17

Fünf Tage vergingen ohne große Vorkommnisse. Becks und ich gingen im Wald vor der Stadt schießen, wobei wir ein Rudel von Menschen- und Kuh-Zombies aushoben. Sobald Kellis-Amberlee das Ruder übernommen hat, spielt die Spezies keine Rolle mehr. Maggie verbrachte viel Zeit damit, Gedichte zu schreiben, in ihrem Garten Unkraut zu jäten und Kelly aus dem Weg zu gehen, die Dr. Abbeys Forschungsergebnisse auf dem Esszimmertisch ausgebreitet hatte und unablässig unverständliches Zeug vor sich hin murmelte. Alaric hing bei ihr rum, hörte zu, machte sich Notizen und nickte viel. Mir lief es dabei kalt den Rücken runter, auch wenn es nur um graue Theorie ging.

Diese fünf Tage waren womöglich die letzten guten unseres Lebens. Vielleicht hatte das Universum meinen Wunsch draußen im Garten erhört. Ich weiß es nicht. Ich weiß bloß, dass ich um ein bisschen Zeit zum Ausruhen gebeten hatte und sie wie durch ein Wunder auch wirklich bekam. Nichts flog in die Luft. Es gab keine Ausbrüche und keine Notfälle, nichts, was uns von der schwierigen Aufgabe ablenkte, uns wieder zu einem Team zusammenzuraufen. Die Stunden wurden zu Tagen, und die Tage gingen ineinander über und unterschieden sich nur durch die Forenaktivitäten und die Berichte, die wir veröffentlichten, voneinander.

Kelly setzte ihre Reihe von Gastbeiträgen unter dem Namen Barbara Tinney fort. Sie waren nicht gerade ein Renner, aber durchaus beliebt überraschenderweise. Ich vergesse immer wieder, wie sehr die Leute nach Rechtfertigungen für ihre Geisteskrankheiten suchen. Die Einkünfte aus Kellys Kolumne flossen direkt an Maggie, wodurch sie der Bezahlung von Kost und Logis zugutekamen. Maggie winkte verächtlich ab, als sei das keine große Sache. Das Geld nahm sie trotzdem und linderte dadurch mein schlechtes Gewissen dafür, dass wir ihr zur Last fielen.

Becks zog ins Arbeitszimmer. Sie meinte, dass die Luftmatratze besser für ihren Rücken wäre als das Sofa für meinen. Das bedeutete, dass ich ins Gästezimmer ziehen durfte, was eine Erleichterung war, weil ich im Wohnzimmer nicht richtig schlafen konnte. Und ich brauchte Schlaf. Jede Nacht, wenn ich zu Bett ging, schwirrte mir der Kopf von wissenschaftlichen Theorien, und jeden Morgen nach dem Aufwachen machte ich mich daran, noch etwas mehr hineinzuzwängen. Ich musste die Daten verstehen, die Dr. Abbey uns überlassen hatte. Wichtiger noch, ich musste die Forschung verstehen, zu der Mahir hoffentlich gerade einen englischen Professor überredete. Wenn ich schon Leute losschickte, damit sie sich für mich umbringen ließen, musste ich Himmel noch mal wenigstens verstehen, wofür sie starben. Von allen Versprechen, die ich ihnen hätte geben können, würde ich dieses hoffentlich halten können.

Wenn ich nicht am Pauken war, telefonierte ich. Mein Team von Reportern mochte klein sein, aber immerhin hatten wir gute Kontakte, und jetzt war es an der Zeit, auf sie zurückzugreifen. Ricks Aufstieg vom Newsie zum Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten ist weder für einen Journalisten noch für einen Politiker die übliche Laufbahn, aber für ihn war das so echt gut gelaufen. Also rief ich in seinem Büro an, anfangs zweimal am Tag, bis mir klar wurde, dass er nicht zurückrufen würde. Das passte ganz und gar nicht zu ihm. Kein bisschen. Und das machte mir Sorgen.

Die Tage nahmen ihren Lauf. Alaric begann eine Artikelserie über den Aufstieg des digitalen Profilings und seine Anwendung im medizinischen Bereich. Becks fuhr auf der Suche nach Zombies, die sie vor laufender Kamera terrorisieren konnte, nach Washington und kehrte mit Schmauchspuren, einer Reihe von Schrammen und doppelt so vielen Artikeln über ihre Abenteuer zurück. Als ich den ersten davon las, schnürte es mir die Kehle zu ein halbes Dutzend Gefühle tobten in meinem Kopf, die sich nur schwer in Worte fassen ließen. Normalerweise war ich derjenige, der im Wald rumrannte, mit den Zombie-Rehen Fangen spielte und alle diese Geschichten von Truckern sammelte, die sich noch daran erinnerten, was während des Erwachens auf den Straßen los gewesen war. Mehr hatte ich mir nie vom Leben versprochen. All das hatte sich mit Georges Tod geändert. Manchmal lese ich Becks’ Artikel und frage mich, ob der Mann, der ich einmal gewesen bin, das, was aus mir geworden ist, überhaupt wiedererkannt hätte. Ich glaube nicht, dass er mein neues Ich besonders gemocht hätte.

