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Unsere Geschichte beginnt dort, wo zahllose Geschichten der letzten siebenundzwanzig Jahre enden: Damit, dass ein Idiot – in diesem Fall Rebecca Atherton, Kopf der Irwins von Nach dem Jüngsten Tag, Gewinnerin der Stevie-Goldmedaille für Tapferkeit im Angesicht von Untoten – beschloss, rauszugehen und mit einem Stock nach einem Zombie zu stochern, um zu sehen, was passieren würde. He, es besteht schließlich immer die Möglichkeit, dass es diesmal anders läuft. Ich zumindest habe immer gedacht, dass es bei mir anders laufen würde, als ich noch derjenige war, der rumgestochert hat. George meinte immer, dass ich ein Trottel wäre, aber ich habe auf mein Glück vertraut.
Zu dumm, dass George recht hatte.
Zumindest stellte Becks sich auf schlaue Weise dumm an, indem sie mit einer Brechstange nach dem Zombie stocherte, was ihre Überlebenschancen deutlich verbesserte. Es war ihr gelungen, dem Zombie das gekrümmte Ende unters Schlüsselbein zu rammen, was eine ziemlich effektive Verteidigungsstrategie darstellte. Der Zombie würde früher oder später feststellen, dass er nach vorne nicht weiterkam. Wenn es so weit war, würde er sich losreißen, wobei er ihr entweder die Brechstange aus der Hand reißen oder sich das eigene Schlüsselbein heraustrennen würde. Anschließend würde er versuchen, sie aus einer anderen Richtung anzugreifen. Angesichts der begrenzten Intelligenz eines Durchschnittszombies ging ich davon aus, dass ihr etwa eine Stunde blieb, bevor sie sich ernsthafte Sorgen machen musste. Mehr als genug Zeit. Es war eine spannende Szene. Frau gegen Zombie, in einem Kampf aufs Blut, der inzwischen praktisch in unser kulturelles Erbgut übergegangen ist. Und es war mir scheißegal.
Der Kerl neben ihr schien mit sehr viel weniger Herzblut bei der Sache zu sein, vielleicht, weil er noch nie zuvor einem Zombie so nahe gewesen war. Neuerdings liest man, dass wir die Zombies als »Menschen mit aktivem Kellis-Amberlee-Syndrom« bezeichnen sollen, aber da scheiße ich drauf. Wenn sie wirklich wollen, dass sich ein neues Wort für »Zombie« durchsetzt, dann hätten sie dafür sorgen sollen, dass man es leicht aus voller Kehle brüllen kann oder zumindest darauf achten, dass sich ein eingängiges Akronym daraus bilden lässt. Es sind Zombies. Hirnlose Fleischmarionetten, kontrolliert von einem Virus und angetrieben von dem unerschöpflichen Drang, ihre Krankheit weiterzuverbreiten. Daran ändert auch der schönste Name der Welt nichts.
Wie dem auch sei, Alaric Kwong – der Typ, der gerade versuchte, Becks’ totem Freund nicht sein Frühstück vor den Latz zu kotzen – ist einfach nicht für den Feldeinsatz gemacht. Er ist der geborene Newsie, einer von den Typen, die sich am wohlsten fühlen, wenn sie irgendwo weit entfernt von den Ereignissen sitzen und über Ursachen und Beweggründe reden. Zu seinem Unglück hat er sich irgendwann ein paar größere Storys in den Kopf gesetzt, und das bedeutete, dass er die Prüfung für die Journalistenlizenz der Klasse A ablegen musste. Um eine Lizenz der Klasse A zu bekommen, muss man beweisen, dass man einen Feldeinsatz bewältigen kann. Becks versuchte schon seit fast einer Woche, ihm dabei zu helfen, ein Unterfangen, das sich sehr schnell als hoffnungslos herausstellte. Alaric war dazu bestimmt, sein Leben lang in einem Büro zu sitzen und Berichte von Leuten zusammenzustellen, die genug Nerven hatten, um es durch die Prüfungen zu schaffen.
Du bist zu streng mit ihm, schalt mich Georgia.
»Ich bin bloß realistisch«, brummte ich.
