7
»Shaun?«
Ich hob den Kopf, während ich mir mit einer Hand die Schläfe rieb, um den Kopfschmerz, der sich dort zusammenbraute, frühzeitig zurückzudrängen. Als die anderen im Haus zu Bett gegangen waren, hatte ich zwar die meisten Lichter ausgemacht, aber selbst weitergelesen. Vielleicht war das keine so gute Idee gewesen. »Ich bin hier, Maggie.« Ich saß im Wohnzimmer auf dem Boden, mit dem Rücken am Sofa. Ich saß schon so lange dort, dass ich mir nicht mehr sicher war, ob ich noch stehen konnte.
Ohne einen Fehltritt überquerte Maggie den dunklen Flur bis zur Wohnzimmertür. Es war bewundernswert, wie genau sie wusste, wo sich alles befand. Ich hätte den Weg durch den Flur nicht gefunden, ohne mich dabei mehrmals ernsthaft zu stoßen. »Wie geht es Mahir?«
»Er ist erleichtert, dass wir noch leben. Er sendet altes Videomaterial, das George und ich bei unserem letzten Ausflug nach Santa Cruz aufgenommen haben. Wenn er die Datumsangaben entfernt, kann er es wohl so aussehen lassen, als wären wir alle unterwegs gewesen und hätten unseren Spaß mit den Infizierten gehabt, während unser Haus in die Luft geflogen ist.«
Maggie schluckte. »Und Dave?«
»Ist dort geblieben, um sich um die Server zu kümmern. Wir vermuten, dass die Aufräumarbeiten in Oakland morgen früh abgeschlossen werden. Man wird seine Familie benachrichtigen, und wir machen es dann bekannt, sobald sie sich mit uns in Verbindung gesetzt haben.« Es war herzlos. Es war unverzeihlich. Und wir hatten keine andere Wahl. »Ich schätze, wir können etwa drei bis vier Tage lang so tun, als wären wir draußen im Feld, ehe wir uns einen neuen Unterschlupf suchen müssen.«
»Sei kein Idiot!« Ihr scharfer Tonfall überraschte mich. Ich blinzelte. Sie zog ihren durchgescheuerten Frotteebademantel fester um ihre Schultern, als böte er ihr irgendeinen Schutz, und starrte mich finster an. »Ihr bleibt hier. Meine Sicherheitssysteme können eure Übertragungen umleiten, wohin ihr wollt.«
»Maggie …«
»Wage es nicht, mir zu erzählen, dass es zu gefährlich wäre, Shaun Mason! Wage es nicht!« Sie stolzierte zum nächsten Polstersessel und ließ sich mit angezogenen Beinen darin nieder. Sie fixierte mich und wirkte ein bisschen wie eine fauchende Katze. »Ich war noch nie in meinem Leben außer Gefahr. Ich habe nicht vor, das jetzt zu ändern.«
»Das kannst du mir nicht erzählen«, wandte ich ein. »Ich habe schließlich dein Sicherheitssystem gesehen.«
Maggies volles, helles Lachen kam überraschend. »Eines Tages werde ich genug Geld erben, um ein kleines Land zu kaufen. Sonst gibt es niemanden, dem meine Eltern es hinterlassen könnten. Es hat seine Gründe, dass ich mitten im Nirgendwo lebe und mich mit Reportern umgebe. Hast du eine Ahnung, wie gut die Sicherheitsvorkehrungen hier tatsächlich sind? Wenn ich schreie, kommt jemand. Hier kann man keinen Ausbruch vortäuschen, ohne dass man den Betrug sofort erkennen würde. Solange nicht die Toten noch einmal in Massen erwachen …«
»Was glücklicherweise nicht besonders wahrscheinlich ist.«
»Genau. Wenn ihr von hier weggeht, seid ihr nicht mehr sicher.«
Ich musterte sie nachdenklich. »Einen hübschen Käfig hast du hier.«
»Danke!« Sie lächelte schmallippig. »Das Essen ist auch ziemlich gut, aber die Gesellschaft ist echt das Letzte.«
»Wir geben uns alle Mühe.« Ich seufzte. »Das Ganze tut mir wirklich leid.«
»Muss es nicht. Schlaf einfach ein bisschen.« Maggie warf sich ihren beinahe hüftlangen Zopf über die Schulter und zupfte an den Fransen am Ende. »Du hattest einen langen Tag.«
»Ja, stimmt. Was man im Rückspiegel sieht, wird nicht unbedingt kleiner, nur weil es weiter weg ist.« Ich hielt eine der Mappen aus Kellys Aktentasche hoch. »Ich versuche nur, mir einen Reim auf diesen ganzen Mist zu machen, solange hier alles friedlich ist. Wird wahrscheinlich nicht besonders lange so bleiben.«
»Wie immer halt«, stimmte Maggie mir zu. »Wie schlimm ist es?«
»Auf einer Skala von eins bis Scheiße, wir werden alle sterben?« Ich klappte die Mappe auf und las vor: »Angesichts des Mutationsrisikos lässt sich die Theorie, dass es sich bei den Reservoirkrankheiten um die nächste Entwicklungsstufe von Kellis-Amberlee handelt, nicht ignorieren. Es wäre sträflich nachlässig, die Möglichkeiten und Gefahren zu übersehen, die eine solche Entwicklung mit sich bringen könnte.« Ohne aufzublicken, klappte ich die Mappe wieder zu. »Was zum Teufel soll das bitte heißen? Jemand bringt Leute mit Reservoirkrankheiten um. Im Gegensatz zu allem anderen lügen die Zahlen nicht. Aber was hat es zu bedeuten?«
»Ich schätze, es bedeutet, dass wir eine Menge Arbeit vor uns haben.«
»Ja.« Ich warf einen Blick auf den Flur. »Schlafen die anderen?«
»Ja. Ein paar von ihnen haben vielleicht chemische Hilfe dafür in Anspruch genommen, aber wenn es funktioniert …«
»Gut.«
Maggie hatte die Gästezimmer vorbereitet, während wir noch unterwegs gewesen waren, und ihren Kummer lange genug hinuntergeschluckt, um frisches Bettzeug und Handtücher rauszulegen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es als eine Art Ritual aufgefasst hat: Wenn sie die Zimmer für uns vorbereitete, würden wir lebendig auftauchen. Als es Schlafenszeit gewesen war, hatte sie sich dafür entschuldigt, dass sie nur drei Gästezimmer hatte. Die anderen beiden hatte sie zu einem Heimkino und einem Studierzimmer umgebaut. Als ob man sich dafür entschuldigen müsste, ein Haus mit nur sechs Schlafzimmern zu haben. George und ich sind in einem Haus mit dreien aufgewachsen, und die von uns beiden waren so miteinander verbunden, dass es sich praktisch um einen Raum gehandelt hatte. Mit drei Gästezimmern gab es jeweils eins für Alaric, Becks und den Doc. Ich schlief nicht zum ersten Mal auf dem Sofa. Das machte mir nichts aus.