Ich mag es jedenfalls nicht.

Ich erzählte Mahir und Maggie von der Funkstille bei Rick, und wir waren uns darin einig, darüber fürs Erste mit niemandem zu reden. Es waren ohnehin schon alle verängstigt genug. Maggies Fiktive waren auch nicht besonders hilfreich. Irgendwann hatte sie mindestens der Hälfte von ihnen erzählt, dass die Luft nun wieder rein wäre. Sie kamen ohne Vorwarnung vorbei und standen plötzlich in der Tür oder in der Küche, als wären sie schon die ganze Zeit da gewesen. Meistens brachten sie Pizza oder Kekse mit oder Samosas. Zwei Drittel von ihnen hatte ich noch nie zuvor gesehen, obwohl sie alle offiziell bei uns mitarbeiteten. Sie schlichen wie auf Eierschalen um uns herum, locker waren sie nur in Maggies Gesellschaft, und nach einer Weile fingen wir an, bei ihren Besuchen unsere Ausrüstung zu reparieren oder zum Einkaufen nach Weed zu fahren. Wenn sie erst einmal mit ihren Grindhouse-Partys anfingen, konnten sie Stunden damit zubringen, billige Horrorfilme aus der alten Zeit zu schauen und dabei tonnenweise Popcorn in sich hineinzustopfen. Mir war nicht klar gewesen, wie ungesellig ich geworden war, bis die Fiktiven über uns herfielen und mein einziger Gedanke darin bestand, mich so schnell wie möglich zu verdrücken.

Die Wanze in der Seuchenschutzbehörde Portland förderte nichts Brauchbares zutage. Entweder man hatte sie gefunden und zerstört, oder sie hatte die Dekontaminierung nicht überstanden. Eine weitere Informationsquelle für den Arsch. Die Würmer, die Alaric in Oakland aktiviert hatte, schlugen sich etwas besser. Immer wieder fanden sie alte Forschungsunterlagen und kurzlebige Projekte in den Eingeweiden des einen oder anderen Servers. Wir fügten ihre Ergebnisse unserem Datenmaterial hinzu und arbeiteten weiter.

Mahir hatte ein paar Londoner Wissenschaftler aufgetrieben, die bereit waren, über unser Anliegen zumindest mit ihm zu sprechen. Ihre Namen nannte er uns nicht, und ich bohrte nicht nach. Es gab Dinge, die ich besser nicht wissen sollte. Es schien recht gut zu laufen, zumindest am Anfang, aber ab dem zweiten Tag rief er nicht mehr an und schrieb auch keine E-Mails. Seine Beiträge gingen nach wie vor termingerecht online, und er erledigte auch seine Arbeit in den Foren von außen betrachtet schien alles in bester Ordnung zu sein , aber er hielt nicht wie sonst den Kontakt.

Setz ihn nicht unter Druck, sagte George. Ich hörte auf sie, wenn auch mehr aus Gewohnheit, als weil ich ihrer Meinung gewesen wäre. Sie lag normalerweise richtig, wenn es darum ging, ob ich besser abwarten und wann ich vorpreschen sollte. Ich war mir nur nicht sicher, wie lange ich mich noch gedulden konnte.

Das Warten hatte etwas über zwei Wochen nach der Zerstörung von Oakland und unserer Ankunft bei Maggie ein Ende. Das Festnetztelefon klingelte. Keiner der Anwesenden Maggie, der Doc und ich beachtete es. Doc quälte sich gerade mit einem Artikel darüber ab, ob man Kinder der Außenwelt aussetzen sollte oder nicht. Ohne Mahirs Hilfe fiel es ihr sehr viel schwerer, ihre Abgabetermine einzuhalten.

Der Anrufbeantworter ging nach dem zweiten Klingeln ran. Ein paar Minuten lang herrschte Stille, gefolgt von der höflichen Stimme des Hauscomputers, die sagte: »Entschuldige, Shaun! Hast du einen Moment Zeit?«

Ich hasse Maschinen, die wie Menschen klingen.

