11

Becks war direkt hinter mir, als ich am Ende des Gangs mit den Kraken stehen blieb. Mir bot sich ein seltsames Bild. Kelly saß auf einem Klappstuhl und hatte die Hände auf ihren Knien so fest ineinander verschränkt, dass die Knöchel weiß hervortraten. Alaric saß ihr gegenüber und schaute sie an, als erwartete er, sich einen Reim auf sie machen zu können, wenn er nur lange genug wartete. Maggie und Dr. Abbey lehnten am Sicherheitsglasfenster und beobachteten das kleine Stillleben. Nur Joe wirkte kein bisschen verstört von der derzeitigen Stimmung im Raum. Er lag lang hingestreckt zu Dr. Abbeys Füßen und kaute auf einem dicken, langen Tierknochen herum.

Dr. Abbey bedachte mich mit einem Nicken. »Willkommen zurück! Geht es dir besser?«

»Nein. Aber ich werd’s wohl überleben. Das können nicht alle von sich behaupten.« Kelly warf mir einen Blick zu. Ich beachtete sie nicht. »Dr. Abbey, wie sicher sind die Verbindungen hier? Wenn wir jemanden anrufen, könnte man den Anruf zurückverfolgen?«

»Einen Anruf beim Seuchenschutz, zum Beispiel?« Sie straffte sich. »Ich habe ein paar Wegwerftelefone für genau solche Gelegenheiten aufgehoben. Wartet hier!« Dr. Abbey machte eine komplizierte Geste in Joes Richtung, der sich gerade erhob, wahrscheinlich, weil er ihr folgen wollte. Gehorsam ließ sich der Hund wieder nieder, während sie sich umdrehte und das Zimmer verließ.

Kelly schaute mich mit unverhohlener Bestürzung an. »Shaun? Was hast du vor?«

»Dir den verdammten Kiefer brechen, wenn du nicht auf der Stelle die Klappe hältst«, sagte ich durchaus freundlich. »Ich bin noch nicht so weit, dass du wieder mit mir reden darfst.«

»Das bedeutet, dass du jetzt lieber still sein solltest«, erklärte Maggie.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte ich ihr gesagt, dass sie den Doc nicht ärgern sollte. Doch diese Zeit war vorbei. »Becks, sorg doch bitte dafür, dass der Doc still ist, während ich mich um alles kümmere! Ich will nicht, dass sie auf die lustige Idee kommt, Hallo zu sagen.«

»Mit Vergnügen.« Becks zog ihre Pistole und stellte sich hinter Kelly, wobei sie eine lockere, bequeme Haltung einnahm. Wenn es sein musste, konnte sie den ganzen Tag lang so dastehen. Ich hatte es in Feldaufzeichnungen gesehen.

Kelly starrte stur und ohne mit der Wimper zu zucken, geradeaus. Wenn ich nicht so wütend auf sie gewesen wäre, hätte mich das vielleicht beeindruckt. So, wie die Dinge lagen, konnte ich sie eigentlich nicht mal anschauen, ohne ihr einen Schlag ins Gesicht verpassen zu wollen.

Dr. Abbey kam zügig über den Flur zu mir zurück und drückte mir ein Telefon in die Hand. »Das hier ist stimmaktiviert und lässt sich etwa fünf Minuten lang nicht orten. Gib einfach die gewünschte Nummer ein, und vielleicht schaltest du auch auf Lautsprecher ich wüsste nämlich gerne, wofür meine Ressourcen eingesetzt werden.«

»Liebend gern«, antwortete ich, zog mein normales Telefon aus der Tasche und suchte Dr. Wynnes Nummer heraus. Langsam und deutlich betont las ich sie vor und sagte dann: »Wählen und auf Lautsprecher schalten!«

Das Telefon tutete. Nach drei Malen nahm ein Rezeptionist der Seuchenschutzbehörde ab, der munter wie immer sagte: »Büro von Dr. Joseph Wynne, mit wem darf ich Sie verbinden?«

»Hier spricht Shaun Mason. Bitte verbinden sie mich mit Dr. Wynne!«

»Darf ich nach dem Grund für Ihren Anruf fragen?«

»Nein, das dürfen Sie nicht. Und jetzt verbinden Sie mich mit Dr. Wynne!«

»Sir, ich fürchte, ich «

»Sofort!«

Etwas an meinem Tonfall musste ihm klargemacht haben, dass mit mir nicht zu spaßen war. Der Rezeptionist stammelte eine Entschuldigung, und dann klickte es in der Leitung und die sorgfältig kultivierte Ausdruckslosigkeit seiner Stimme wurde von dumpfer Warteschleifenmusik ersetzt. Nach ein paar Sekunden klickte es erneut, und Dr. Wynne sagte: »Shaun, Gott sei Dank! Also, was zum Teufel ist los? Wegen Ihnen hat der arme Kevin fast einen Herzanfall gekriegt.«

»Ich werde dran denken, ihm eine nette Karte und ein paar Blumen zu schicken.« Mein ätzender Tonfall überraschte mich selbst. Ich hatte immer gedacht, ich hätte bessere Manieren. »Bei dem Ausbruch in Oakland habe ich mehrere Leute zurückgelassen, deshalb werden Sie mir meine Umgangsformen vielleicht nachsehen.«

Einen Moment lang herrschte Stille, als Dr. Wynne die Bedeutung meiner Worte verarbeitete: Dass Dave nicht unser einziger Verlust in Oakland gewesen war. Natürlich handelte es sich um eine Lüge, aber eine, an der zu zweifeln er keinen Grund hatte. »Oh«, sagte er schließlich mit leiser Stimme. »Ich verstehe. Es tut mir so leid, das zu hören.«