Außerdem wollte ich die Zahlen so lange anstarren, bis sie einen Sinn ergaben. Nach über zwei Stunden war ich der Lösung immer noch nicht näher. Ich seufzte. »Irgendetwas übersehe ich. Ich weiß, dass ich etwas übersehe.«
Sei nicht so hart zu dir, sagte George. Du bist müde.
»Du hast leicht reden«, blaffte ich ungehalten. Dann erstarrte ich und warf einen wachsamen Blick in Maggies Richtung. Ich rechnete damit … ich weiß nicht, womit ich rechnete. Der Umstand, dass ich nach wie vor mit meiner Schwester redete, löst eine Menge Reaktionen bei den Leuten aus. Die meisten davon sind nicht besonders positiv.
Maggie fiel etwa in die Mitte des Spektrums. Den Kopf etwas zur Seite geneigt, musterte sie mich nachdenklich. »Sie redet wirklich mit dir, nicht wahr?«, fragte sie. »Es ist nicht nur so, dass du mit ihr redest. Sie antwortet.«
»Zum Teufel noch mal, in fünfzig Prozent der Fälle fängt sie an«, sagte ich wie zu meiner Verteidigung. »Ich weiß auch, dass es seltsam ist.«
»Nun ja, seltsam ist es. Technisch gesehen ist es sogar verrückt. Aber wer bin ich, mir ein Urteil anzumaßen?« Maggie zuckte mit den Schultern. »Ich lebe in einem Haus, das den meisten Leuten wie die Kulisse aus einem Horrorfilm vorkommen würde, mit einer Armee von Ninja-Leibwachen und ein paar Dutzend epileptischen Hunden, die mir Gesellschaft leisten. Ich glaube kaum, dass ich entscheiden kann, was ›seltsam‹ ist.«
Das ist ja mal was Neues, sagte George verblüfft.
»Sag bloß«, brummte ich und fügte etwas lauter hinzu: »Das ist, äh, mal was anderes.«
»Du weißt wenigstens, dass du verrückt bist. Das bedeutet, dass du das Potenzial hast, wieder gesund zu werden.«
Ich zögerte. Eine Menge Leute behaupten, dass meine standhafte Weigerung, George aufzugeben, bedeutet, dass ich niemals über sie hinwegkommen werde. In gewisser Weise hoffe ich, dass sie damit recht haben. Ich will nicht über sie hinwegkommen. »Tja, hm, danke«, sagte ich. Ausgesprochen klangen die Worte sogar noch lahmer als in meinem Kopf.
Maggie schien das nicht aufzufallen. Mit wehmütiger Miene ließ sie den Blick durch die dunklen Ecken des Raums schweifen. »Ich wusste, dass Dave mich geliebt hat«, sagte sie betont beiläufig. Was auch immer sie sagen wollte, sie würde es nicht davon abhängig machen, ob ich ihr die richtigen Stichworte lieferte. Ich war für sie ein Zuhörer, kein Gesprächsteilnehmer. »Aber Buffys Tod hat mir immer noch zu schaffen gemacht, und Dave und ich, wir … wir schlichen auf diese komische Art umeinander herum, als müssten wir erst jede einzelne Dialogzeile ausknobeln, bevor wir mit dem Film anfangen könnten. Ich wusste es, und er wusste es, und wir haben nicht das Geringste unternommen.« Sie schniefte. Ein leises Geräusch, das mir in der plötzlichen Stille laut vorkam. »Als hätten wir gedacht, dass alles perfekt sein müsste, um zu funktionieren. Wie in einer Geschichte.«
Ich wollte etwas erwidern, aber es gab nichts zu sagen. Also saß ich regungslos da. Nur meine Finger, in denen ich noch immer Kellys Aktenmappe hielt, zuckten leicht. Ich wollte den Arm nach ihr austrecken, sie bei der Hand nehmen. Nur dass ich wusste, dass es nicht ihre Hand war, die ich wollte – die Hand, um die es mir ging, bestand nur noch aus Asche und Knochensplittern, die ich über dem Highway 1 in Kalifornien verstreut hatte. Deshalb blieb ich reglos.
»Warst du jemals verliebt?« Maggie schaute wieder zu mir. Das schwache Licht glänzte in den Tränen, die ihr über die Wangen liefen.
Auf diese Frage gibt es einfach keine gute Antwort. Ich versuchte nicht mal, eine zu finden, sondern zuckte bloß mit den Schultern.
»Liebe ist scheiße«, sagte Maggie und erhob sich. »Jeder, in den ich mich verliebe, stirbt. Versuch, heute Nacht ein bisschen zu schlafen, okay, Shaun? Und … danke fürs Zuhören! Ich kann das nicht ins Netz stellen.« Ihr leises Lachen wurde fast zu einem Schluchzen. »Immer wenn ich von einer echt tragischen Liebesgeschichte erzählen könnte, kann ich irgendwie nicht darüber bloggen. Es wäre nicht fair gegenüber Buffy gewesen, und diesmal ist es nicht fair gegenüber Dave. Es … heutzutage gibt es nur noch so weniges, was privat bleibt.«
»Ja«, sagte ich und schluckte das trockene Gefühl in meiner Kehle hinunter. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er wusste, dass du ihn auch geliebt hast. Er hatte sich dieses Heimkino auf dem Dach eingerichtet …«
»Ich weiß.« Ihr Lächeln war kurz angebunden, aber ehrlich. »Schlaf ein bisschen! Morgen wird auch kein besserer Tag.«
Schlimmer kann’s nicht werden, brummte George.
Ich schluckte meine Antwort hinunter und sagte stattdessen: »Ich werd’s versuchen.«
»Das reicht mir schon«, sagte Maggie und wandte sich zum Gehen. Sie ließ mich mit meinem Aktenstapel, meiner winzigen Lichtpfütze und dem Nachhall der Stimme meiner Schwester im Kopf zurück.
Früher hast du mich zum Schlafen gezwungen, sagte George.
»Tja, damals hattest du auch noch einen Körper.« Ich schaute auf den Ordner in meiner Hand und wünschte, dass er sich einfach von allein öffnen würde, sodass ich nicht selbst entscheiden musste, ob ich weitermachen sollte oder nicht. Wenn er offen war, konnte ich einfach lesen.