»Lass mich in Frieden«, brummte ich. Der Hauscomputer hatte gelernt, mich zu ignorieren, wenn ich leise redete wahrscheinlich haben sogar Maschinen eine Lernkurve im Umgang mit Verrückten und wartete weiter auf meine Antwort. »Ja, klar«, sagte ich. »Was gibt’s?«

»Ein Anruf für dich.«

»Das habe ich mir gedacht. Wer ist dran?«

»Der Anrufer hat es abgelehnt, sich zu identifizieren. Nach seinem Akzent zu urteilen besteht eine siebenundachtzigprozentige Chance, dass er britischer Nationalität ist, obwohl ich seine Herkunftsregion nicht mit Sicherheit bestimmen kann. Bei dem Anruf handelt es sich allerdings um ein Ortsgespräch. Die genaue Nummer ist unterdrückt. Möchtest du weitere Informationen?«

Ich stand so hastig auf, dass ich meine Cola dabei umstieß. Schäumende Flüssigkeit lief von der Tischplatte auf den Teppich. Ich achtete nicht darauf und stürzte ans Telefon neben der Küchentür. Maggie folgte mir dichtauf und fragte: »Haus, ist es eine abhörsichere Verbindung?«

»Dieses Ende der Leitung ist gemäß Protokoll vier geschützt, was ausreichen sollte, um jeden Abhörversuch mit Ausnahme einer im Raum angebrachten Wanze zu blockieren. Den Sicherheitsstandard des anderen Gesprächsteilnehmers kann ich nicht ermitteln. Möchtest du fortfahren?« Der Tonfall des Hauses klang unendlich geduldig, seine mechanische Ruhe ungetrübt von dem Umstand, dass Maggie und ich kurz vor einem hysterischen Anfall standen.

»Ja, verdammt noch mal«, sagte ich und nahm den Hörer von der Wand. Stille empfing mich. Ich schaute gehetzt auf das Telefon. »Wo ist er?«

»Haus, verbinden«, befahl Maggie.

Es klickte im Telefon, und mit einem Mal erklang wunderbarerweise Mahirs Stimme in meinem Ohr, wenn auch leicht gedämpft, als hätte er die Hand über den Hörer gelegt. »… verspreche Ihnen, Sir, ich rufe jemanden an, der mich abholt. Es tut mir leid, dass ich mich in Ihrer Isolationszone aufhalte, aber da mein ursprünglicher Flug Verspätung hatte, ließ sich das unglücklicherweise nicht vermeiden.« Sein Tonfall war kurz angebunden, aber höflich, und von einer tiefen Müdigkeit erfüllt, die mir schon vom Zuhören in die Knochen fuhr.

»Mahir!«, sagte ich laut genug, damit er mich durch seine Hand hören konnte.

Ein Kratzen ertönte, und dann antwortete er: »War auch langsam Zeit, Mason. Komm mich abholen.«

»Äh, tut mir leid, ich hänge hier ein bisschen hinterher, aber wo soll ich dich abholen?«

Das Haus meinte, dass der Anruf von einem Anschluss aus der Gegend kommt, sagte George scharf. Er ist hier. In der Stadt oder im Umland.

»Ich bin am Flughafen von Weed.«

Ich erstarrte und glotzte wie blöde an die Wand. Maggie stieß mich mit dem Ellbogen an, und ich sagte das Erste, was mir in den Sinn kam: »Weed hat einen Flughafen?«

Maggie hielt sich theatralisch die Hand vor die Stirn. »Der Mann ist seit Wochen hier und hat noch nicht mal ins Telefonbuch geschaut «, ächzte sie.

»Es sollte besser einen geben, sonst bin ich hier nämlich ganz und gar falsch.« Mahir klang zu müde, um belustigt zu sein. »Innerhalb der nächsten zwanzig Minuten werde ich hier für Herumtreiberei eingebuchtet, was ein kleines Problem für mich darstellt, also würdest du mich bitte abholen kommen?«

»Ich « Ich warf einen Blick zu Maggie, die sich noch immer die Hand vors Gesicht hielt. »Wir sind gleich da. Bleib einfach, wo du bist.«

»Das dürfte kein Problem sein«, antwortete Mahir.

Ein Klicken ertönte, und die ruhige, angenehme Stimme des Hauses sagte: »Der Gesprächsteilnehmer hat die Verbindung unterbrochen. Möchtest du versuchen, sie wieder herzustellen?«

»Nein, er hat aufgelegt«, sagte ich und tat das Gleiche. Meine Fingerspitzen fühlten sich taub an, wahrscheinlich vor Schreck. »Maggie, weißt du, wie man zum Flughafen kommt?«

»Ich kann uns hinfahren.«

»Gut. Doc! Zieh dir Schuhe an. Wir machen einen Ausflug.«

Kelly kam mit einem Notizblock, den sie sich vor die Brust gedrückt hielt, aus dem Esszimmer. »Einen Ausflug?«, fragte sie verwirrt. »Wohin?« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Warum soll ich mit?«

»Wir fahren zum Flughafen, um einen Freund abzuholen, und du kommst mit, weil Maggie mir erklären muss, wie man dort hinkommt.« Laut Gruppenkonsens durfte Kelly nicht alleine im Haus bleiben, egal aus welchem Grund, nicht einmal für ein paar Minuten. Nur einige wenige Male hatten wir sie unter der Aufsicht von ein paar von Maggies Fiktiven zurückgelassen, und selbst dann nie für mehr als eine Stunde. Wir hatten zwar keine Angst, dass sie abhauen würde nicht mehr , aber es bestand immer die Möglichkeit, dass der Seuchenschutz sie schließlich aufspüren würde, und dann mussten wir da sein, um sie zu beschützen.