»Shaun?« Dave blickte von seinem Bildschirm auf und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu mir. »Hast du was gesagt?«
»Überhaupt nichts.« Ich schüttelte den Kopf und griff nach meiner halb leeren Cola. »Fünf zu zehn, dass er schon wieder durch die Praktische fällt.«
»Ich wette dagegen«, sagte David. »Diesmal schafft er es.«
Ich hob die Brauen. »Warum bist du dir da so sicher?«
»Becks ist mit ihm da draußen. Er will sie beeindrucken.«
»Will er das also?« Das interessierte mich schon eher. »Meinst du, das beruht auf Gegenseitigkeit? Das würde erklären, warum sie immer Röcke bei der Arbeit trägt …«
»Kann sein«, sagte David nachdenklich.
Auf dem Monitor versuchte Becks gerade, Alaric dazu zu bewegen, die Brechstange zu nehmen und selbst einmal zu versuchen, den Zombie auf Abstand zu halten. Keine große Sache, wenn man so erfahren ist wie Becks. Zumindest wäre es keine große Sache gewesen, wenn auf dem Monitor zur Linken nicht gerade sechs weitere Infizierte ins Bild geschlurft wären. Ich schaltete den Ton ein. Nichts zu hören. Sie stöhnten nicht.
» … zum Teufel«, murmelte ich. Dann schaltete ich das Funkgerät ein und sagte: »Becks, achte auf deine Umgebung!«
»Wovon redest du?« Sie legte eine Hand an die Stirn und wandte den Kopf, um sich umzuschauen. »Hier ist alles …« Als sie die Infizierten sah, die mit jeder Sekunde näher heranschlurften, erstarrte sie und riss die Augen auf. »Scheiße noch mal …«
»Du sagst es«, sagte ich und stand auf. »Sorg dafür, dass Alaric am Leben bleibt! Ich fahre los, um euch zu evakuieren.«
»Leere Versprechungen«, brummte sie kaum hörbar. »Alaric, hinter mich, sofort!«
Ich hörte ihn überrascht fluchen. Gleich darauf folgte ein scharfer Knall, als Becks den gefangenen Zombie erschoss. Je mehr Zombies man in einem Gebiet hat, desto intelligenter scheinen sie zu werden. Wenn Becks und Alaric lebend da rauskommen wollten, mussten sie die Zahl der Infizierten so schnell wie möglich verringern. Ich sah schon nicht mehr, wie sie schoss; ich war bereits auf dem Weg zur Tür und schnappte mir dabei das Gewehr aus dem Waffenhalter.
Dave erhob sich halb und fragte: »Soll ich …?«
»Negativ. Bleib hier, sichere die Ausrüstung und halte dich bereit, wie der Teufel zu fahren!«
»Alles klar.« Hastig kraxelte er in die Fahrerkabine des Wagens. Ich achtete schon gar nicht mehr auf ihn, sondern stieß die Tür auf und trat in die brennende Nachmittagssonne hinaus.
Wenn man mit Toten spielen möchte, dann sollte man das lieber tagsüber tun. Bei hellem Licht sehen sie schlechter als Menschen, und sie können sich nicht so gut in irgendwelchen schattigen Winkeln verstecken. Wichtiger noch: So werden die Videos besser. Wenn man schon stirbt, dann doch bitte wenigstens vor laufender Kamera.
Der GPS-Peilsender an meiner Uhr zeigte, dass Becks und Alaric sich etwa drei Kilometer weit entfernt befanden und sich nicht bewegten. Drei Kilometer ist die staatlich festgelegte Mindestentfernung zwischen einer absichtlichen Zombiekonfrontation und einer genehmigten, beweglichen Schutzzone wie zum Beispiel unserem Sendewagen. Nicht, dass irgendein Gesetz die Infizierten davon abhalten würde, näher als drei Kilometer heranzukommen. Wir dürfen sie nur nicht näher heranlocken. Ich rechnete kurz. Wenn die beiden bereits eine Gruppe von sechs Zombies auf sich aufmerksam gemacht hatten und die Infizierten noch nicht stöhnten, dann ließ das vermuten, dass es in der unmittelbaren Umgebung genug Zombies gab, um einen vernunftbegabten Mob zu bilden. Gar nicht gut.