Shaun …
»Lass mich!«
Sie seufzte. Ich kannte dieses Seufzen. Ich kannte alle Arten, auf die sie seufzen konnte. Das hier war der »Shaun, hör auf mit den Dummheiten!«-Seufzer, der normalerweise für die Anlässe reserviert war, bei denen sie mich dazu bringen musste, etwas zu tun, was sie für vernünftig hielt. Ich werde nicht zulassen, dass du träumst.
Ich erstarrte.
Danach sagte George nichts weiter. Ich spürte, wie sie in meinem Hinterkopf wartete, mit unendlicher Geduld, zumindest was mein Wohlergehen betraf. Erneut schluckte ich. Dann lehnte ich mich in meinen Stuhl zurück und schloss die Augen. »Du kannst mich noch immer überraschen«, sagte ich.
Gut. Und jetzt marsch aufs Sofa!
»Ja, Ma’am.«
Maggies Sofa erwies sich als überraschend bequem, nachdem ich erst einmal den ganzen darauf liegenden Kram runtergeschmissen hatte. Ich machte das Licht aus, zog Hemd und Schuhe aus und ließ für den Fall, dass wir uns gleich morgen früh wieder davonmachen mussten, die Jeans an. Ich schlief, kaum dass mein Kopf das Kissen berührt hatte.
George stand zu ihrem Wort. Wenn ich in jener Nacht geträumt habe, kann ich mich nicht daran erinnern.
Stimmen aus dem Nebenzimmer weckten mich. Das Gespräch wurde in dem durchdringenden Bühnenflüsterton geführt, von dem die meisten Leute anscheinend meinen, er würde niemanden stören, obwohl er praktisch nicht zu überhören ist. Etwas am Klang flüsternder Stimmen rührt an einem urzeitlichen Alarmsystem im menschlichen Hirn. Wenn sie einfach ganz normal leise gesprochen hätten, hätte ich sie wahrscheinlich überhaupt nicht gehört. Immerhin schrie niemand. Das bedeutete, dass wahrscheinlich alle die Nacht überlebt hatten. Es ist immer nett, am Leben zu sein, wenn man aufwacht.
Mich aufzusetzen war gar nicht so leicht. Mein Rücken war steif von den vielen Stunden auf dem Motorrad, gefolgt von den Stunden auf dem Boden, in denen ich zu lesen versucht hatte. Ich verbringe vielleicht nicht mehr so viel Zeit im Feld wie früher, aber deshalb bin ich noch lange kein Bücherwurm oder so. Wer hätte ahnen können, dass man sich auch bei braver Heimarbeit wehtun kann? Ächzend stützte ich die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Die Stimmen aus der Küche verstummten. Zombies ächzen nicht, sie stöhnen, aber für das ungeübte Ohr klingen beide Laute beinahe gleich. Von den vier im Haus Anwesenden hatte außer mir nur Becks die nötige Felderfahrung, um zu wissen, dass das, was dieses Geräusch verursachte, lebendig sein musste. Lebendig, wenn auch übellaunig.
Becks und Alaric hatten lange genug mit mir zusammengearbeitet, um zu wissen, dass sie besser nicht die Köpfe zu mir reinsteckten, bevor ich aus eigener Kraft gehen konnte. Die Stimmen in der Küche sprachen weiter und wurden jetzt, wo keine Gefahr mehr bestand, mich zu wecken, etwas lauter. Ich hielt das Gesicht weiter in den Händen vergraben und erwog die Alternativen. Ganz oben auf der Liste stand Weiterschlafen, was noch dazu den Vorteil hatte, dass ich dann nicht würde weiterdenken müssen. Unglücklicherweise würde derjenige, der die Menschen mit Reservoirkrankheiten umbrachte, nicht warten, bis ich mich am Riemen gerissen hatte, und falls irgendjemandem klar werden sollte, dass Kelly noch lebte, blieb uns wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit.
Natürlich bestand immer die Möglichkeit, dass unsere Zeit ohnehin abgelaufen war. Wenn Kellys ursprüngliche gefälschte Identität nicht sauber gewesen war, dann hatte man sie vielleicht auf ihrem Weg zu uns verfolgt. Das erklärte zwar nicht, warum man mit der Attacke gewartet hatte, bis sie bei uns eingetroffen war, aber vielleicht hatte sie bis dahin einfach nicht lange genug stillgehalten. Zumindest auf diesem Weg konnte man ihre Spur nun nicht mehr verfolgen. Ihre gefälschte Identität war nur noch ein Stückchen Schlacke in den Trümmern von Oakland, und niemand außer unserem Team wusste, dass sie noch lebte.
Jetzt mussten wir bloß dafür sorgen, dass es auch so blieb.
Der Ausbruch war vielleicht eine Reaktion auf meinen Anruf bei Dr. Wynne gewesen, aber eigentlich kam mir das unwahrscheinlich vor. Vom Ablauf her passte das nicht zusammen. Man brauchte Zeit, um einen Ausbruch dieses Umfangs zu inszenieren. Selbst wenn sie angefangen hätten, sobald man meinen Anruf zum Seuchenschutz durchgestellt hatte, wäre nicht genug Zeit geblieben, damit bei so vielen Leuten plötzlich an der richtigen Stelle Kellis-Amberlee ausbricht. Wer auch immer es auf uns abgesehen hatte – wenn es sich nicht um einen extrem unwahrscheinlichen Zufall handelte –, hatte das nicht alles in der Zeit zwischen meinem Anruf und dem Ausbruch bewerkstelligt.
Ich hob den Kopf, ächzte erneut und stand auf. Eine der Bulldoggen hatte aus meinem Hemd ein behelfsmäßiges Nachtlager gemacht, wahrscheinlich aus Rache dafür, dass ich das gesamte Sofa in Beschlag genommen hatte. Sie öffnete ein Auge, als ich mich näherte, und gab einen kleinen, schnaufenden Laut von sich, der vielleicht bedrohlich geklungen hätte, wenn sein Verursacher nicht die Größe einer übergewichtigen Hauskatze gehabt hätte. »Ist ja gut, Mann«, sagte ich und hob die Hände. »So kalt ist mir eh nicht.«
Alaric, Becks und Kelly hatten sich um den Küchentisch versammelt, als ich reingeschlurft kam, wobei ich einen halbherzigen Versuch unternahm, mein abstehendes Haar wenigstens ansatzweise zu glätten. Alle drei blickten auf. Becks hob die Brauen.