Man musste Kelly zugutehalten, dass sie nach einer Woche aufgehört hatte, sich mit uns darüber zu streiten, und auch jetzt gab sie keine Widerworte. Stattdessen sagte sie mit einem Nicken: »Ich hole meinen Mantel«, und verschwand wieder im Esszimmer.

Maggie und ich wechselten einen Blick. »Ich hätte nicht gedacht, dass er herkommen würde«, sagte sie. »Ich habe ihn nur das eine Mal getroffen, bei als er das letzte Mal in Kalifornien war.«

Der unausgesprochene Anlass war Georgias Beerdigung gewesen. Ich nickte, sowohl zur Bestätigung als auch als stummen Dank dafür, dass sie das Wort nicht laut ausgesprochen hatte. »Er ist ein guter Mann. Wenn er hier ist, dann ist er sicher auf etwas verdammt Großes gestoßen.«

»Oder er rennt vor etwas verdammt Großem davon.«

»Das kann auch sein.« Mahir hatte nichts davon gesagt, dass seine Frau bei ihm sei, und irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie diesen kleinen Abstecher ohne guten Grund gebilligt hätte. »Machen wir uns auf den Weg, um es herauszufinden.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir gar keine andere Wahl haben«, erwiderte Maggie und legte mir kurz die Hand auf den Arm, ehe sie Richtung Tür ging.

Ich nahm mir noch die Zeit, mein Pistolenhalfter umzulegen und meinen Laptop einzupacken, und folgte ihr dann. »Das heißt dann wohl, dass unsere Atempause vorbei ist«, brummte ich.

Ich schätze, da hast du recht.

Maggie und Kelly warteten bereis neben Maggies Wagen, als ich rauskam. Minibulldoggen tollten zu ihren Füßen. Maggie lächelte ironisch. »Sie können sich keinen Grund vorstellen, warum wir rausgehen sollten, außer um mit ihnen zu spielen.«

»Ich werfe gerne eine Stunde lang Tennisbälle, sobald Mahir uns Bericht erstattet hat«, sagte ich und hielt die Hand hoch. »Schlüssel?«

»Du fährst?«, fragte Maggie, als sie sie mir aus der Rückhand zuwarf.

»Dann kommen wir zumindest lebend an.«

Maggies Lachen wurde von dem von George beantwortet, sodass ein seltsamer Halleffekt entstand, den nur ich hören konnte. George hatte es schon immer verabscheut, mich fahren zu lassen. Sie meinte, dass ich jedes Mal, wenn ich, ohne abzubremsen, eine Kurve nahm, versuchen würde, uns beide vorzeitig ins Grab zu bringen. Heutzutage fahre ich notwendigerweise für uns beide, und meistens ist ihr das scheißegal, aber die Ironie entging uns beiden trotzdem nicht.

Selbst als sie am Leben gewesen war, hätte George zugegeben, dass ich ein besserer Fahrer war als Maggie. Ich habe beispielsweise noch nie nur so zum Spaß einen Wagen ins Schlittern gebracht, und ich betrachte einen Regentag nicht als günstige Gelegenheit für ein bisschen Aquaplaning. Ich bin vielleicht verrückt, aber Maggie ist wohl eher selbstmordgefährdet.

Kelly stieg hinten ein. Maggie und ich saßen vorne. Maggie gab eine Adresse ins GPS ein, und ich ließ den Motor an. Langsam fuhr ich die Auffahrt hinunter, hielt bei der Kontrollstelle eine kleine, fast beiläufige Erinnerung an die Gefahren außerhalb des Grundstücks und bog auf eine der gewundenen zweispurigen Straßen ein, die in einer Kleinstadt wie Weed als Hauptstraßen durchgehen. Es gab kaum Schlaglöcher. Das war so ziemlich die einzige Vorsichtsmaßnahme, welche die Stadtverwaltung für den Fall eines Ausbruchs getroffen hatte. In Städten wie Oakland oder Portland gibt es stehende Truppen, Blutkontrollstellen und jede Menge Zäune. In Städten wie Weed gibt es verschlossene Türen, Fenster aus Sicherheitsglas und viel Luft zum Atmen. Ich hatte noch nie zuvor viel Zeit in einer gesicherten ländlichen Gegend verbracht. Irgendwie war ich immer davon ausgegangen, dass Menschen, die sich für einen solchen Lebensstil entscheiden, wahnsinnig sein müssten. Zu meiner Überraschung stellte ich jedoch fest, dass es mir hier gefiel.