»Es ist, wie es ist. Also, ich habe ein paar Nachforschungen angestellt, Dr. Wynne, und ich wollte mir meine Ergebnisse noch mal bestätigen lassen. Haben Sie einen Moment Zeit, um mir ein paar Fragen zu beantworten?«

»Ich beantworte jederzeit gerne Ihre Fragen.«

»Diesmal vielleicht nicht.« Ich warf Kelly einen finsteren Blick zu. Erste Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie mit ansonsten ausdrucksloser Miene an die Wand starrte. Es war mir egal. Das Miststück verdiente es zu heulen. »Dr. Wynne, sind Reservoirkrankheiten eine Reaktion des Immunsystems?«

Er zögerte. Als er wieder zu sprechen anfing, war sein Tonfall bedächtiger, zurückhaltender, und sein Akzent trat deutlicher hervor. »Tja, ich schätze, das hängt davon ab, wen man fragt. Manche Leute sind der Meinung, dass dem so ist.«

»Was denken Sie?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob meine Meinung hier von Bedeutung ist.«

»Meiner Ansicht nach schon. Also, was denken Sie? Sind Reservoirkrankheiten eine Reaktion des Immunsystems oder nicht?«

»Shaun « Er seufzte schwer. »Ja. Ich glaube, das sind sie.«

»Wenn es Dave also gelungen wäre, ein paar E-Mails und Unterlagen zu kopieren, bevor Oakland in die Luft geflogen ist, und wenn die Leute, zu denen ich damit gegangen wäre, mir erzählen würden, dass George wieder gesund geworden wäre, wenn ich sie nicht einfach erschossen hätte, wäre das Blödsinn? Oder hat man diese kleine frohe Botschaft vielleicht bei meiner Einweisung unterschlagen?«

Er schwieg.

»Na schön! Von mir aus.« Ich hatte Mühe, locker zu klingen, schaffte es aber irgendwie. »Dann werde ich das ganze Zeug wohl einfach veröffentlichen, damit Leute mit besseren wissenschaftlichen Vorkenntnissen als ich die Sache aufklären können. O. K.?«

»Shaun « Er seufzte erneut. »Ja. Ja, sie wäre vielleicht wieder gesund geworden. Vielleicht. Die Blutproben, die wir von ihr genommen haben, haben kein klares Bild ergeben.«

Ich sah Rot. Die Seuchenschutzbehörde hatte Georges Blut noch Wochen nach ihrem Tod aufbewahrt. Ich war logischerweise davon ausgegangen, dass sie in dieser Zeit Tests durchführen und es dekontaminieren würden, aber ich hatte mir nie gestattet, ernsthaft darüber nachzudenken. Die Vorstellung, dass sie Gott weiß was mit ihr anstellten, hatte mir noch nie gefallen, und je mehr ich erfuhr, desto weniger gefiel sie mir. »Sie sind ein Arschloch«, sagte ich im Plauderton. »Wir haben Ihnen vertraut.«

»Shaun «

»Sie können mich.« Ich legte auf und warf Dr. Abbey das Telefon zu. »Danke!«

»Nichts zu danken.« Sie verstaute das Telefon in einer Tasche ihres Laborkittels. »Jetzt zufrieden?«

»Nein. Aber es ist ein Anfang.« Ich drehte mich zu Kelly um. »Jetzt bist du mit Reden dran, Doc. Gib dein Bestes!«

»Ich «

Ich starrte sie finster an. »Rede!«

Sie redete.

Dabei schaute sie die ganze Zeit auf den Boden, und ihre Stimme klang gepresst und fast schon monoton. Es war, als versuchte sie sich einzureden, dass sie einen Vortrag hielte und nicht mit vorgehaltener Waffe verhört wurde. Die paar Male, die sie aufblickte, war ihr Blick voller Reue und zuckte so schnell zwischen uns hin und her, dass man kaum folgen konnte. Dann schaute sie wieder zu Boden, ohne dabei ihren monotonen Monolog ein einziges Mal zu unterbrechen. Der Ausdruck auf Dr. Abbeys Gesicht sie hatte etwas von einem Raubtier kurz vor dem Sprung machte es wahrscheinlich auch nicht gerade besser. Und dann kam noch hinzu, dass Becks dem Doc eine Waffe an den Kopf hielt.

»Die ersten Reservoirkrankheiten wurden 2018 beschrieben. Für menschliche Verhältnisse sind vier Jahre keine lange Zeit, aber für die Generationenfolge eines Virus sind es Jahrhunderte. Das Kellis-Amberlee-Virus hat sich die ganze Zeit vermehrt. Sich ausgebreitet. Sich verändert. Die ersten Infizierten haben sich beispielsweise nicht zusammengerottet, das fing erst in den frühen Zwanzigern an. Das war keine Anpassungsleistung der Infizierten. Es war eine Anpassungsleistung der viralen Nebenlinien, von denen sie angetrieben wurden. Sechs der fünfzehn Stämme, die wir zu diesem Zeitpunkt identifiziert hatten, verursachten Rudelverhalten. Neun nicht. Zehn Jahre später fanden wir nur noch zwei Stämme, die nicht jenen besonderen Instinkt verursachten die Opfer zu infizieren, bevor man sie frisst. Natürlich abgesehen von denen, die wir in unseren Tiefkühltruhen aufbewahrten.« Sie zögerte und spannte einen Moment lang die Schultern an. Dann, als hätte sie soeben eine unglaublich schwere Entscheidung getroffen, fuhr sie fort: »Wir haben es mit Kreuzinfektionen versucht. Tja. Wenn ich sage ›wir‹, meine ich damit Wissenschaftler, die für den Seuchenschutz oder das USAMRIID gearbeitet haben. Ich habe daran nicht ich war nicht Teil dieses Projekts.« Kelly hob erneut den Kopf, verzweifelt auf der Suche nach einer mitfühlenden Miene. »Ich hatte nichts damit zu tun.«

»Das war die Zeit, als Dr. Shoji abgehauen ist«, sagte Dr. Abbey in einem beiläufigen, nüchternen Tonfall. »Er hat so lange durchgehalten wie möglich, aber diese Kreuzinfektionsexperimente waren der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Möchtest du von den Kreuzinfektionstests erzählen? Worin genau sie bestanden? Ich bin mir sicher, dass diese netten Leute hier sich liebend gerne die blutigen Einzelheiten anhören.«

Kelly holte tief Luft und blickte wieder zu Boden. »Sie haben Freiwillige «

»Häftlinge«, sagte Dr. Abbey.