»Du siehst heute ja aus wie der Sonnenschein oben ohne«, bemerkte sie trocken. »Bist du zu dem Schluss gekommen, dass Kleider was für Weicheier sind?«
»Ein Hund hat mein Hemd geklaut«, antwortete ich. »Wo ist Maggie? Gibt es Kaffee? Wenn Maggie sich versteckt, weil sie allen Kaffee ausgetrunken hat, wird die Sache hässlich.«
»Ms Garcia ist draußen, äh, hinten im Garten«, sagte Kelly. Sie deutete mit sichtlichem Unbehagen zur Hintertür. Verständlich. Sie hatte sich wahrscheinlich noch nie zuvor in einem Privatanwesen aufgehalten, das einfach offen stand, sodass die schrecklich gruselige Außenwelt hereinkonnte. Manchmal glaube ich, dass George recht hatte, als sie meinte, dass die Menschen Angst haben wollen.
»Kaffee steht auf dem Herd«, sagte Alaric und fügte dann schnell hinzu: »Haben wir einen Plan, oder sitzen wir hier bloß rum, trinken Kaffee und warten ab, was als Nächstes passiert?«
»Das hängt vom Doc ab.« Ich trat an den Herd. Eine halb volle Kanne Kaffee stand auf der mittleren Platte. »Wir wissen, dass die gestrigen Vorfälle nicht einfach nur ein ungünstiges Zusammentreffen waren. Also lautet die Frage wohl, ob man hinter uns her war oder hinter dir, Doc.«
Schweigen senkte sich hinter mir über den Tisch. Ich nahm einen Becher aus dem Regal und schenkte mir Kaffee ein. Während ich wartete, dass jemand etwas sagte, nahm ich langsam und geduldig den ersten Schluck. Der Kaffee war fast noch heiß genug, um sich daran zu verbrühen, und schmeckte himmlisch. Wenn’s sein muss, trinke ich den ganzen Tag lang für George Cola, aber nichts ersetzt die erste Tasse Kaffee, um morgens in Gang zu kommen.
Schließlich sagte Kelly kleinlaut: »Dr. Wynne dachte, dass er mich rausbekommen würde, ehe jemand etwas über unseren Plan in Erfahrung bringen könnte. Da die meisten Angehörigen meines Teams tot waren, gab es nicht besonders viele Leute, die von dem Klon wussten oder davon, was wir mit ihm vorhatten. Die Flucht hätte absolut glattgehen sollen. Er hat gesagt … als ich weg bin, hat er gesagt, dass ihr wahrscheinlich ohnehin in Gefahr wärt, wegen …« Sie verstummte. Eine Menge Leute haben Probleme damit, in meiner Anwesenheit über das zu reden, was George passiert ist. Ich bin mir nicht sicher, ob das daran liegt, dass sie mich nicht daran erinnern wollen, dass ich abgedrückt habe, oder ob sie bloß nicht damit klarkommen, dass George noch immer hier bei mir ist. Vielleicht haben sie auch einfach keine Lust, sich eine einzufangen.
Das Warum spielt keine große Rolle für mich. Im Endeffekt kommt das Gleiche dabei heraus: George ist tot, und niemand will darüber reden.
»Du wusstest, dass wir uns in Gefahr befanden, noch bevor du bei uns angekommen bist?« Ich erkannte den warnenden Unterton in Becks’ Stimme. Sie hat als Newsie angefangen, weshalb sie Informationen ein wenig schneller verarbeitet als die meisten anderen Irwins. Ihre Worte klingen meist wohlüberlegt, und je wohlüberlegter sie klingen, in desto größerer Gefahr schwebt man. »Und du hast nichts gesagt?«
»Der Doc wird nicht getötet«, sagte ich und setzte mich an den Tisch. »Sie ist genauso am Arsch wie wir, also seid nett zueinander, ja? Sie trifft keine Schuld.«
Kelly nickte und wirkte dabei in erster Linie hilflos. »Ich habe ja versucht, es euch zu sagen. Drei Wochen lang habe ich euch Mails geschickt, bis wir schließlich an dem Punkt waren, an dem ich nicht weiter in Memphis rumhängen konnte.«
Die Spamfilter, sagte George leise.
Ich zuckte peinlich berührt zusammen.
»Eine gesicherte Telefonverbindung wäre in einer derart abgeschotteten Anlage wie der Seuchenschutzbehörde aufgefallen«, fuhr Kelly fort. »Nachdem Dr. Wynne mich rausgebracht hatte, fand ich mich halb betäubt hinten in einem Laster nach Kalifornien wieder. Für ein paar Tausend Kilometer hatte ich kaum einen Herzschlag. Jedenfalls war ich nicht in der Verfassung, um zu telefonieren.«
»Trotzdem hättest du uns als Erstes sagen können, dass es vielleicht besser wäre, uns zu verdrücken«, bemerkte Becks.
»Hättet ihr auf mich gehört?«
Becks wandte den Blick ab.
Kelly seufzte. »Das dachte ich mir. Hört mal: Ich hatte keine Ahnung, dass die Lage sich so schnell verschlimmern würde. Im Labor funktioniert die Welt anders. Dort geht alles langsamer.« Zitternd atmete sie durch und kam ein wenig zur Ruhe. »Unser Forschungsteam bestand nur noch aus drei Personen, als uns klar wurde, dass niemand von uns sicher war. Wir mussten irgendjemanden lebend da rausbringen, wenn wir unsere Ergebnisse retten wollten. Dr. O’Shea wollte das Risiko nicht eingehen, und Dr. Li hat Familie. Nur ich kam infrage. Also ging ich zu Dr. Wynne.«
»Und er hat dich klonen lassen«, stellte ich fest. »Ist doch klar. Warum ist mir das nicht auch gleich eingefallen?«
»Es musste so aussehen, als ob ich tot wäre – das war meine einzige Chance, mit unseren Forschungsergebnissen davonzukommen. Dr. O’Shea arbeitete an einer Studie zum Nervensystem, für die sie komplette menschliche Körper brauchte. Sie hat den Klon hergestellt. Vorgeblich handelte es sich um ihre eigene DNA.«
»Und der Austausch fand erst bei den Labortechnikern statt?«, fragte Alaric, der mit einem Mal aufgemerkt hatte. Er wachte immer auf, wenn etwas anfing, nach einer Schlagzeile zu klingen.
»Ja«, sagte Kelly. »Ein Praktikant hat das Genmaterial an einen anderen weitergegeben, der es einem Labortechniker gegeben hat. Den hat Dr. Wynne dann gebeten, etwas für ihn zu erledigen, und ab da war es nicht weiter schwer, das Genmaterial aus dem Brutkasten zu nehmen und stattdessen welches von mir hineinzutun.«
Frag sie, warum es auf die Herkunft der DNA ankommt, drängte mich George.