»Na schön«, sagte ich und schwang mich auf den Fahrersitz von Daves Jeep. Der Schlüssel steckte.
Im Gegensatz zu den meisten Feldfahrzeugen hat Daves Jeep keine nennenswerte Panzerung, es sei denn, man zählt die Plattläuferreifen und das titanverstärkte Skelett mit. Vor allen Dingen hat er Tempo – und zwar nicht zu knapp. Das Ding wurde auseinandergenommen, auf das absolut Nötigste reduziert, wieder zusammengebaut und dann wieder auseinandergenommen, und zwar so oft, dass wahrscheinlich keines seiner Bauteile mehr der Werksnorm entspricht. Wenn man von Infizierten angegriffen wird, dann bietet es etwa so viel Schutz wie eine nasse Papiertüte. Allerdings handelt es sich um eine äußerst schnelle nasse Papiertüte. Der Wagen dient einzig und allein dazu, Leute aus feindlichem Gebiet zu evakuieren, und wir haben nicht einen Mann verloren, seit wir ihn benutzen.
Ich klemmte das Gewehr zwischen die Sitze und gab Gas.
Aus vielerlei Gründen waren weite Teile Kaliforniens nach dem Erwachen im Prinzip aufgegeben worden. Einer dieser Gründe lautete: »Schwer zu verteidigen«; ein anderer: »Das ungünstige Terrain verschafft dem Feind Vorteile.« Meine persönliche Lieblingsbegründung bezog sich auf die kleine, unabhängige Gemeinde Birds Landing in Solano County: »Mangelndes Interesse.« Die Bevölkerung dort hatte vor dem Erwachen weniger als zweihundert betragen, und es hatte keine Überlebenden gegeben. Als die Bundesregierung Mittel für Aufräumarbeiten und Schutzmaßnahmen verteilen musste, hat sich einfach niemand dafür eingesetzt, dort aufzuräumen. Die üblichen Streifen gibt es zwar auch in Birds Landing, um zu verhindern, dass die Zombies sich zusammenrotten, aber ansonsten hat man es den Toten überlassen.
Es hätte der ideale Ort für Alarics letzte Übungsstunde im Feld sein sollen. Verlassen, isoliert, nah genug bei Fairfield, damit man ihn leicht wieder rausholen konnte, falls es nötig wurde, aber weit genug weg, damit ein bisschen vernünftiges Videomaterial dabei rumkommen würde. Nicht so gefährlich wie Santa Cruz, aber auch nicht so lauschig wie Bodega Bay. Der perfekte Platz, um sich ein paar Infizierte zu angeln. Nur schienen die Zombies der gleichen Meinung zu sein.
Die Straßen waren kacke. Ich fluchte leise, aber beständig vor mich hin, trat fester aufs Gas und fuhr so schnell, wie ich es mir gerade noch zutraute. Der Wagen zitterte und ruckelte, als würde er jede Minute auseinanderfliegen, und ich fing an zu grinsen und beschleunigte weiter. Das Zittern wurde stärker und mein Grinsen breiter.
Vorsicht, warnte Georgia. Ich will nicht als Einzelkind enden.
Mein Grinsen erstarb. »Das bin ich schon«, sagte ich und trat das Gaspedal voll durch.
Meine tote Schwester, die nur ich hören kann – und ja, ich weiß, dass ich spinne, danke auch, das ist ja wohl offensichtlich –, macht sich nicht als Einzige Sorgen wegen der selbstmörderischen Neigungen, die mich überkommen, seit sie von uns gegangen ist. »Von uns gegangen« ist eine höfliche, blutarme Umschreibung für »ermordet worden«, aber das ist immer noch besser als der Versuch, das Ganze jedes Mal, wenn das Gespräch auf sie kommt, zu erklären. Ja, ich hatte eine Schwester, und ja, sie ist gestorben. Und ja, ich rede andauernd mit ihr, weil diese eine Verrücktheit mich hinreichend bei Verstand hält, um meine Arbeit zu machen.