Wenn das alles vorbei ist, dann sorge ich dafür, dass du dich auf einer Farm zur Ruhe setzen kannst, mit viel Auslauf, sodass du draußen mit den anderen Kindern spielen kannst, sagte George trocken.

Es gelang mir, statt einem Lachen nur ein leises Husten herauszulassen, und ich wandte den Kopf zur Seite, ehe Maggie und der Doc mein Lächeln sehen konnten. So gut, wie die Dinge derzeit liefen, gab ich mir Mühe, ihnen mein Verhältnis zu George nicht unter die Nase zu reiben. Es ist eine Sache zu wissen, dass der Boss spinnt. Damit zurechtzukommen ist eine ganz andere.

»Wie weit ist es bis zum Flughafen?«, fragte Kelly und beugte sich zwischen den Sitzen vor, um die Straße zu sehen. Ihr gefärbtes Haar wuchs langsam raus, ein zerzauster roter Pony hing ihr in die Stirn. Dadurch sah sie mehr wie sie selbst aus, und das erleichterte mir den Umgang mit ihr, insbesondere, da sie nach wie vor Buffys Kleider trug. Ein Gespenst war mehr als genug für mich.

»Knapp zwanzig Kilometer«, antwortete Maggie. Sie griff nach der Radiofernbedienung. Dank Buffys Bastelei und Georges grenzenloser Bereitschaft, für Informationen Geld auszugeben, verfügte unser Sendewagen über einen technisch ausgefeilten Empfänger, mit dem man Polizeifunk und sogar einige Militärfrequenzen reinbekam. Maggies hingegen empfing sechshundert Satellitenradiosender. Bevor ich das erste Mal mit ihr mitgefahren war, hatte ich nicht gewusst, dass es beispielsweise genug keltischen Teenybopper-Surfrock für einen Podcast gab, ganz zu schweigen von einem ganzen Radiosender. Man lernt nie aus.

Maggie entschied sich für einen Sender mit lärmendem Grunge-Pop aus der alten Zeit. Sie drehte die Boxen auf, legte die Fernbedienung beiseite und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. »So ist es besser.«

»Besser als was?«, fragte Kelly.

»Besser als ohne Musik.« Maggie drehte sich zu mir herum und bohrte mir fest den Zeigefinger zwischen die Rippen. »Und jetzt raus damit! Hattest du eine Ahnung, dass er herkommen würde?«

»Ich hatte wirklich keine Ahnung, Maggie, das schwöre ich.« An einem Stoppschild wurde ich langsamer, ohne ganz anzuhalten, um dann aufs Gas zu treten und eine schmale, von Bäumen gesäumte Straße entlangzufahren, das Tempo höchstens ein bisschen zu hoch. Solange ich nicht noch schneller fuhr und uns alle umbrachte, machte ich meine Sache wahrscheinlich ziemlich gut. »Er hat ein paar Nachforschungen für mich angestellt, aber ich habe ganz ehrlich nicht mit so einem Anruf gerechnet.«

Ich auch nicht, und das macht mir Sorgen, bemerkte George.

»Von wem ist die Rede?«, erkundigte sich Kelly. Sie klang beunruhigt. »Ich finde es ohnehin schon beunruhigend, wie viele Leute inzwischen im Haus ein und aus gehen. Bleibt dieser Kerl?«

»Ja, für eine Weile«, antwortete ich. »Wir sind unterwegs, um Mahir Gowda abzuholen. Du hast ihn bei der Beerdigung kennengelernt.« Nicht, dass sie viel Zeit oder auch nur einen Grund für eine Unterhaltung gehabt hätten. Kelly war nur deshalb dort gewesen, weil das FBI Georges Leichnam als Beweismittel für das Verfahren gegen Gouverneur Tate beschlagnahmt hatte, und der Seuchenschutz lässt nicht zu, dass menschliche Überreste ohne Begleitung transportiert werden. Dank dieser kleinen Regel hatte ich zwei zusätzliche Gäste bei einer Totenfeier gehabt, die ich eigentlich überhaupt nicht hatte abhalten wollen: Kelly und ihren Chef Dr. Wynne. Ich hatte damals George im Sendewagen zurückgelassen und war losgegangen, um ihren eigentlichen Mörder zu stellen ich hatte meine Schwester zwar erschossen, aber Tate hatte ihre Infizierung angeordnet, weshalb ich ihm die Schuld gebe –, und als ich sie das nächste Mal gesehen hatte, war sie nichts weiter gewesen als ein Haufen sterilisierter Asche

Ganz ruhig, sagte George, um mich aus meiner finsteren Stimmung zu reißen, ehe sie sich verfestigte.