»Sie haben sich freiwillig gemeldet«, erwiderte Kelly mit einem sturen Unterton. »Ja, es waren Häftlinge. Sie hatten keine Aussicht auf Bewährung, keine Chance, jemals wieder in die Gesellschaft entlassen zu werden, und der Gebrauch von menschlichen Testpersonen hat eine eine lange und ehrwürdige Tradition in den medizinischen Wissenschaften. Manchmal ist es die einzige Möglichkeit. Auf diese Art hat man herausgefunden, dass Gelbfieber von Moskitos verbreitet wird, wisst ihr. Man hat man hat die Wirksamkeit der Pockenimpfung bewiesen. Zahlreiche Leben wurden durch Menschenversuche gerettet. Wenn es keine andere Wahl gab. Wenn es keinen anderen Weg gab.«

»Wie viele Leben habt ihr mit den Kreuzinfektionen gerettet?«, fragte Dr. Abbey.

»Was habt ihr gemacht?«, fragte Alaric.

Kelly entschied sich dafür, die letztere Frage zu beantworten. Sie warf Alaric einen kurzen Blick zu und sagte: »Man machte bestimmten Insassen, deren Virenprofil zu den Kriterien passte, ein Angebot. Wir würden ihnen einen potenziellen Impfstoff verabreichen, und im Falle ihrer Genesung würden wir für ihre Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm sorgen. Mit ganz neuen Identitäten. Einem neuen Leben. Sodass sie noch einmal ganz von vorne anfangen könnten.«

»Falls sie überlebten«, sagte Alaric leise.

Kelly wand sich.

»Komm schon, Prinzessin«, sagte Becks. »Die Märchenstunde ist noch nicht vorbei. Ich will wissen, wie es weitergeht.«

»Man hat den Freiwilligen ein Serum injiziert, das inaktive Virenpartikel aus einem entgegengesetzten Stamm enthielt. Der Theorie nach hätte der eine Stamm den anderen vernichten sollen. Im besten Falle hätten sie sich gegenseitig ausgelöscht, und wir hätten endlich eine Behandlung gehabt. Im schlimmsten Fall « Sie verstummte.

Dr. Abbey nahm den Faden auf, als klar wurde, dass Kelly nicht weitererzählen würde. »Der schlimmste Fall war das, was eingetreten ist. Nicht nur kam es bei jedem einzelnen ›Freiwilligen‹ zu einer spontanen Virenvermehrung, als die beiden Stämme aufeinandertrafen, sie haben auch einen neuen Stamm ausgebrütet einen, der das Rudelverhalten bei den Infizierten noch verstärkt hat. Sie haben gewaltigen Mist gebaut. Und dann haben sie alles unter den Teppich gekehrt, zusammen mit ihren anderen Fehlschlägen.«

»Was hätten wir deiner Meinung nach machen sollen?« Kellys Kopf ruckte hoch, und sie starrte Dr. Abbey aus zusammengekniffenen Augen an. »Hätten wir uns einfach zurücklehnen sollen und zuschauen, wie das Virus sein Ding dreht, ohne auch nur einen Versuch, die Lösung zu finden? Ja, es sind Menschen gestorben. Ja, es wurden Fehler gemacht, und es werden auch weiterhin Fehler gemacht werden, und vielleicht haben wir eines Tages aufgrund dieser Fehler ein Heilmittel. Wärst du dann nicht auch froh drum? Ein Heilmittel? Das Ende der Angst? Ich halte das nämlich für eine wirklich gute Idee, und wenn ich mit dem Seuchenschutz zusammenarbeiten muss, um das zu erreichen, dann soll es eben so sein.«

»Eine wunderschöne Vorstellung, wenn es nur mehr wäre als Träumerei.« Wir drehten uns alle zu Maggie um. Sie hatte sich neben Joe auf den Boden gesetzt und dem Hund lässig einen Arm über den Rücken gelegt. Sie wirkte ganz und gar ruhig, obwohl sie sich soeben an ein Tier lehne, dass ihr mit einem einzigen Bissen dass Gesicht hätte abreißen können. »Die Leute lachen mich aus, weil ich viele Horrorfilme sehe, aber man kann etwas aus Horrorfilmen lernen, wenn man weiß, worauf man achten muss. Sie verraten einem etwas über gesellschaftliche Entwicklungen darüber, wovor die Menschen sich fürchten. In denen aus der alten Zeit hatten die Leute tatsächlich Angst vor Etwas. In den neuen haben sie nur noch Angst davor, keine Angst mehr zu haben.«

Kelly schnaubte. »Es werden überhaupt keine Horrorfilme mehr gemacht.«

»Doch, werden sie«, erwiderte Maggie. »Heutzutage ist jeder Film ein Horrorfilm.«

»Um auf den Punkt zurückzukommen, an dem wir waren, bevor wir uns auf diesen faszinierenden und informativen Exkurs begeben haben: Du meintest, das Virus passt sich an«, sagte Alaric. Er beugte sich vor, den Blick auf Kelly fixiert. Der Newsie in ihm hatte Blut geleckt. Ich sah es an seinem Gesicht. »Erst kein Mob-Verhalten, dann Mob-Verhalten. Was soll es denn jetzt bitte mit den Reservoirkrankheiten auf sich haben?«