Einmal habe ich fast eine Woche lang nicht mit ihr geredet, auf Anraten eines Scheißpsychologen, der meinte, dass das vielleicht »helfen« würde. Nach fünf Tagen hätte ich mir zum Frühstück am liebsten die Kugel gegeben. Dieses Experiment werde ich nicht wiederholen.
Nach Georges Tod habe ich den Großteil der aktiven Arbeit im Feld aufgegeben. Ich hatte mir gedacht, dass die Leute sich dann vielleicht beruhigen würden, aber stattdessen hat es sie nur noch mehr in Aufregung versetzt. Ich war Shaun Mason, der Irwin des Präsidenten! Man hatte nicht damit gerechnet, dass ich einfach »Scheiß auf den Rummel« sagen und den Schreibtischjob meiner Schwester übernehmen würde! Nur tat ich genau das. Irgendwie hatte die Erfahrung, meiner eigenen Schwester ins Rückgrat zu schießen, einen schlechten Geschmack in meinem Mund hinterlassen, wenn es darum geht, mir die Finger schmutzig zu machen.
Das änderte nichts an der Tatsache, dass ich eine Lizenz dafür hatte, Hilfestellung im Feld zu leisten. Solange ich jedes Jahr meine Prüfung ablegte und nicht beim Schießen durchfiel, konnte ich raus, wann immer ich wollte, und im Gegensatz zu früher musste ich mir nicht mal mehr Gedanken darüber machen, wie ich an brauchbares Videomaterial kam. Langsam war ich nah genug bei Becks und Alaric, um Schüsse von vorne zu hören, begleitet von den Lauten der Zombies, die schließlich doch zu stöhnen begonnen hatten. Der Jeep wurde bereits so sehr durchgerüttelt, dass mehr Tempo wohl keine so gute Idee war.
Ich trat das Gaspedal voll durch.
Der Jeep wurde schneller.
Quietschend bog ich um die letzte Kurve und sah Becks und Alaric auf einem alten, unbenutzten Werkzeugschuppen stehen. Sie standen Rücken an Rücken in der Mitte des Dachs, wie die Figürchen auf einer Hochzeitstorte. Nur sind die Figürchen auf einer Hochzeitstorte für gewöhnlich nicht bewaffnet, und selbst wenn – es ist wirklich erstaunlich, was man heutzutage alles beim Feinkostbäcker bestellen kann –, dann schießen sie nicht. Üblicherweise werden sie auch nicht von einem Meer von Zombies umlagert. Die sechs, die ich auf dem Monitor gesehen hatte, waren still gewesen, weil sie nicht nach Verstärkung hatten rufen müssen; die Verstärkung war bereits da. Gut dreißig infizierte Leichen standen zwischen meinen Leuten und dem Jeep, und weitere schlurften ins Gefecht.
Becks hielt in jeder Hand eine Pistole, wodurch sie wie eine Illustration aus irgendeinem beschissenen Horror-Westernheft aus der alten Zeit vor dem Erwachen aussah. Showdown in der Schlucht der Verwesung oder so. Ihr Gesichtsausdruck verriet angespannte und unbeirrbare Konzentration, und jedes Mal, wenn sie schoss, ging ein Zombie zu Boden. Automatisch warf ich einen Blick auf die Armaturen, auf denen eine Anzeige mir bestätigte, dass all ihre Kameras nach wie vor Material sendeten. Doch dann fluchte ich in Gedanken und blickte wieder zu dem Schuppen.
George und ich sind bei Adoptiveltern aufgewachsen, denen die Quoten wichtiger waren als ihre Kinder. Wir waren ein Abwehrmechanismus für sie, ein Weg, mit ihrem Kummer zurechtzukommen: Ihr biologischer Sohn ist gestorben, und deshalb haben sie aufgehört, sich für Menschen zu interessieren. Wenn man jemanden verliert, ist er für immer fort. Wenn man dagegen seinen Platz in den Top Ten verliert, dann kann man ihn immer noch zurückerobern. Mit Zahlen fühlten sie sich sicher. Wir waren ein Mittel zum Zweck.
Langsam begriff ich, warum sie sich so entschieden hatten. Weil ich nämlich jeden Morgen in einer Welt aufwachte, in der es keine George mehr gab. Und ich blickte in den Spiegel und rechnete damit, in Moms Augen zu schauen.