»Stimmt«, murmelte ich und sagte dann beiläufig: »Warum ist es wichtig, woher die DNA stammt? Ich dachte, der Seuchenschutz wäre von dem Klonverbot ausgenommen?«
»Klonen ist aus moralischen Gründen verboten. Die Sondergenehmigung der Seuchenschutzbehörde gestattet das Klonen ganzer Menschen zu Forschungszwecken, und die dadurch aufgeworfenen ethischen Fragen werden umgangen, indem nur die Selbstklonierung gestattet wird«, erklärte Kelly. »Dadurch kann man die Frage, ob der Klon eine Seele hat, geflissentlich übergehen, und die religiösen Organisationen sehen keinen Grund, gegen uns vorzugehen.«
»Weil sie meinen, dass es nur eine Seele pro Gencode gibt und der Spender die Urheberrechte hat?«, fragte ich. Kelly nickte. Ich schnaubte. »So einen lustigen bürokratischen Zaubertrick habe ich ja lange nicht gesehen. Na schön, sie denken also, dass sie diese andere Frau geklont hätten, obwohl das in Wirklichkeit du warst. Und warum sollten sie nicht zwei und zwei zusammenzählen, wenn sie die Originalverpackung aufmachen und nichts drin ist?«
»Dr. O’Shea ist vor zwei Wochen gestorben. Ihr Auto hatte eine elektronische Fehlfunktion, und sie hat mitten auf dem Freeway die Kontrolle über das Fahrzeug verloren.« Kelly schaute mich an und bleckte die Lippen zu einem Totenschädelgrinsen. »Es war wirklich tragisch. Unsere Vorgesetzten haben sogleich ihr Beileid ausgesprochen und uns wissen lassen, dass sie uns bei dem Wechsel zu neuen Projekten unterstützen würden, wenn wir unser Forschungsprogramm einstellen wollten. Da das Original tot war, wurde die sofortige Vernichtung ihres Klons angeordnet. Offiziell wurde er vier Tage vor meinem ›Tod‹ zerstört.« Nach kurzem Zögern fügte sie leise hinzu: »Einen Tag danach kam Dr. Li bei einem Laborunfall ums Leben.«
»Wie kommt es, dass ein Klon zu wenig niemandem aufgefallen ist?«
Mit einem Schulterzucken schüttelte Kelly ihren Kummer ab. »Klone werden als Laborabfall betrachtet. Sie können von jedem entsorgt werden.«
»Also hast du den nicht existenten Klon entsorgt.«
»Genau.«
»Was hab ich verpasst?«, fragte Maggie, die soeben mit einem Korb Tomaten auf dem Arm hereinkam. »He, Shaun, du bist auf. Kann ich dir was bringen? Toast? Omelett?«
»Ein Omelett wäre toll, und du bist gerade rechtzeitig gekommen, um die Erklärung vom Doc zu hören, wie sie ihren Klon heimlich aus der Kältekammer geholt und wie ein Hühnchen geschlachtet haben, damit sie zu uns kommen und uns Probleme machen konnte.« Ich trank erneut von meinem Kaffee, hielt dann inne und verzog das Gesicht. »Übrigens, hast du Cola?«
Alaric und Becks wechselten einen Blick. Maggie nickte bloß und sagte: »Eine Sekunde, ich hole dir gleich welche«, während sie die Küche durchquerte und mit den frisch geernteten Tomaten hantierte. »Redet weiter, Leute! Ich werde schon den Anschluss finden.«
»Wunderbar.« Ich blickte zu Kelly. »Erzähl weiter, Doc! Der Tag wird nicht jünger, und dank dir ist Zeit ziemlich kostbar für uns geworden.«
»Mein Klon wurde nicht wie ein Hühnchen geschlachtet«, gab sie zurück. »Dr. Wynne kennt gewisse Leute. Profis. Er hat sie dafür angeheuert, einzubrechen und den Klon zu erschießen, nachdem wir ihn entkorkt hatten. Sie haben uns garantiert, ihn mit einem Schuss zu töten. Er hatte keine Zeit zum Leiden.«
»Und dann bist du zu uns gerannt.«
»Und dann bin ich zu euch gerannt.« Kelly schaute weg. Als ihr Blick auf die geöffnete Tür fiel, verzog sie das Gesicht und beschloss, stattdessen ihre Knie zu betrachten. »Deine … es gab eine Menge Unterlagen über den Verlauf von Georgia Masons retinalem Kellis-Amberlee. Durch die außergewöhnlichen Umstände, unter denen ihr beide aufgewachsen seid, wurde die Erkrankung so detailliert wie selten dokumentiert.«
»Was genau meinst du damit?«, fragte Maggie, die gerade einen Kessel Wasser aufsetzte.
»Sie meint, dass während unserer Kindheit ständig Kameras auf uns gerichtet waren und dass man uns ständig auf Herz und Nieren untersucht hat, damit wir mit unseren Alten in die Sperrzonen konnten.« Ich sah Kelly an, die noch immer auf ihre Knie schaute. »Das hat George zu einer prima Fallstudie gemacht, für die man keine nervigen kleinen Genehmigungsformulare brauchte.«
»M-hm«, machte Kelly und blickte auf. »Und dich macht es auch zu einer exzellenten Fallstudie.«
»Mich?«
Dich, bestätigte George. Ausgedehnter Kontakt mit jemandem, der an einer Reservoirkrankheit leidet, ist schon ungewöhnlich genug, aber dass du auch noch mein …
» … macht deine Immunreaktionen überaus interessant«, sagte Kelly, deren Worte sich mit der Stimme in meinem Kopf überlappten und sie schließlich verdrängten. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht aufzuspringen. Meine Hand zitterte so sehr, dass der Kaffee beinahe überschwappte. Ich stellte meinen Becher auf den Tisch. Kelly schien es nicht aufzufallen. »Wir hätten dich noch im Laufe des Jahres darum gebeten, vorbeizukommen und dich einigen Tests zu unterziehen, wenn man unsere Studie normal hätte weiterlaufen lassen. Nur um festzustellen, ob es irgendwelche grundlegenden Anomalien gibt, die erklären, warum sich bei ihr retinales Kellis-Amberlee entwickelt hat und bei dir nicht. Natürlich besteht nach Georgias Tod die Möglichkeit, dass derjenige, der Leute mit Reservoirkrankheiten umbringt, jetzt hinter dir her ist statt hinter ihr. Wir kennen sein Motiv nicht.«
»Wenn man also Shauns möglicherweise versautes Immunsystem mit all unserem Videomaterial und unserer bekannten Verbindung zu dem Forschungsteam zusammennimmt, macht uns das zu einem Angriffsziel, hab ich das richtig verstanden?«, fragte Becks. »Willst du einen Rat für die Zukunft? Mit solchen Dingen sollte man am besten gleich herausrücken. ›Hi, schön euch zu sehen, ich habe gerade meinen eigenen Tod vorgetäuscht, und übrigens, die Leute, die mich tot sehen wollen, sind wahrscheinlich auch hinter euch her.‹«
»Ja«, sagte Maggie fröhlich, während sie Eier in die Pfanne schlug. »Das hätte Dave vielleicht das Leben gerettet.«
»Das ist nicht fair«, warf Kelly ein.