»Stimmt, tut mir leid«, brummte ich. Mahirs unerwarteter Besuch hätte mich beinahe in Panik versetzt, und jede Kleinigkeit wie der Gedanke daran, bei welcher Gelegenheit Kelly und Mahir sich zum ersten Mal begegnet waren genügte, um mir den Rest zu geben und mich in dumpfes Brüten verfallen zu lassen. Das war etwas, das ich mir im Moment nicht leisten konnte.

Maggie bedachte mich mit einem nachdenklichen und seltsamerweise erleichterten Seitenblick. »Er war der mit der wirklich unvorteilhaften braunen Hose«, erklärte sie Kelly.

»Er ist von London hergeflogen, oder?« Kelly stockte und riss die Augen auf. »Moment mal, er ist schon wieder von London hergeflogen?«

»Sieht ganz danach aus«, antwortete ich. Wir näherten uns einem großen grünen Schild, auf dem Flughafen Weed (Gemeindefeld 046) stand. Ich verlangsamte auf die ausgewiesene Geschwindigkeitsbegrenzung und wechselte auf die Spur, die uns in die Quarantänezone bringen würde.

Nach dem Erwachen hatte das Reisen per Flugzeug sich so ziemlich verändert. Laut der Geschichtsbücher war es einmal eine recht einfache Angelegenheit gewesen. In alten Filmen sieht man Flughäfen voller Menschen, die nach Lust und Laune kommen und gehen, und in ganz alten kommt wirklich abgedrehtes Zeug vor, wie zum Beispiel Typen, die nicht mal Fluggäste sind und ihre abreisende Freundin durch die Sicherheitskontrolle begleiten, und Leute, die beim Flugpersonal Tickets kaufen und in bar bezahlen. Alle Leute vom Flugpersonal, die ich in meinem Leben gesehen habe, waren besser bewaffnet als die meisten Irwins, und wenn jemand ohne die nötigen medizinischen Freigaben und ohne grünes Licht beim Check-in zu einem Flugzeug rennt, ist er tot, noch ehe er auf dem Boden aufschlägt. Wenn man bei einer Fluglinie arbeitet, lernt man, erst zu schießen und dann Fragen zu stellen, wenn überhaupt.

Leute, die als Irwins nicht klarkommen, weil sie zu gewalttätig sind, gehen ins Fluggeschäft. Bei dem Gedanken bleibt man doch lieber gleich zu Hause.

Für Reisen zwischen den großen Flughäfen benötigt man ein sauberes Gesundheitszeugnis von einem akkreditierten Arzt, gefolgt von einer Untersuchung durch das medizinische Personal des Flughafens, bevor man auch nur in die Wartehalle kommt. Nicht-Passagiere sind jenseits der ersten Luftschleuse nicht zugelassen. Sobald man drinnen ist, wird man von einem Bluttest zum nächsten geleitet, wobei man die meiste Zeit von Leuten mit vielen, vielen Waffen überwacht wird. Das ist noch etwas, das einem am Luftverkehr in der alten Zeit komisch vorkommt: In diesen alten Filmen hat nie jemand eine Waffe dabei, es sei denn, er arbeitet für die Polizei oder für die U. S. Marshals. Das hat irgendetwas mit der damaligen Angst vor Flugzeugentführungen zu tun. Tja, heutzutage sorgt die Angst vor den Zombies dafür, dass selbst Leute, die eigentlich keinen Grund haben, eine Waffe zu tragen, im Flugzeug eine dabeihaben. Man steigt ein, setzt sich hin und bleibt sitzen, es sei denn, man muss sich von einem der Flugbegleiter zur Toilette bringen lassen wozu natürlich zuerst ein Bluttest nötig ist. Wenn die Maschine sich im Flug befindet, muss man sogar eine Erlaubnis einholen, um seinen Sicherheitsgurt zu lösen. Ja, Reisen mit dem Flugzeug sind wirklich keine leichte Sache, absolut kein Vergnügen und eindeutig nichts, was man leichtfertig unternimmt.

Weeds Flughafen war winzig, er bestand aus drei Gebäuden und einer Landebahn und hatte nur die vom Bundesgesetz vorgeschriebene Mindestanzahl von Luftschleusen und den Mindestabstand zur Straße. Mehrere Fahrzeuge der Flughafenpolizei standen in der Nähe. Die meiste Zeit war das völlig überflüssig, insbesondere bei einem so kleinen Flughafen, aber ich hätte darauf gewettet, dass es nicht mal ansatzweise genug sein würden, falls ein Flugzeug mit einer unverhofften Ladung lebender Infizierter eintraf. Das ist das Problem, wenn man immer Angst haben muss. Irgendwann stumpfen die Leute einfach ab.

Ich hielt auf dem Besucherparkplatz und hupte zweimal. Kelly zuckte zusammen, sagte jedoch nichts. Selbst auf dem kleinsten Flughafen der Welt muss man schon ein ziemlicher Idiot sein, um unaufgefordert auszusteigen.