Das wird nicht geschehen, du Trottel, weil ich es nämlich nicht zulasse, sagte George. Und jetzt holen wir die da raus.
»Bin dabei«, brummte ich und griff nach dem Gewehr.
Alaric ging sehr viel weniger gelassen mit seiner Situation um als Becks. Er hielt sein Gewehr in den Händen und schoss in die wogende Menge, die ihn umgab, hatte dabei aber weniger Glück als sie: Er musste drei- oder viermal schießen, um einen einzigen Zombie zur Strecke zu bringen, und ich sah einige der von ihm getroffenen taumelnd wieder auf die Beine kommen. Er nahm sich nicht die Zeit, auf den Kopf zu zielen, und ich hatte keine Ahnung, wie viel Munition er dabei hatte. Nach der Größe des sie umgebenden Mobs zu urteilen würde es nicht mal ansatzweise genug sein.
Keiner von beiden hatte einen Gesichtsschutz. Damit kamen Granaten nicht infrage, solange ich sie nicht aus dem Radius der Explosion bekam – umherfliegende Zombiefetzen sind genauso tödlich wie die kratzende, beißende Variante. Der Jeep selbst hatte keinerlei Bewaffnung; die hätte ihn schwerer gemacht. Damit blieben mir das Gewehr, Georges Lieblings-40er sowie der jüngste praktische Neuzugang in meinem Arsenal, der Teleskop-Elektroschlagstock. Das Virus, das ihre Körper kontrolliert, mag keine Elektroschocks. Töten kann man einen Zombie damit zwar nicht, aber man kann ihn total aus dem Konzept bringen, und manchmal reicht das schon.
Der Mob hatte mein Eintreffen noch immer nicht bemerkt, das bereits angepeilte Frischfleisch raubte ihnen wohl ein bisschen die Aufmerksamkeit. Der Versuch, sie wegzulocken, wäre sinnlos gewesen. Zombies sind nicht wie Haie: In einer Gruppe laufen sie einander nicht einfach nach. Ein paar wären mir vielleicht gefolgt, aber es gab keine Garantie, dass ich mit ihnen fertig werden würde, und Becks und Alaric würden nach wie vor festsitzen. Ich hätte bloß ein Fiasko heraufbeschworen.
Nicht, dass das, was ich vorhatte, auf lange Sicht viel bessere Erfolgsaussichten gehabt hätte. Ich brachte mich etwa fünf Meter hinter dem Mob in Position, zog Georges Pistole aus dem Halfter und schoss das Magazin leer, ohne zwischen den Schüssen innezuhalten. Für die Prüfung konnte ich vielleicht noch gut genug zielen, aber im Feld war ich eingerostet: Siebzehn Kugeln, und nur zwölf Zombies gingen zu Boden. Becks und Alaric blickten auf, als sie Schüsse hörten, und Alaric riss die Augen auf und führte dann einen absurden kleinen Siegestanz auf.
Becks’ Begeisterung über meinen hirnlosen Kavallerieangriff fiel etwas gedämpfter aus. Sie wirkte einfach nur erleichtert.
Mir blieb keine Zeit, um meine Teammitglieder länger zu beachten. Meine Schüsse hatten die Zombies auf die Anwesenheit von neuem Fleisch aufmerksam gemacht, das leichter zu erreichen war. Mehrere Gestalten am Rand des Mobs drehten sich zu mir um und schlurften, stolperten oder rannten auf mich zu, je nachdem, wie lange die Infektion sie schon im Griff hatte. Ich ließ ein neues Magazin in Georges Pistole einrasten, steckte sie zurück ins Halfter, hob dann das Gewehr und zielte dorthin, wo sie sich am dichtesten drängten.
Zu den allgemein bekannten Tatsachen über Zombies gehört, dass man auf den Kopf zielen muss, da das Virus, das ihre Körper in Gang hält, praktisch jeden anderen Schaden entweder reparieren oder umgehen kann. Das ist absolut wahr.