»Eigentlich weiß das niemand.« Kelly warf einen verstohlenen Blick in meine Richtung, um zu sehen, wie ich reagierte, ehe sie sich wieder Alaric zuwandte. Sie klang nun weniger dozierend und mehr, als versuchte sie, sich wirklich verständlich zu machen, als ob es ihr mit einem mal wichtig wäre, dass wir begriffen. »Wir glauben, dass sie davon herrühren, dass man zwar dem aktiven Virus ausgesetzt war, das aber aus irgendeinem Grund keine Vermehrung im ganzen Körper ausgelöst hat. Sie treten vor allem bei Personen auf, die sich einem Infektionsrisiko ausgesetzt haben, solange ihr Gewicht noch unterhalb der Gefahrengrenze lag, obwohl es auch Ausnahmen gibt. Wir versuchen immer noch, herauszufinden, wie es zu diesen Ausnahmen kommt. Warum sie bei manchen Erwachsenen auftreten und bei anderen nicht. Eigentlich wissen wir es noch nicht, und es lässt sich auch nicht gerade leicht überprüfen.«

»Moment mal«, sagte Becks, »soll das heißen, dass Leute, die als kleine Kinder dem Virus ausgesetzt waren, anstelle des kompletten Zombie-Gesamtpakets nur Reservoirkrankheiten kriegen?«

Kelly nickte. »Genau.«

Meine Augen waren normal, bis ich beinahe das Schwellengewicht für eine Virenvermehrung erreicht hatte, sagte George nachdenklich. Erst dann hat sich die Retina verändert.

»Ich weiß«, murmelte ich, wobei ich die Stimme gesenkt hielt, um mein Team möglichst nicht daran zu erinnern, dass ich verrückt war. Lauter fragte ich: »Was genau soll das heißen?«

»Es soll heißen, dass ihre Körper dem aktiven Kellis-Amberlee-Virus ausgesetzt waren, als sie noch gar nicht seine vollen Auswirkungen erleiden konnten«, sagte Dr. Abbey. Es lag eine absurde Ausgelassenheit in ihrer Stimme, als wäre es ein wunderbares, prachtvolles Geschenk, diese Botschaft verkünden zu dürfen. »Habt ihr schon mal von Windpocken gehört?«

»Ja, schon«, sagte Becks. »Eine der Standardimpfungen im Feld.«

»Lange Zeit gab es keine Impfung gegen Windpocken es war eine Kinderkrankheit, die praktisch jeder gekriegt hat. Nur war das damals etwas Gutes, weil die meisten Kinder die Windpocken recht gut überstehen. Eine Woche lang juckt ihnen alles, und dann geht es ihnen wieder gut. Es hat sogar positive Folgen. Wenn man das Virus einmal gehabt habt, kann man es sich nie wieder einfangen, und für Erwachsene sind Windpocken kein Spaß. Sie können permanente Nervenschäden, schlimme Narben und allerlei hässliche Nebeneffekte verursachen.« Dr. Abbey schaute Kelly seelenruhig an. »Die Leute haben Partys veranstaltet, bei denen sie ihre kleinen Kinder absichtlich mit jemandem zusammenbrachten, der die Windpocken hatte.«

»Ist ja abscheulich«, sagte Becks.

»Jetzt, wo wir einen Impfstoff haben, ist es das natürlich. Damals war es eine Möglichkeit, seine Kinder vor weit größerem Leid zu bewahren. Es war keine sichere Methode es gab Kinder, die an Windpocken starben –, aber es war verdammt viel besser als die Alternative.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte ich.

Ich schon, sagte George sehr leise.

»Ich schon«, sagte auch Alaric. Ich drehte mich zu ihm um, und er fuhr fort: »Wenn Kleinkinder dem aktiven Kellis-Amberlee-Virus ausgesetzt sind, kommt es zu keiner explosiven Virenvermehrung. Sie werden schon krank, nur werden sie dann wieder gesund, oder? Sie können tatsächlich mit dem Virus klarkommen.«

»Bingo«, sagte Dr. Abbey und fasste sich mit dem linken Zeigefinger an die Nase, während sie mit dem rechten auf Alaric zeigte. »Meine bezaubernde Dame vom Seuchenschutz, sagen Sie dem freundlichen Herrn, dass er recht hat!«

Kelly schwieg.

Ich schluckte das trockene Gefühl in meiner Kehle hinunter und sagte leise: »Bitte!«

Meine Stimme klang in dem geschlossenen Laborraum sehr laut. Kelly wandte sich mir zu und sagte: »Ja, manchmal kann ein frühzeitiger Kontakt mit dem Virus dazu führen, dass eine Infektion mit aktivem Kellis-Amberlee abgewehrt wird. Es ist unmöglich, einen Standardbluttest bei einem Kleinkind durchzuführen, weil es bei Kleinkindern zu keiner Virenvermehrung kommt und wir deshalb auch nicht die dafür typischen Marker aufspüren können. Aber sie werden krank. Das wurde bereits beobachtet. Und dann, nach einer Weile, sind sie nicht mehr krank.« Kelly hielt inne, um ihre nächsten Worte sorgsam zu wählen. »Die meisten Personen, die als Kleinkinder eine potenziell infektiöse Episode erleben, entwickeln später eine Reservoirkrankheit, weil ihr Immunsystem trainiert worden ist.«