Maggie ignorierte sie. »Zwei Eier oder drei, Shaun?«
»Drei, bitte. Ich glaube kaum, dass wir groß zum Mittagessen kommen werden.«
»Gut. Willst du ihre Leiche noch heute Nacht im Wald hinter meinem Haus begraben, oder behältst du sie noch ein bisschen zu Informationszwecken?« Die Frage klang ebenso freundlich wie die vorangegangene. Maggies Tonfall war nicht anzumerken, ob sie Kellys Ermordung mehr oder weniger Bedeutung beimaß als meinem Omelett.
So ist Maggie manchmal. Sie hat ihre Erziehung weitgehend hinter sich gelassen, aber manchmal benimmt sie sich noch wie ein verwöhntes reiches kleines Mädchen, dessen Reaktion auf alles, was ihm nicht gefällt, darin besteht, sich dessen augenblicklich zu entledigen.
Es ist besser, sich nicht mit ihr zu streiten, wenn sie in dieser Stimmung ist. »Informationszwecke. Aber ich verspreche, dir Bescheid zu geben, wenn sich daran etwas ändert«, sagte ich. Kelly erblasste. Ich kam zu dem Schluss, dass es am höflichsten wäre, einfach nicht darauf zu achten. »Irgendwelche Neuigkeiten aus Oakland?«
»Daves Todesanzeige ist vor etwa einer Stunde online gegangen«, sagte Alaric leise.
»In Ordnung.« Seufzend schaute ich auf meinen Kaffee. »Wie sehen unsere Zugriffszahlen aus?«
»Weltweit sind sie um fünf Prozent gestiegen, Daves Beiträge um fünfunddreißig Prozent, und wir haben drei Anfragen von Privatsendern für das Material, das er letztes Jahr in Alaska geschossen hat.« Diesmal klang Alarics Stimme sehr viel bestimmter. Das war kein Wunder. Neben Mahir verfolgt niemand unsere Quoten so sorgfältig wie Alaric.
»Hat Maggie euch über unsere Tarngeschichte ins Bild gesetzt?« Alle nickten. »Gut. Hat schon einer von euch was auf seinem Blog geschrieben?« Alle schüttelten die Köpfe. »Weniger gut. Ihr müsst alle online gehen. Wir haben unsere Zelte in Santa Cruz aufgeschlagen, unsere Wohnung ist in die Luft geflogen, wir sind erschüttert, wir bleiben noch ein paar Tage im Feld, um uns von dem Schreck zu erholen. Maggie, ich will, dass du deutlich machst, dass du allein hier bist. Häng irgendein Gedicht dran, das ich nicht verstehe, mit einem Haufen gruseliger Todesmetaphern – das Übliche –, und besonders gut wäre es, wenn du die Anzahl deiner Sicherheitsleute verdoppeln könntest. Niemand verliert ein Wort über den Doc. Sie ist nicht hier.«
»Bin schon dabei«, sagte Maggie. Sie kam zu mir, drückte mir eine Dose Cola in die Hand und stellte den Teller mit meinem Omelett neben meine leere Kaffeetasse.
»Gut. Becks …«
»Ich soll glaubwürdiges Videomaterial beschaffen, auf dem wir draußen sind.« Sie nahm ihren Teller. »Ich mache den Wagen klar.«
»Gut. Alaric …«
»Grundlegende Analyse der Oakland-Tragödie und ein kurzer Nachruf auf Dave.« Er erhob sich, noch während er die Worte sprach. Seine Miene verriet, dass er in Gedanken schon ganz woanders war. »Ich müsste schnell genug etwas zusammenbasteln können, um den Schaden in den Foren zumindest zu begrenzen.«
»Hervorragend. Und was machen wir mit dem Doc?«
»Ich dachte mir schon, dass du das fragen würdest.« Ein selbstgefälliger Ausdruck trat für einen Moment auf Alarics Gesicht. Er mag es, wenn er alles im Griff hat. »Ich habe Buffys Vorrat vorgefertigter Identitäten durchsucht. Kelly sieht Buffy ähnlich genug, um die meisten davon zu verwenden.«
»Hat irgendeine davon medizinische Qualifikationen?«
»Nicht im engeren Sinne medizinisch, aber drei sind Wissenschaftlerinnen. Ich habe eine Ichthyologin – eine Fischforscherin«, fügte Alaric hinzu, als er meinen verständnislosen Blick bemerkte. »Und eine Physikerin und eine Psychologin.«
»Psychologie hatte ich als Nebenfach«, sagte Kelly, die erleichtert wirkte, etwas zu dem Gespräch beitragen zu können. »Praktiziert habe ich nie, aber notfalls kann ich das vortäuschen.«
»Großartig. Alaric, mach die Identität einsatzbereit, sorg dafür, dass sie oberflächlichen Überprüfungen, zu denen es aller Wahrscheinlichkeit nach kommen wird, standhält, und sieh dann weiter. Du bist nach wie vor ein Doktor, Doc. Wir stellen dich als Ersatz für Dave ein, sobald wir in die Zivilisation zurückkehren.« Kelly wirkte leicht beunruhigt. Ich grinste. »Keine Bange. Mahir wird deine Artikel für dich schreiben, und wir veröffentlichen sie unter – unter welchem Namen werden die Artikel veröffentlicht, Alaric?«
»Barbara Tinney.«
»Großartig. Wir veröffentlichen sie unter dem Namen Barbara Tinney. Das verstärkt den Eindruck, dass es sie wirklich gibt … und wir können dich in der Öffentlichkeit weiter Doc nennen.«
»Du spinnst«, verkündete Becks.