Zu den nahezu unbekannten Tatsachen über Zombies – weil man nämlich ein verdammter Vollidiot sein muss, um sich darauf zu verlassen – gehört: Ein verletzter Zombie wird durchaus langsamer, da man das vergleichsweise beschränkte Virus, das die Leiche steuert, soeben gezwungen hat, sich im Multi-Tasking zu versuchen. Dazu kommt, dass die richtige Art von Verletzung den Unterschied zwischen genug Zeit zum Nachladen und niedergewalzt werden ausmachen kann.
Ich stützte das Gewehr an meiner Schulter ab und schoss ungezielt in die Menge. Langsam erregte ich ihre Aufmerksamkeit: Köpfe wandten sich mir zu, und das Stöhnen wechselte die Tonlage. Ich feuerte die letzten drei Schüsse schnell hintereinander ab. Zu schnell, um etwas damit auszurichten, aber schnell genug, damit Becks die Botschaft verstand. Sie warf sich flach aufs Dach des Schuppens und zog Alaric mit runter. Ich warf das Gewehr auf den Beifahrersitz und öffnete das Handschuhfach.
Scharfe Granaten zu benutzen, wenn man Leute im Nahkampf hat, ist bestenfalls antisozial und kann im schlimmsten Fall eine Mordanklage nach sich ziehen. Aber wenn man die richtige Sorte erwischt – diejenigen, die explodieren, aber nicht zu sehr, um so den Ausstoß von Zombiefetzen in Grenzen zu halten –, können sie verdammt praktisch sein. Man muss zwar immer noch den Wind auf seiner Seite haben, aber solange die eigenen Leute mindestens drei Meter weiter oben sind, sollte alles glattlaufen. Ich schnappte mir alle vier Granaten, zog einen Stift nach dem anderen und warf sie in hohem Bogen mitten in die Zombiehorde.
Es gab eine Reihe lauter, aber gedämpfter Explosionen, als die Wurfgeschosse ihre Ziele fanden, sich in mehrere Sprengkörper aufteilten und hochgingen. Die Zombies, die von den Splittern in den Kopf oder ins Rückgrat getroffen wurden, gingen zu Boden. Andere fielen, als ihnen die Beine unterm Leib weggepustet wurden. Letztere blieben nicht liegen. Sie zogen sich über den Boden weiter. Der ganze Mob stöhnte nun hingebungsvoll.
Und jetzt noch den richtigen Spruch, Idiot, drängte George.
Ich errötete. Bislang hatte ich in dem Punkt noch nie die Unterstützung meiner Schwester gebraucht. Ich drückte den Breitband-Sendeknopf an meiner Uhr und fragte: »He, Leute, kann ich bei euch mitfeiern?«
Becks antwortete sofort, und die Erleichterung war ihrem Tonfall sogar noch deutlicher anzumerken als ihrem Gesicht. Vielleicht konnte sie sie dort einfach nicht so gut verbergen. »Warum hast du so lange gebraucht?«
»Ach, der Verkehr! Du weißt ja, wie das ist.« Der gesamte Mob näherte sich nun mir. Anscheinend waren die Zombies zu dem Schluss gekommen, dass das Fleisch an ihren Hacken reizvoller war als das, was nicht vom Baum runterkommen wollte. Ich fuhr den Elektroschlagstock aus, zog erneut Georges .40er und empfing die sich nähernden Infizierten mit einem fröhlichen Lächeln. »Hi! Lust auf eine Party?«
Shaun …, sagte Georgia.
»Ja, ja, ich weiß«, brummte ich und fügte etwas lauter hinzu: »Kommt da runter und versucht, hinten rum zum Jeep zu gelangen. Drückt auf die Hupe, sobald ihr drin seid. Unter dem Beifahrersitz liegt noch mehr Munition.«
»Und was genau hast du vor?«, fragte Becks. Sie klang angemessen misstrauisch. Ausnahmsweise war wenigstens mal einer von uns vernünftig.
»Ich verdiene mir meine Einschaltquoten«, erwiderte ich. Dann waren die Zombies da, und es blieb keine Zeit mehr für Diskussionen. Insgeheim war ich froh darüber.