»Ihre Körper erinnern sich daran, dass das Virus etwas Schlechtes ist, und sie richten ihre eigenen kleinen Gehege ein, voll mit ihren eigenen kleinen Rudeln domestizierter Viren«, erklärte Dr. Abbey und beugte sich vor, um Joe in die Seite zu knuffen. Mit hängender Zunge blickte er liebevoll zu ihr auf. »Das machen wir Menschen, wenn wir es mit Wölfen zu tun bekommen. Wir nehmen sie auf, zähmen sie und bringen ihnen bei, uns zu beschützen.«

»Ja«, stimmte Kelly zu. »Die Reservoirkrankheiten zeigen, dass das Immunsystem gelernt hat, sich zu wehren, wenn Kellis-Amberlee anfängt, die Kontrolle zu übernehmen.«

»Deshalb meintest du, dass sie wieder gesund geworden wäre, nicht wahr?« Kelly antwortete nicht. Ich knallte meine Faust so fest gegen das Sicherheitsglasfenster, dass alle zusammenzuckten alle bis auf Dr. Abbey, die wirkte, als hätte sie ein inneres Reservoir der Gleichmut angezapft. »Beantworte die verdammte Frage, Doc!«

»Ja.« Kelly blickte mit gequälter Miene zu mir auf. »Dr. Wynne und ich haben ihre Testergebnisse überprüft. Ihr Immunsystem hatte bereits begonnen, auf die erneute Infektion zu reagieren, als der Test gemacht wurde. Sie hätte sehr gute Chancen gehabt, die Infektion zurückzuschlagen. Sie lagen bei über achtzig Prozent.«

»Spontane Remission«, sagte Alaric ehrfürchtig.

Ich wandte den Blick nicht von Kelly ab, als ich sagte: »Erklär mir das!«

»Angeblich handelt es sich um einen modernen Mythos. Es soll Leute geben, die sich infiziert haben das volle Programm, sodass sie kurz davorstanden, ihre Nachbarn aufzufressen , sich aber auf wundersame Weise erholt haben, ehe man ihnen den Rest geben konnte. Aber irgendwie kennt nie jemand persönlich einen solchen Menschen. Immer geht es um Bekannte von Bekannten von Bekannten. Solche Geschichten tauchen immer wieder auf, aber man tut sie ab, sobald der Seuchenschutz die Leute daran erinnert, dass es kein Heilmittel gibt.«

»Dann ist es wohl doch gar nicht so ein Mythos, was, Doc?« Ich warf Dr. Abbey einen Blick zu. »Ist es das, wovon wir hier reden? Dieses Remissionsding?«

»In einer Hinsicht sagt der Seuchenschutz die Wahrheit: Es gibt kein Heilmittel gegen Kellis-Amberlee, und wenn man mir eines anböte, würde ich es aus vielerlei Gründen nicht annehmen. Aber andererseits lügt der Seuchenschutz, denn wenn man von Geburt an mit dem Virus leben kann, warum zum Teufel sollte es dann aufwachen, aber nicht wieder einschlafen können?« Dr. Abbey lächelte aufmunternd. »Ist das nicht eine lustige Märchenstunde?«

»Mindestens so lustig wie ein Herzanfall«, antwortete ich.

»Zwei von zehntausend«, sagte Kelly mit schneidender Stimme.

»Wie bitte?«, fragte ich.

»Zwei von zehntausend.« Sie stand auf, ohne darauf zu achten, dass Becks immer noch die Pistole auf sie gerichtet hielt. »Das ist die Anzahl der Menschen mit bestehenden Reservoirkrankheiten, die mit einiger Wahrscheinlichkeit von einer Infektion mit dem aktiven Virus genesen. Zwei von zehntausend. Niemand, der keine Reservoirkrankheit hat, hat sich jemals wieder erholt. Die Genesungsrate scheint mit der Dichte der Virenpartikel in den einzelnen Reservoirs zu tun zu haben, aber dafür haben wir keine stichhaltigen Beweise. Wir hatten ja auch nicht besonders viel Gelegenheit zur Forschung, da man für so etwas nicht gerade Freiwillige findet.«

»Nicht mal in unseren Gefängnissen«, warf Maggie trocken ein.

Kelly zuckte erneut zusammen. Mir war das scheißegal. Wenn sie sich schuldig fühlen wollte, hatte sie sich das verdammt noch mal verdient. »Du verstehst das falsch«, sagte sie.

»Schwachsinn«, erwiderte Dr. Abbey. »Es gibt einen Haufen Möglichkeiten, so etwas zu testen. Nimm zum Beispiel Joe. Ich habe ihn als Welpen dem Virus ausgesetzt. Als er schwer genug für eine Vermehrung war, habe ich das wiederholt. Er ist krank geworden, dann hat er sich erholt und seine zweite Reservoirkrankheit entwickelt. Inzwischen könnte ich ihn in eine Badewanne voller Viren schmeißen, und sie würden sich in seinem Körper nicht vermehren können. Vielleicht würde er ein wenig austrocknen und Schmerzen in der Brust erleiden, aber das würde sich schnell legen. Prüfung bestanden.«

»Mit wie vielen Welpen hast du angefangen?«, erwiderte Kelly.

Zum ersten Mal konnte man Dr. Abbey ein gewisses Unbehagen anmerken. »Es stimmt, dass Joe nicht das erste Testobjekt war. Aber er war das erfolgreichste.«

»Moment mal«, sagte Becks. »Heißt das etwa das, was ich denke?«

»Das hängt davon ab. Rebecca, verstehst du es auch so, dass jemand mit einer hinreichend ausgeprägten Reservoirkrankheit vom Zombiedasein zurückkehren kann, und dass wir bei Kindern mit Absicht Reservoirkrankheiten auslösen könnten, indem wir sie dem Virus aussetzen, bevor sie groß genug sind, um Zombies zu werden? Das sagen sie nämlich meiner Meinung nach. Aber ich bin der große, dumme Irwin, nicht wahr?« Ich schlug erneut gegen das Fenster. »George war die Schlaue. Zu dumm, dass ausgerechnet sie gestorben ist.«

»Zwei von zehntausend«, wiederholte Kelly, als handelte es sich um eine Art Zauberformel. »Hättest du abdrücken können, wenn du diese Zahlen gekannt hättest? Hättest du ihr die Waffe an den Kopf halten und George gehen lassen können, damit nicht noch mehr Leute zu Schaden kommen, wenn du gewusst hättest, dass eine Chance bestand und sei es nur eine winzig kleine –, dass sie wieder gesund werden würde?«

Nein, sagte George.