Wir brauchten nicht lange zu warten. Die Echos meines Hupens waren kaum verhallt, da öffnete sich auch schon die Luftschleuse, und Mahir kam schnellen Schritts auf uns zu und zog dabei eine einzige, ziemlich mitgenommene Tasche mit seinem Handgepäck hinter sich her. Das einstmals schwarze Nylon war abgewetzt und eingerissen und an mehreren Stellen mit Klebeband geflickt. Wahrscheinlich war die Tasche dadurch auf dem Gepäckfließband zumindest leicht zu erkennen nicht, dass der Flughafen von Weeds groß genug gewesen wäre, um überhaupt ein Gepäckfließband zu haben. Ich war mir ziemlich sicher, dass Mahir nicht mit einem Passagierflug eingetroffen war.

Ohne ein Wort zog er die Beifahrertür des Wagens auf und stellte seine Reisetasche auf den Sitz, bevor er einstieg und die Tür wieder hinter sich zuknallte. Selbst dann sagte er nichts, sondern schnallte sich bloß an und erwiderte meinen Blick durch den Rückspiegel. Offenbar wartete er.

Ich ließ den Motor an.

Mahir schwieg weiter, bis wir einen Kilometer vom Flughafen entfernt waren. Wir anderen schwiegen ebenfalls und warteten darauf, dass er etwas sagen würde. Schließlich schloss er die Augen, rieb sich den Nasenrücken und sagte: »Magdalene, wie weit ist es von hier bis zu dir nach Hause?«

»Knapp zwanzig Kilometer«, antwortete sie, drehte sich in ihrem Sitz herum und musterte ihn besorgt. »Süßer, geht es dir gut?«

»Nein. Nein, es geht mir nicht gut. Es geht mir so was von nicht gut. Wahrscheinlich stecke ich bereits mitten in einem Scheidungsprozess, meine Anwesenheit in diesem Land ist bestenfalls ansatzweise legal, ich bin mir nicht sicher, in welcher Zeitzone ich mich befinde, und eigentlich möchte ich mein Leben bis zu dem Punkt zurückdrehen, an dem ich den Fehler gemacht habe, mich von einer gewissen Miss Georgia Mason anwerben zu lassen.« Mahir nahm die Hand vom Gesicht und ließ, die Augen immer noch geschlossen, seinen Kopf gegen die Lehne sacken. »Ich glaube, wenn ich noch erschöpfter wäre als jetzt, wäre ich tot, und vielleicht wäre das ein Segen. Hallo, Shaun! Hallo, Dr. Connolly! Ich würde ja sagen, dass es mir eine Freude ist, Sie wiederzusehen, aber unter diesen Umständen wäre das wohl nicht ganz ehrlich.«

»Hallo, Mr Gowda«, sagte Kelly. Ich sagte nichts. Stattdessen fuhr ich und hörte dabei zu, wie George zwischen meinen Ohren lautlos fluchte. Die Frage, was Mahir herausgefunden hatte und ob es gut, schlecht oder einfach nur sonderbar war –, wurde durch sein Verhalten beantwortet. Seine Ankunft hier konnte nur das Ende der Welt bedeuten, denn sonst hätte er niemals derart unglücklich dreingeschaut.

Maggie blickte sich im Auto um, und eine Falte bildete sich zwischen ihren Brauen, als sie die sie umgebenden Mienen sah. Dann griff sie nach der Fernbedienung und drehte das Radio auf. Irgendwie schien das genau das Richtige gewesen zu sein, und so legten wir den restlichen Weg schweigend zurück, während die fröhlich-nihilistische Popmusik einer toten Generation aus unseren Fenstern schallte.

Als wir Maggies Auffahrt erreichten, öffnete Mahir schließlich die Augen und beobachtete interessiert, wie wir das erste und das zweite Tor passierten. Als wir uns dem dritten näherten, fragte er: »Erkennt es, wie viele Personen sich im Fahrzeug befinden?« Ich ließ das Fenster herunterfahren und warf Maggie in Erwartung einer Antwort einen Blick zu. Metallene Teleskoparme kamen aus den Büschen an den Rändern der Auffahrt, entfalteten sich und gaben den Blick auf kleine Testeinheiten frei, an deren Seiten spiegelnde Metallplatten befestigt waren. Die winzigen Blenden, hinter denen die Nadeln hervorkommen würden, glitzerten in der Sonne.