Es ist eine besondere Kunst, gegen Infizierte zu kämpfen. Es war fast eine gute Sache, dass dieser Mob am Anfang so groß gewesen war: Wir hatten ihn durch unsere Fähigkeit zum taktischen Denken massiv reduziert, aber die Restlichen verhielten sich nach wie vor wie in einem Rudel. Sie wollten fressen und nicht infizieren. »Sie wollen mich töten« klingt vielleicht nicht gerade nach einem großen Vorteil, aber ihr könnt es mir glauben. Ein Zombie, der dich infizieren will, versucht es mit seinen Körperflüssigkeiten. Damit stehen ihm sehr viel mehr Waffen zu Gebote, da er bluten und spucken kann – sogar kotzen, wenn er vor Kurzem gegessen hat. Ein Zombie, der einen fressen will, wird einen dagegen nur mit dem Mund attackieren, was bedeutet, dass er nur auf eine Art angreifen kann. Das verbessert die Überlebenschancen seines Opfers zumindest ein bisschen.
Und ein bisschen kann mehr als genug sein.
Mit meinem Schlagstock hielt ich die Zombies auf Abstand, indem ich jedem, der sich in meine Reichweite wagte, einen Elektroschock verpasste. Ich verließ mich darauf, dass das kugelsichere Gewebe meiner Jacke meinen Arm vor Bissen schützen würde. Die Elektroschocks machten sie langsamer, sodass ich weiterhin Zeit zum Schießen hatte. Wichtiger noch, sie verhinderten, dass die Zombies sich hinter mir positionierten. An den Schüssen aus Becks’ und Alarics Waffen, die fast so regelmäßig erklangen wie meine eigenen, konnte ich hören, wo sie sich in etwa aufhielten. Auf drei meiner Schüsse kamen zwei tote Zombies. Nicht gerade die beste Quote der Welt. Aber auch nicht die schlechteste.
Die Zombies griffen unermüdlich an. Ich wich zum Jeep zurück, ließ sie in dem Glauben, dass sie mich vor sich hertrieben, während ich ihre Reihen ausdünnte. Plötzlich fiel mir auf, dass ich grinste. Ich konnte einfach nicht anders. Eigentlich sollte ich mich wohl nicht über die Aussicht zu sterben freuen, aber Jahre des Trainings kann man nicht einfach über Nacht abschütteln, und bevor ich mich zur Ruhe gesetzt hatte, war ich lange Zeit ein Irwin gewesen.
Zielen, schießen. Schwenken, zapp. Zielen, schießen. Es war fast wie ein Tanz, eine Reihe beruhigender, vorhersehbarer Bewegungen.
Als Georges Pistole die Munition ausging, wechselte ich auf meine eigene Ersatzwaffe, mit einer so geschmeidigen und lockeren Bewegung, wie man es sich nur vorstellen kann. Ich hörte keine Schüsse mehr, also hatten Becks und Alaric es entweder zum Jeep geschafft, oder mein Gehirn hatte begonnen, ihre Kampfgeräusche als unwichtig einzustufen und auszublenden. Ich hatte meine eigenen Zombies zum Spielen. Sie konnten sich selbst um ihre kümmern. Sogar George war verstummt, sodass ich allein in meiner Blase absoluter Zufriedenheit war. Es spielte keine Rolle, dass meine Schwester tot war oder dass die Arschlöcher, die ihre Ermordung befohlen hatten, noch immer irgendwo da draußen waren und Gott weiß wem Gott weiß was antaten. Ich hatte Zombies. Ich hatte Munition. Alles andere waren Detailfragen, und, wie gesagt, interessiere ich mich nicht für Detailfragen.