»Ja«, sagte ich, aber meine Stimme klang kraftlos. Sicherlich wussten alle, dass ich log. Ich finde nicht, dass man mir daraus einen Vorwurf hätte machen können.

Kelly schüttelte den Kopf. »Die Gesellschaft würde zusammenbrechen. Jeder würde anfangen, sich selbst für etwas Besonderes zu halten, und sich einbilden, dass ausgerechnet seine Mutter oder Vater oder Kinder wieder gesund werden würden. Alle würden anfangen zu zögern, bevor sie schießen.«

»Erst schießen, dann fragen«, sagte Becks sehr leise. »Ich sage es nur ungern, Shaun, aber sie hat recht. Wenn die Leute aufhören, zuerst zu schießen, gibt es ein Blutbad. Niemand würde jemanden töten wollen, der wieder gesund werden könnte.«

»Und solange sie krank sind, sind sie wirklich krank. Das Virus springt kein bisschen freundlicher mit ihnen um als mit jedem anderen auch«, erklärte Kelly. »Sie können andere Menschen verletzen und sie infizieren, bevor ihr Fieber abklingt. Kannst du dir das vorstellen? Gebissen zu werden und dann wieder zur Besinnung zu kommen und zu erfahren, dass du deine ganze Familie getötet und aufgefressen hast? Und was passiert, wenn der Rest deiner Familie nicht tot ist, sondern krank? Sobald man nicht mehr Teil des Rudels ist, wird man in Stücke gerissen. Wir haben während des Erwachens gewonnen, weil wir gelernt haben, dass man schießt, sobald jemand gebissen worden ist. Wenn sich das ändert, sterben wir alle.«

»Nette Ansprache, aber du hast etwas vergessen, Doc«, sagte ich mühsam beherrscht.

»Und das wäre?«

»Sie« – ich zeigte mit dem Daumen auf Dr. Abbey – »hat es geschafft, Reservoirkrankheiten bei einem Hund auszulösen. Wieso zum Teufel arbeiten wir also nicht daran, dasselbe bei Menschen hinzukriegen? Warum legen wir einfach die Beine hoch, anstatt anstatt den Versuch zu unternehmen, etwas zu verändern?«

»Fragt sie mal, wie viele der Welpen nicht erst gebissen werden mussten, damit es zur Vermehrung kam«, erwiderte Kelly.

»Teufel auch«, sagte Alaric. »Ricks Junge.«

»Wie?«, fragte Becks.

»Er hatte einen Sohn. Und er hatte eine Frau, deren Eierstöcke mit KA infiziert waren. Als er noch nicht Vizepräsident war, hat er einen Artikel für die Website darüber geschrieben. Bei seinem Sohn brach KA aus, als er das Schwellengewicht erreichte. Er wurde mit dem aktiven Virus im Blut geboren, und es ist ihm nie gelungen, es zurückzuschlagen.« Alaric schaute zu Kelly. »Das meintest du, nicht wahr?«

»Das meinte ich.« In dem Versuch, selbstbewusst zu wirken, hob sie leicht das Kinn, doch sie sah nach wie vor bloß verängstigt aus. »Wir können kein Impfprogramm starten, es sei denn, ihr wollt jedes kleine Kind in eine Zeitbombe verwandeln. Vielleicht werden sie mit dem Virus fertig und haben später bloß kaputte Augen oder komische Kopfschmerzen. Aber vielleicht behalten sie die Krankheit auch, und eines Tages drehen sich zu einem herum und versuchen, einem die Kehle herauszureißen. Für so etwas haben wir das Virus nicht gut genug unter Kontrolle. Und wir können es den Menschen nicht sagen, weil sich dadurch zu viel verändern würde.« Sie warf einen flehenden Blick in meine Richtung. »Deine Schwester ist voller Leidenschaft für die Wahrheit eingetreten, Shaun, aber es gibt Wahrheiten, für die die Welt noch nicht bereit ist. Es gibt Wahrheiten, die einfach zu viel sind.«

»Und wer hat dir das Recht gegeben, darüber zu entscheiden?«, fragte ich leise.

»Niemand.« Sie schüttelte den Kopf. »Es gab niemanden, den wir um Erlaubnis bitten konnten.«

»Buhu«, sagte Dr. Abbey. »Sag Bescheid, wenn deine Leute mal wenigstens so viel Rückgrat haben, dass sie sich mit uns anderen Wissenschaftler austauschen. Wir suchen nach Antworten. Und mit den Mitteln, die euch zur Verfügung stehen, würden wir viel weiter kommen.«

»Du meinst, ihr würdet gerne bei den verrückten Wissenschaftlern mitmachen«, sagte Kelly, deren Schuldbewusstsein mit einem Mal in Wut umschlug.

»Ich will nicht die ganze Hand, nur den kleinen Finger«, erwiderte Dr. Abbey.