»Und du trägst acht Pistolen«, erwiderte ich. »Können wir jetzt zu den Sachen kommen, die nicht schon bekannt sind? In meinem nächsten Artikel verliere ich ein paar Worte über Dave und darüber, welche Ehre es für uns war, mit ihm zusammenzuarbeiten, rhabarber rhabarber blablabla.« Ich wedelte unbestimmt mit der freien Hand herum, bevor ich die Coladose aufmachte und einen tiefen Zug nahm. Die beißende Süße traf auf meinen Gaumen wie ein Schlag. Ich würgte ein bisschen, holte dann wieder Luft und beendete meine Ansprache: »Ich gehe ins Mitarbeiterforum und gebe den anderen die gekürzte Version des Lageberichts. Um zehn müsst ihr mit euren Artikeln fertig und abreisebereit sein.«
»Wohin geht es?«, fragte Kelly, die anscheinend nicht wusste, ob sie erleichtert darüber sein sollte, von Maggie wegzukommen, oder ob sie sich Sorgen darüber machen sollte, was ihr als Nächstes bevorstand.
»Und warum gerade jetzt?«, fragte Alaric.
Ich konnte ihm die Frage nicht verdenken. Er war nicht dabei gewesen, als wir Buffy verloren hatten, und auch nicht, als George gestorben war. Ich holte tief Luft, hielt den Atem lange genug an, um mir sicher zu sein, dass ich ruhig antworten konnte, und sagte: »Wenn wir hier rumsitzen, bis wir bereit sind abzuhauen, dann werden wir hier nie wieder abhauen. Wir werden es uns gemütlich machen und hierbleiben, bis wir sterben. Wir wollen zwar nicht unvorbereitet losrennen, aber es gibt einen schmalen Grat zwischen diesen beiden Extremen, und wenn wir den nicht finden, sind wir am Arsch. Und was die Frage betrifft, warum wir von hier verschwinden …« Mit einem gefährlichen Lächeln wandte ich mich Kelly zu. »Das wird unser Doc mir gleich erzählen.«
»Ich?«, fragte sie überrascht.
»Du. Komm schon! Wir gehen an den Computer im Wohnzimmer, und dort erklärst du mir alles, was ich nicht selbst aus diesen wundervollen Papieren schließen kann, die du uns mitgebracht hast.« Ich nahm mein Omelett und fügte hinzu: »Ihr wisst, was ihr zu tun habt, Leute. Zwei Stunden. Dann müsst ihr so weit sein.«
Kelly folgte mir ins Wohnzimmer und setzte sich neben mich an den Schreibtisch. »Kopf hoch! Immerhin bist du nicht vom Regen in der Traufe gelandet. Sondern eher vom Regen ins Säurebad.«
»Ich verstehe das nicht.« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Das ist unsere Chance unterzutauchen. Warum tun wir nicht genau das?«
»Und wo sollten wir hin? Nach Kanada? Dort werden wir keine Antworten finden. Ich vertraue darauf, dass Maggies System uns von der Bildfläche verschwinden lässt, solange wir hier sind, und wer auch immer die Auslöschung von Oakland arrangiert hat, wird es beim zweiten Mal nicht so leicht haben, die Sache unter den Teppich zu kehren. So schlecht bin ich nicht in meinem Job, in Ordnung?« Mit einem verblassenden Lächeln tippte ich mir an den Kopf. »Ein paar der grauen Zellen hier oben funktionieren noch.«
»Ich wollte nicht behaupten …«
»Fang gar nicht erst an! Es ist besser für meine Laune, wenn du gar nicht erst anfängst.« Ich wandte mich wieder der Tastatur zu. Der Computer schaltete sich ein, sobald seine Sensoren »sahen«, dass ich ihn anschaute, und ich tippte mein Passwort ein, um das Hausnetzwerk zu entsperren.
»Verstanden«, sagte Kelly. Sie klang nicht gerade begeistert, aber das war derzeit meine kleinste Sorge.
»Gut.« Maggies gesamte Computerausrüstung war erstklassig. So ist das, wenn man nicht nur reiche Eltern hat, sondern zu Anfang auch noch Hilfe von Buffy Meissonier. »Nachdem ihr andern zu Bett gegangen seid, habe ich ein paar Stunden damit verbracht, die Unterlagen durchzusehen, die du uns gestern Abend mitgebracht hast. Ich habe zwar nicht mal die Hälfte von dem, was ich gelesen habe, verstanden, aber George konnte mir ein paar Sachen erklären.«
Kellys Miene wurde starr, als kämpfte sie gegen den Drang an, mich darauf hinzuweisen, dass George mir nichts erklären konnte, weil sie – na so was! – tot war. Diesen Gesichtsausdruck habe ich seit Georges Beerdigung oft gesehen. Solange sie sich zurückhalten konnte und nichts sagte, konnte ich mich zurückhalten und meine Wut darüber unterdrücken, dass sie eigentlich etwas sagen wollte.
»Tatsächlich«, sagte sie schließlich in einem neutralen Tonfall, der so ziemlich alles hätte bedeuten können.
Damit gab ich mich zufrieden. »Tatsächlich«, bejahte ich. »Mich würde die Liste der Labore interessieren. Wie viele von denen können wir gefahrlos aufsuchen? Wo können wir die nötige Feldforschung erledigen, um die Gleichung zu lösen?« Durch Kellys Unterlagen standen uns Zahlen zur Verfügung, aber der Rest des Gesamtbilds fehlte. Wenn wir durchblicken wollten, mussten wir mit jemandem sprechen, der unser Datenmaterial bestätigen oder widerlegen konnte – und wenn man den Seuchenschutz schon so lange, wie Kelly behauptete, von der Forschung an Reservoirkrankheiten abgehalten hatte, dann gab es in den Laboren auf unserer Liste vielleicht Puzzleteile, von deren Existenz wir noch nicht einmal wussten.
»Alle Labore auf Liste A haben Forschungsleiter, mit denen irgendwann mal jemand aus unserem Team direkt zusammengearbeitet hat, entweder bevor oder nachdem sie in den Privatsektor abgewandert sind.« Jetzt, wo Kelly es mit klaren Fakten anstelle von verrückten Reportern zu tun hatte, klang sie sehr viel entspannter. »Auf Liste B stehen die Labore, in denen jemand persönliche Erfahrungen mit den Mitarbeitern gemacht hat, aber nicht mit dem Forschungsleiter, und Liste C besteht aus den Laboren, über deren Mitarbeiter jemand von uns nur Informationen aus zweiter Hand hatte. Hörensagen, akademischer Ruf, ob sie sich die Mühe machen, ihre Quellen zu prüfen …«
»Was ist mit Liste D?« Während ich redete, bewegte ich die Finger auf der Tastatur und schüttete Zeile um Zeile hirnrissiges Geschwafel aus. Es war der Tag nach dem Todesfall. Man erwartete Neuigkeiten von uns – nichts konnte uns von dieser Pflicht befreien, nicht einmal das Sterben: Georges Blog hatte nach ihrem Tod zwar den Namen gewechselt, aber aufgrund der Beiträge, die sie noch auf Vorrat gehabt hatte, war er letztlich nicht mal eine Woche offline gewesen. Man erwartete allerdings nicht von uns, besonders tiefschürfend zu sein.