»Shaun!«
Der Ruf kam von hinten und nicht über die Gegensprechanlage oder aus meinem Kopf. Ich konnte gerade noch den Drang unterdrücken, mich umzudrehen, eine Bewegung, die im Feld tödlich enden kann. Ich jagte zwei Kugeln in den Zombie, der auf mich zusprang und rief zurück: »Was ist?«
»Wir sind beim Jeep! Kannst du dich zurückziehen?«
Konnte ich mich zurückziehen? »Tja, das ist eine interessante Frage, Becks!«, rief ich. Zielen, schießen. Wieder zielen. »Ist hinter mir was? Und was zum Teufel ist aus der Sache mit dem Hupen geworden?«
»Rühr dich nicht vom Fleck!«
»Das kriege ich hin!« Ich schoss erneut. Ein weiterer Zombie ging zu Boden. Und dann brach hinter mir die Hölle los. Nicht buchstäblich, aber das Geräusch eines Sturmgewehrs hat etwas davon. Anscheinend hatte Becks unterm Sitz nicht bloß Munition gefunden. Dave und ich würden uns ausführlich darüber unterhalten müssen, wie ich künftig besser über die Feldausrüstung auf dem Laufenden bleiben konnte.
»Weg ist frei!«
»Wunderbar!« Langsam tat mir von dem ganzen Geschrei die Kehle weh. Ich begutachtete die verbliebenen Zombies vor mir. Keiner von ihnen sah frisch genug aus, um mir bei einer Verfolgungsjagd ernsthaft gefährlich zu werden, weshalb ich genau das tat, was man im Feld nicht tun soll, wenn man irgendeine Wahl hat:
Ich ließ es drauf ankommen.
Ich kehrte dem Mob den Rücken zu und rannte zum Jeep, wobei ich mit meinem Schlagstock auf alles, was aussah, als würde es sich bewegen wollen, einprügelte. Becks deckte von der Rückbank aus die Umgebung ein, während Alaric mit erschütterter Miene auf dem Beifahrersitz saß.
Nichts erwischte mich, und wenige Sekunden später schwang ich mich am Dachgestänge auf den Fahrersitz. Ohne mich anzuschnallen, trat ich aufs Gas, und wir düsten davon und ließen die stöhnenden Reste der Zombiehorde von Birds Landing hinter uns.
Kalifornien ist ein faszinierendes Land. Dank seiner sonderbaren Geografie und der Mikroklimazonen haben wir hier alle Landschaftstypen von Gebirgstundra bis zu üppigen Wäldern, und das bedeutet, dass man hier Fallstudien zur Haltbarkeit von Zombies in fast allen denkbaren Klimata betreiben kann. Wir haben hier einige der größten bewohnten Stadtgebiete, die nicht weit von einigen der ersten Countys entfernt sind, die offiziell aufgegeben wurden. Es ist, als litte der gesamte Bundesstaat unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung.
Manchmal überlege ich mir, ob ich nach New York oder Washington, D. C. ziehen soll, wo Nachrichten auch etwas wert sind, es aber nicht so viele Ausbrüche gibt, über die man sich Sorgen machen müsste. Nur wäre das total elend für Shaun, weil er mitkommen würde. Er begleitet mich immer überallhin, so wie ich ihn überallhin begleite. Das bedeutet es, zusammenzugehören, oder?
Keiner von uns beiden muss jemals allein sein.
Aus Postkarten von der Klagemauer, dem Nachlass von Georgia Mason, erstmals veröffentlicht am 9. Januar 2041.
Becks und Alaric haben sich heute also in eine brenzlige Lage manövriert – ein unzensierter Bericht in allen Einzelheiten findet sich in Alarics Statusmeldungen, aber stellt euch auf eine ganze Menge nicht jugendfreier Ausdrücke ein. Wusstet ihr bei einigen dieser Worte überhaupt, dass er sie kennt? Ich nicht! Unser Kleiner wird groß.
Aber dass Becks und Alaric in Schwierigkeiten geraten, ist hier ja nichts Neues, oder? Warum ist das also diesmal so eine große Sache? Einzig und allein, weil unser Herr und Meister Shaun »Boss« Mason seine triumphale Rückkehr ins Feld gefeiert hat, um den beiden den Arsch zu retten. Und ich muss schon sagen, als ich ihn da draußen gesehen habe …
Es war auf eine Art und Weise gut, die ich nicht in Worte fassen kann, und ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit. Vielleicht erholen wir uns doch noch von den Ereignissen des letzten Jahres. Vielleicht können wir unser altes Leben wiederaufnehmen.
Vielleicht kommen wir drüber hinweg …
Aus Antikörper unter Strom, dem Blog von Dave Novakowski, 12. April 2041.