Alaric schaute sie nachdenklich an. »Du meintest, dass Dr. Shoji sich nach den Versuchen mit Kreuzinfektionen aus der offiziellen medizinischen Gemeinde verabschiedet hat. Warum bist du gegangen? Warum arbeitest du nicht bei dem Seuchenschutz und versuchst, sie von innen zu übernehmen?«

»Wegen der Simon-Fraser-Universität.«

Kelly versteifte sich und ließ sich dann mit den Händen vor dem Gesicht in ihren Stuhl zurücksinken. Alarics Reaktion war nicht annähernd so dramatisch. Seine Augen weiteten sich ein wenig, und dann nickte er mit verständnisvoller, mitfühlender Miene. »Wen hast du verloren?«

Dr. Abbey schaute auf Joe die Dogge herab. Maggie streichelte ihm die Ohren, und der Hund sah aus, als wäre er im siebten Himmel. »Meinen Mann«, sagte sie ruhig. »Joseph Abbey. Er war Software-Ingenieur. Damals habe ich noch für eine Außenstelle der Seuchenschutzbehörde gearbeitet und auf ›sicheren‹ Wegen nach Lösungen gesucht. Ich befolgte die Vorschriften, ich hielt in meinem Labor die professionellen Standards ein, und ich war so dumm zu glauben, dass es darauf ankäme.«

Der Name der Universität kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht, in welchem Zusammenhang, und ausnahmsweise half George mir einmal nicht auf die Sprünge. »Kann mich mal jemand ins Bild setzen?«, sagte ich.

»Joe hat bei Software-Ingenieurskursen Vorträge gehalten. Angeblich war es gut für die Studenten, es mit jemandem ›aus der Praxis‹ zu tun zu haben. Ich glaube, zum Teil ging es darum, sie daran zu erinnern, dass es eine Welt außerhalb der Uni gibt.« Dr. Abbey warf einen Blick in meine Richtung. »Die Simon-Fraser-Universität war eine geschlossene Schule. Während des Semesters durfte kein Student und kein Fakultätsmitglied rein oder raus. Man kam sauber rein, man blieb sauber, man verließ sie sauber. So ziemlich das einzige Infektionsrisiko rührte von Gastdozenten und dem Personal her, und die wurden auf jede erdenkliche Art und Weise getestet. Joe sagte immer, dass er eine Woche lang nicht sitzen konnte, wenn er einen seiner Vorträge gehalten hatte.« Mit einem Mal verstummte sie.

»Es gab einen Ausbruch«, sagte Alaric und nahm damit den Faden dort auf, an dem Dr. Abbey ihren Bericht abgebrochen hatte. »Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras wurden größtenteils vernichtet, aber das, was wir haben, deutet darauf hin, dass es in der Turnhalle begonnen hat. Vielleicht hat jemand es übertrieben und einen Herzanfall erlitten. Wir werden es nie erfahren.«

»Oh Scheiße!«, sagte ich.

»Genau das dachte ich auch«, sagte Dr. Abbey.

Ein Ausbruch ist niemals gut, aber ein Ausbruch auf einem abgeriegelten Universitätsgelände ist so ziemlich das Schlimmste, was passieren kann. Die Gesunden sind mit den Infizierten eingeschlossen, bis jemand kommt, um sie rauszulassen. Die Aufräumarbeiten danach hatten vermutlich Wochen, wenn nicht Monate gedauert, und anschließend hatte man die Universität mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für mehrere Jahre schließen müssen, bis das Gefahrenniveau wieder abgesunken war. »Wie viele Studierende gab es dort?«

»Um die elftausend«, antwortete Dr. Abbey. »Bevor die auswärtigen Studenten vom Unterrichtsbetrieb ausgeschlossen wurden, waren es mehr. Dazu kamen etwa dreihundert von den Fakultäten und vom Personal.«

»Wie viele sind rausgekommen?«, fragte Maggie.

»Kein Einziger«, flüsterte Kelly.

»Kein Einziger«, wiederholte Dr. Abbey. »Man muss dazu wissen, dass der Ausbruch in der Nähe der Außenmauer begann, und die Gebäude befinden sich auf einer Anhöhe, was es erschwerte, auf einem anderen Weg als der Hauptstraße auf den Campus zu kommen. Wer auch immer an jenem Tag das Kommando hatte welches Genie auch immer am Schalter saß , kam zu dem Schluss, dass ein Evakuierungsversuch zu gefährlich wäre. Dass die Gefahr einer weiteren Verbreitung bereits zu groß war. Also hat man die kleine Universität dem Erdboden gleichgemacht.«

»Ich erinnere mich«, sagte Becks ein wenig ehrfürchtig. »Wir haben den Fall bei meiner Ausbildung durchgenommen. Praktisch alle Überwachungsvideos fehlten, selbst die, die eigentlich direkt an das kanadische Gesundheitszentrum und an die Datenbank der Seuchenschutzbehörde hätten gesendet werden sollen. Sie waren einfach weg.«

»Mit Ausnahme der Bruchstücke, die irgendwie auf Privatservern gelandet sind«, bemerkte Alaric. »Ich habe ein paar davon gesehen. Es handelt sich eindeutig um einen Ausbruch, aber es sieht eigentlich gar nicht «

»Es sieht eigentlich gar nicht so schlimm aus«, unterbrach ihn Dr. Abbey. Anscheinend hatte sie sich halbwegs gefasst. Sie blickte sich kampflustig in unserer kleinen Runde um und fuhr dann fort: »Es sieht nach einer Sache aus, die man am besten mit einem Stoßtrupp und einer allgemeinen Quarantäne in den Griff bekommen hätte. Nicht, indem man die Bombardierung von kanadischem Grund und Boden befiehlt. Mein Mann war dort drin. Er hat mich, fünfzehn Minuten bevor die Sache in die Nachrichten kam, angerufen und dabei gelacht. Er meinte, dass an der Straße irgendwas los sei und dass er rechtzeitig zum Mittagessen zu Hause sein würde. Er meinte, dass ich ihm einen Eisbeutel bereithalten solle, für die Blutergüsse von den Tests, auf denen sie bestanden. Alles war in Ordnung, und das war, nachdem der Ausbruch begonnen hatte. Aber sie sind damit umgegangen, als wäre es das Ende der Welt.«

»Und deshalb bist du abtrünnig geworden?«, fragte ich.