»Ach!« Als ich Kellys verächtlichen Tonfall hörte, warf ich ihr einen kurzen Blick zu. Ihre Lippen waren zu einer angewiderten Grimasse verzogen. »Das sind die Labore, von deren Mitarbeitern wir wissen, dass sie ihre Forschung in eher unethischer Weise vorantreiben.«
»Wie, mit Vivisektionen? Mit menschlichen Laborratten?« Ich vollendete meinen ersten Beitrag des Tages und klickte auf »veröffentlichen«. Dann wechselte ich auf die Administrationsebene und begann erneut zu tippen, während ich hinzufügte: »Durch das Klonen ganzer Menschen?«
»Beim Seuchenschutz ist das etwas anderes«, sagte sie mit schneidender Stimme. »Wir haben eine Sondergenehmigung.«
»Und?« Ohne beim Tippen innezuhalten zuckte ich mit den Schultern. »Deshalb ist es noch lange nicht richtig. Wie viele der Labore auf Liste D stünden auf Liste A, wenn man sich kein moralisches Urteil anmaßt?«
Kelly seufzte. »Zwei, höchstens.«
»In Ordnung. Ist eines davon hier in der Nähe?«
Entsetzt hielt sie inne, als sie begriff, was ich von ihr verlangte. »Shaun, du begreifst das nicht! Es gibt viele gute Gründe dafür, dass diese Leute in wissenschaftlichen Kreisen in Verruf sind, und nicht alle davon sind derart nichtig, wie du zu glauben scheinst. Das sind keine heimlichen Helden, die irgendeine Art Guerillakrieg gegen den bösen Seuchenschutz führen – es sind Bioterroristen und Verrückte, und sie sind gefährlich. Uns könnte ernsthaft etwas zustoßen, wenn wir uns an diese Leute wenden. Wir könnten ums Leben kommen.«
»Ums Leben kommen könnten wir auch, wenn wir hierbleiben. Ich sehe da im Endeffekt keinen Unterschied.« Ich trank einen weiteren Schluck aus Georges Cola. »Deine Einwände wurden zur Kenntnis genommen. Können wir irgendwelchen dieser Leute vertrauen? Überhaupt jemandem? Oder picke ich einfach nach dem Zufallsprinzip jemanden heraus und hoffe, dass er nicht am Frankenstein-Ende der Wahnsinnige-Wissenschaftler-Skala ist?«
Kelly schluckte und musste sich sichtlich überwinden, mir zu antworten. Schließlich sagte sie: »Dr. Abbey. Ich habe Teile ihrer Arbeit über Reservoirkrankheiten gelesen, bevor sie von der Bildfläche verschwunden ist. Ich glaube, sie könnte uns helfen.«
»Bestens. Wo ist sie?«
Kelly seufzte. »In Portland in Oregon.«
»Das ist eine fünf- bis sechsstündige Fahrt, wenn wir keine Umwege machen.« Ich nahm einen weiteren Schluck Cola. »Nervig, aber zu schaffen. Was war das große Verbrechen, für das man sie auf die Schwarze Liste gesetzt hat?«
»Unethische Experimente, bei denen sie unter anderem an Kellis-Amberlee herumgebastelt hat. Glücklicherweise ohne menschliche Versuchsobjekte, sonst säßen sie und ihr Stab für den Rest ihres Lebens im Bundesgefängnis ein.«
»Es wundert mich, dass sie nicht trotzdem im Gefängnis sitzen. Was hatte sie denn so an belastendem Zeug in der Hand?«
»Genug.« Kelly schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht viel darüber – das war alles vor meiner Zeit. Jedenfalls hat sie für Kanada gearbeitet, in einer kanadisch-US-amerikanischen Forschungsgruppe. Es sind ein paar schlimme Sachen passiert, und sie hat gekündigt. Seitdem achtet sie sehr genau darauf, wen sie in die Nähe ihrer Forschungsarbeit lässt.«
»Pass besser auf, Doc! Das klang fast schon nach Respekt.«
»Es gefällt mir, wenn jemand seine Arbeit ernst nimmt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Dr. Abbey war fest entschlossen, herauszufinden, was es mit Kellis-Amberlee auf sich hat.«
»Irgendjemand muss es ja versuchen.« Ich wandte mich wieder der Tastatur zu. »Versuch besser rauszufinden, ob Maggie was zum Anziehen für dich hat, Doc. Wir machen einen Ausflug.«
Wir haben es lebend aus Oakland rausgeschafft. Ich bin mir zwar immer noch nicht sicher, wie wir es angestellt haben, abgesehen davon, dass in meinem Team einige der besten Leute sind, die ich jemals kennengelernt habe – wahrscheinlich viel zu gut für mich. Ständig komme ich lebend irgendwo raus. Ich glaube, das Universum will mich verarschen.
Während der Evakuierung habe ich etwas getan, was man niemals tun sollte. Ich bin Georges Black Box holen gegangen. Und ich würde es wieder tun. Weil ohnehin schon viel zu wenig von ihr in dieser Welt zurückgeblieben ist, und langsam gehen mir die Dinge aus, an denen ich mich festklammern kann.
Scheiße, sie fehlt mir.
Aus Anpassen oder Sterben, dem Blog von Shaun Mason, 12. April 2041, unveröffentlicht.
Zu dieser Jahreszeit ist Santa Cruz einfach atemberaubend schön. Ich weiß zwar, dass es sich um eine zombieverseuchte Wüste handelt, aber zum Teufel auch, immerhin zahlt man kaum Miete, oder? Außerdem gibt es gute Gründe dafür, dass das hier mal einer der beliebtesten Ferienorte in den Vereinigten Staaten war, und das hatte wahrscheinlich nicht viel mit den Spazierwegen zu tun, auch wenn das vielleicht in den Broschüren für Touristen steht.
Wir sind nach wie vor damit beschäftigt, Alaric auf seine Feldprüfung vorzubereiten. Als Nächstes fährt Becks mit ihm an den Strand runter, um eine Zombierobbe zu suchen, die sie anpiksen können. Hier wird es eben nie langweilig. Na ja. Immer noch besser als ein Schreibtischjob.
Aus Anpassen oder Sterben, dem Blog von Shaun Mason, 12. April 2041.