und schaute kommentarlos zu, wie ich mit einem großen Stein auf das Telefon einschlug, es in die Mulde warf und in Brand setzte. Ein paar Spritzer Feuerzeugbenzin aus unserer Reiseausrüstung sorgten dafür, dass die Flammen nicht ausgingen, bevor die empfindlichen Schaltkreise und Speicherchips zu Schlacke zerfallen waren.
»He, schau dir das mal an, Mahir – die grünen Drähte brennen lila. Wie das wohl kommt?« Keine Antwort. Ich blickte auf. »Mahir?«
Er starrte wie gebannt zu dem flachen Ziegelsteinbau, in dem sich die Toiletten und Trinkhähne befanden. »Warum hat man das Ding nicht abgerissen?«, fragte er. »Das ist wie eine verdammte Gruft, mitten in einer Gegend, die eigentlich zivilisiert sein sollte.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht fehlt das Geld. Vielleicht ist man der Meinung, dass man den Infizierten am besten ein paar Verstecke lässt, damit man weiß, wo man nach ihnen suchen muss, wenn ein Ausbruch gemeldet wird.« Ich spritzte noch etwas Feuerzeugbenzin auf meinen improvisierten Scheiterhaufen. »Vielleicht hatten die Leute hier aus der Gegend das Gefühl, dass es sich zu sehr anfühlen würde, als ob sie aufgeben. Man lässt die Wände stehen, damit man nur ein neues Dach auf das Häuschen setzen muss, wenn die Krise vorbei ist. Wenn man etwas später wieder benutzen will, muss man es nicht abreißen.«
»Glaubst du wirklich, dass die Leute je wieder Orte wie diesen aufsuchen werden? Selbst wenn wir die ganzen verdammten Zombies umbringen, werden wir uns weiter erinnern, wo es gefährlich war.«
»Werden wir das?« Ich steckte das Feuerzeugbenzin wieder ein. Meine Hände waren mit alter Asche aus der Grillmulde verschmiert. Ich wischte sie mir hinten an der Jeans ab. »Wenn die Leute sich nicht erinnern wollen, haben sie ein ziemlich kurzes Gedächtnis. Es wird ein paar Generationen dauern, aber irgendwann wird man wieder voll auf so was abfahren. Wart’s ab!«
»Vorausgesetzt, dass wir es so lange machen.«
»Tja, stimmt. Wofür es nötig wäre, dass mal für ein Weilchen niemand versucht, uns umzubringen.« Die Flasche billigen Korns, die Becks bei der Tankstelle geholt hatte, erwies sich als hervorragender Brandbeschleuniger. Ich kippte sie übers Feuer. Die Flammen leckten hoch, verschlangen die neue Nahrung innerhalb von Sekunden und erstarben dann.
Mahir schnaubte. »Das wäre wirklich mal was Neues.«
»Nicht wahr?« Mit dem Fuß scharrte ich etwas Erde über die letzten Flämmchen. »Meinst du, wir kriegen Ärger wegen Brandstiftung, wenn wir das Ding niederbrennen?«
»Ich glaube, die verdammte Landschaftsplanungsbehörde wird uns einen Orden verleihen.«
»Cool.« Ich trat mehr Erde ins Feuer. Das würde genügen müssen. Wir hatten keine Zeit zu vertrödeln. »Komm! Verschwinden wir von hier, bevor Darwin uns den Arsch versohlt.«
Becks schaute zu uns herüber, als wir uns näherten, und deutete mit dem Kinn in Richtung der Rauchfahne, die aus der Grillmulde aufstieg. »Sind wir hier fertig?«, fragte sie.
»Wenn du dir nicht noch was grillen willst.«
Sie schnaubte. »Ich nehme an, dass wir Marshmallows am Stöckchen rösten und einander Gespenstergeschichten erzählen würden, sobald die Sonne untergegangen ist?«
»So in der Art.« Ich griff nach der Tür des Wagens und hielt dann mit einem Blick zu Mahir inne, der in den Himmel starrte. »Was ist jetzt?«
»Seht euch diese Wolken an!« Er klang ein wenig ehrfürchtig. Becks und ich wechselten einen Blick, legten die Köpfe in den Nacken und schauten nach oben.
Da George und ich in Kalifornien aufgewachsen waren, hatten wir niemals viel von dem mitbekommen, was andere Leute für gewöhnlich unter »Wetter« verstehen. Wir hatten eher ein »Klima«. Aber selbst in Kalifornien regnet es manchmal, und ich wusste, wie eine Wolke aussieht, wenn sie sich für ein ernsthaftes Gewitter bereit macht. Die Wolken, die sich über uns sammelten, waren die schwärzesten, die ich jemals gesehen hatte, und sie hingen tief und sichtlich schwer von Regen am Himmel. Und sie zogen sich beunruhigend schnell zusammen. Der Himmel war zwar nicht klar gewesen, als wir die Straße verlassen hatten, aber auch nicht ansatzweise so zugezogen wie jetzt.