»Nennt man das heutzutage so?« Dr. Abbey schüttelte den Kopf. »Ich habe sofort meine Kündigung eingereicht. Sie haben sich geweigert, sie zu akzeptieren. Dreimal. Sie meinten, dass ich ›wertvolle Forschungsarbeit‹ leisten würde und dass sie mir gerne so viel Zeit geben würden, wie ich brauchte, um meine Angelegenheiten zu regeln, ehe ich wieder an die Arbeit ginge. Also regelte ich meine Angelegenheiten. Ich packte meine Sachen, räumte mein Labor aus und verdrückte mich, während die einander noch dazu beglückwünschten, dass sie sich mir gegenüber in diesen schweren Zeiten so verständnisvoll gezeigt hatten.«

»Du hast aufgegeben«, sagte Kelly.

»Du hast niemals auch nur angefangen«, gab Dr. Abbey zurück. »Schau mich nicht so an, du kleines Püppchen mit deinen großen moralischen Idealen, die vergessen sind, sobald du dir einbildest, es besser zu wissen. Mein Mann ist gestorben, weil eine Bombe billiger war als ein Säuberungstrupp. So einfach ist das. Joe ist gestorben, weil irgendjemand nicht berappen wollte. Seine Schwester« – sie deutete mit dem Finger auf mich – »ist gestorben, weil ihr nicht die Forschung zu den Reservoirkrankheiten betreibt, die wir brauchen, wenn wir dieses verdammte Virus überleben wollen. Als Spezies und als Gesellschaft. Du glaubst vielleicht, dass du das Richtige tust, und, verdammt, vielleicht hast du sogar recht, aber wenn ihr euch von niemandem über die Schulter sehen lasst, wie zum Teufel sollen wir andern das dann wissen?«

Kelly holte tief Luft und bemühte sich sichtlich um Gelassenheit, bevor sie antwortete: »Ich wäre nicht hier, wenn ich noch immer bereitwillig nach deren Regeln spielen würde.«

»Und auch das ist Blödsinn.« Dr. Abbey ließ sich von der Tischkante rutschen und trat einen Schritt vor. »Du machst die Regeln vielleicht nicht, aber auf jeden Fall verteidigst du sie, und damit solltest du langsam aufhören. Denn da du dich nun so weit aus deinem Refugium gewagt hast, kannst du ohnehin nicht mehr zurück. Es ist billiger, eine Bombe zu werfen, als medizinische Hilfe zu leisten, schon vergessen?« Sie beugte sich vor, bis ihres und Kellys Gesicht sich beinahe berührten, und sagte mit plötzlich sanfter Stimme: »Ich war auch einmal wie du. Vergiss das nicht! Ich war du, und die Organisation, an die du noch glaubst, hat mich zu der gemacht, die ich heute bin. Mit dir werden sie das Gleiche machen, wenn du nicht schnell dazulernst.«

Kelly starrte sie mit offenem Mund an. Bevor jemand von uns antworten konnte, wandte Dr. Abbey sich ab und entfernte sich mit langen Schritten über den Flur. Joe erhob sich schwerfällig und trottete hinter ihr her, wobei er beinahe Maggie umstieß. Wir anderen schauten nicht weniger verblüfft drein als Kelly.

Wir starrten immer noch mit offenem Mund Dr. Abbey nach, als sie uns, ohne sich umzudrehen, zurief: »Ich will, dass ihr in zehn Minuten aus meinem Labor verschwunden seid!« Dann war sie weg.

Ich warf Alaric einen Blick zu. »Ich glaube, ich mag sie.«

Ich glaube, ich auch, sagte George.

Becks beäugte uns andere mit kaum verhohlener Ungeduld. »Und?«, fragte sie. »Was zum Teufel sollen wir jetzt machen?«

»Der Teil ist einfach.« Ich lächelte bedächtig. »Wir haben hier eine Verschwörung. Also lasst uns das Mistding aufschneiden und sehen, was rausgepurzelt kommt.«

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Wenn Frühlingszeit zu Staub zerfällt

(In Blut und Rost getaucht die Welt)

Und alles Stein und Asche wird

(Die Seuche tief im Fleisch, das stirbt)

Was ist dann unser letzter Halt?

(Und welche Mär ist noch nicht alt?)

Dies schwöre ich bei meiner Seele

(Zur Zeugin ich Maria wähle):

Ich will nicht zaudern und nicht zagen

(Wenn mich auch Engel und Teufel plagen)

Wir sind die Kinder der Erwachten

Die in dieser Worte Kerker schmachten.

Aus Geliebte Pusteblume, dem Blog von Magdalene Grace Garcia, 16. April 2041.

Ich bin das Zelten offiziell leid. Ich bin es leid, Fisch zu essen. Ich bin es leid, den Jungs dabei zuzusehen, wie sie rumlaufen und sich kratzen und so tun, als würden wir uns der »rauen Natur« aussetzen, während wir uns aus einem Sendewagen bedienen, der besser ausgestattet ist als die meisten Wohnwagen. Ich bin es leid, Zombierehe zu schießen, die in unsere Sicherheitszone eindringen. Na ja, das mit den Rehen bin ich eigentlich nicht leid. Der Teil ist ziemlich cool. Pech gehabt, Bambi!

Also mache ich heute mal was anderes. Nein, ich sage euch nicht, was. Ihr müsst schon einschalten und es selbst rausfinden. Aber ich verspreche euch, ihr werdet einen Heidenspaß dabei haben.

Aus Charmante Lügen, dem Blog von Rebecca Atherton, 16. April 2041.