Becks stieß einen leisen Pfiff aus. »Das wird ein ganz schönes Gewitter.«
»Ja, und wir müssen durchfahren.« Ich öffnete die Wagentür. »Solange wir nicht weggespült werden, könnte sich das sogar zu unseren Gunsten auswirken. Wenn dieses Ding so heftig ist, wie es aussieht, dann wird es tierisch schwer, uns zu verfolgen.«
»Von einem Gewitter gerettet«, sagte Mahir. »Es passieren eben wirklich die komischsten Sachen.«
Becks verdrehte die Augen. »Ich hasse es ja, euch beiden alles mieszumachen, aber wir sind in Kansas, und wir werden auch noch die nächsten zwei Stunden in Kansas sein. War es nicht hier, wo Dorothy von einem Wirbelsturm nach Oz geweht wurde? Weiß jemand von euch, woran man einen Tornado erkennt? Ich nämlich nicht. Es wäre vielleicht eine gute Idee, uns ein Motel zu suchen und zu warten, bis der Sturm sich gelegt hat.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das wäre vielleicht das Klügste, aber es geht leider nicht. Wenn die Seuchenschutzbehörde hinter uns her ist, werden sie damit rechnen, dass wir den Sturm aussitzen. Das ist vielleicht unsere beste Gelegenheit, sie abzuhängen.« Becks wirkte noch immer nicht überzeugt. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Ich selbst war auch nicht ganz überzeugt. »Passt auf, wir rufen über Mahirs Telefon die Wettermeldungen ab. So wird uns niemand zurückverfolgen können. Und wenn plötzlich die Warnlichter angehen und es heißt: ›Runter von der Straße, ihr Vollidioten!‹, dann machen wir halt, bis der Sturm vorbei ist. In Ordnung?«
»In Ordnung«, sagte sie langsam. »Aber wenn es uns nach Oz weht, dann schmeiß ich dir ein Haus auf den Dickschädel.«
»Siehst du, mit solchen Kompromissen kann ich leben.« Ich stieg ein, gefolgt von Becks und Mahir.
Bist du dir wirklich sicher, dass das der richtige Plan ist?, fragte George.
»Absolut nicht«, brummte ich und ließ den Motor an.
Rückwärts fuhren wir von der Raststätte. Sobald wir wieder auf der Straße waren, stieg Mahir aus, um das Tor zu schließen, wobei Becks ihm die ganze Zeit mit dem Gewehr Deckung gab. Der Highway war in beiden Richtungen leer. Mögliche Reisende waren offensichtlich klüger als wir und hatten beschlossen, den aufziehenden Sturm zu meiden. Der Wagen ruckelte, als die Räder vom rissigen Pflaster der Raststättenauffahrt auf den glatten Asphalt der Interstate 400 nach Westen, Richtung Kalifornien, fuhren.
Langsam wurde es dunkler, bis wir mitten am Tag mit Scheinwerfern fuhren. Während das Licht verblasste, nahm der Wind zu, und die weiten, flachen Ebenen von Kansas boten keinerlei Schutz. Der Wagen ruckelte und bockte, bis ich schließlich gezwungen war, auf sechzig Stundenkilometer zu verlangsamen. Mahir, der auf dem Beifahrersitz saß, tippte noch immer auf seinem Telefon herum. Becks kauerte auf der Rückbank, in einer Hand ihr Gewehr und in der anderen einen Schokoriegel, und schaute mampfend aus dem Fenster. Solange sie wach blieb, war es mir ziemlich egal, was sie da hinten trieb. Ziemlich bald würde sie mich beim Fahren ablösen müssen, zumindest wenn wir aus diesem Sturm rauskommen wollten, ohne dass der Wagen am Straßenrand zerschellte.
Kansas erstreckte sich wie die Ödnis eines fremden Planeten um uns. Die Schatten der Wolken verliehen allem etwas Fremdartiges. Nur um die Stille zu vertreiben, schaltete ich das Radio ein, trat etwas stärker aufs Gas und fuhr weiter, in die Finsternis.
Wir wussten es nicht. Es gab nichts, was wir hätten tun können, und wir hatten keine Ahnung. Man kann den Wind nicht erschießen. Man kann nicht mit den Wolken diskutieren. Es gab nichts, nichts, was wir hätten tun können, um den Sturm aufzuhalten, und selbst wenn es etwas gegeben hätte, hätten wir nicht gewusst, was. Woher hätten wir es auch wissen können? Uns war noch nie zuvor etwas Derartiges widerfahren, und wir wussten es einfach nicht besser.
Es war nicht unsere Schuld. Und wenn ich das oft genug sage, glaube ich es vielleicht auch irgendwann. Ach Scheiße!
Es war nicht unsere Schuld. Wir wussten es nicht.
Himmel, wir wussten es nicht!
Aus Anpassen oder Sterben, dem Blog von Shaun Mason, 24. Juni 2041, unveröffentlicht.