»Das Sicherheitssystem arbeitet mit biometrischen Hitzesensoren und ist mit einem einfachen Sonar ausgestattet«, erklärte Maggie mit der Art auswendig gelernter Genauigkeit, die vermuten ließ, dass sie zwar die Bedienungsanleitung gelesen hatte, aber nicht wirklich verstand, wie ihr Sicherheitssystem funktionierte. Aber immerhin, sie hatte die Anleitung gelesen. Manche Leute vertrauen ihre Sicherheit Maschinen an, ohne auch nur das zu tun. »Es weiß immer, wie viele Personen getestet werden müssen. Wir sind hier einmal mit einem Bus hochgefahren, als wir einen Gruppenausflug nach Disneyland gemacht haben, und das Tor hat sich erst geöffnet, nachdem alle 38 Insassen ein sauberes Testergebnis abgeliefert hatten.«

»Es hat alle 38 überprüft?«, fragte ich mit einem leisen Pfiff nach. »Beeindruckend.« Und auch erschreckend, weil ich darauf gewettet hätte, das die Entwickler nicht über all die denkbaren Schlupflöcher bei diesem System nachgedacht hatten. Maggies Sicherheitssystem forderte uns nacheinander auf, uns lange genug aus dem Fenster zu lehnen, damit eine Blutprobe genommen werden konnte, aber es zwang uns nicht dazu, auszusteigen und durch eine Luftschleuse zu treten, während der Test im Gange war. Es war absolut möglich, dass jemand ein sauberes Testergebnis ablieferte und das Virus erst anschließend aktiv wurde, während der Rest der Gruppe noch überprüft wurde. Der Netzhautscan am nächsten Tor würde den Betreffenden wahrscheinlich erwischen, aber bis dahin hätte sich die Zahl der potenziell Infizierten von einem auf alle Angehörigen der Gruppe erhöht.

Maggie lächelte arglos, ganz offensichtlich entging ihr meine Skepsis. Wahrscheinlich war das auch besser so. »Es ist das Beste, was es für den privaten Markt gibt.« Sie streckte ihre Hand beim Sprechen zum Fenster raus und drückte sie auf das Testfeld an der Beifahrerseite.

»Es ist nicht auf dem privaten Markt«, sagte Kelly. Ich drehte mich zu ihr um, während ich eine Hand auf mein eigenes Testfeld legte. Sie zuckte mit den Schultern, streckte die Hand aus dem Fenster und erklärte: »Diese Technologie sollte für die nächsten zwei Jahre eigentlich nur für Regierungsbehörden verfügbar sein.«

»Ups«, sagte Maggie. Sie warf Kelly ein Lächeln zu und zog die Hand zurück in den Wagen, als das grüne Licht an der Testeinheit aufleuchtete. »Da hat Dad wohl ein paar Beziehungen spielen lassen.«

Mal wieder, fügte George trocken hinzu. Ich verkniff mir ein Lachen.

»Er hat hervorragende Arbeit geleistet«, sagte Mahir. Das Licht an seiner Testeinheit leuchtete grün auf. Er zog seine Hand zurück, ließ sich in den Sitz zurücksinken und schloss die Augen wieder. »Herr im Himmel, dieses Land ist riesig! Weckt mich, wenn es Kaffee gibt!«

»In einer Minute musst du die Augen für den Netzhautscan aufmachen«, warnte ihn Maggie vor.

Mahir stöhnte.

Ich warf ihm durch den Rückspiegel einen Blick zu und bemerkte die Fältchen, die der Stress um seine Augen herum hinterlassen hatte. Die waren letztes Jahr noch nicht da gewesen. Georges Tod hatte ihm beinahe ebenso sehr zugesetzt wie mir und das hätte ich mir bei so ziemlich niemand anderem vorstellen können. Mahir war ihr Beta-Blogger gewesen, ihr Kollege und ihr bester Freund, und manchmal hatte ich das Gefühl gehabt, dass er gerne noch mehr für sie geworden wäre, wenn sie nicht auf verschiedenen Kontinenten gelebt hätten. Ich hatte wenigstens den fortwährenden Trost meiner Geisteskrankheit. Er hatte nur das Schweigen und dank mir nun auch noch die schlechten Neuigkeiten, die ihn aus England fortgetrieben hatten.

»Ich hoffe, das war es wert«, brummte ich und ließ den Motor wieder an.

Die Netzhautscanner waren darauf programmiert, immer nur zwei Personen auf einmal zu überprüfen. Es dauerte fast fünf Minuten, bis wir durch das vierte Tor waren. Mahir und ich gingen zuerst ich, weil die Sicherheitsbestimmungen vorschrieben, den Fahrer so schnell wie möglich zu testen, und er, weil ich befürchtete, dass er einschlafen würde, wenn wir ihn zu lange warten ließen. Seine Erschöpfung wurde von Minute zu Minute offenkundiger. Ich würde nicht darauf bestehen, dass er lange genug wach blieb, um uns alles zu erzählen, was er wusste, aber ich wollte wissen, ob uns ein zweites Oakland erwartete. Das letzte Mal, als wir einer unerwarteten Besucherin Zeit gelassen hatten, zur Ruhe zu kommen, hatte man unsere Wohnung in die Luft gejagt, Dave war gestorben, und wir hatten um unser Leben laufen müssen. Eine Wiederholung wollte ich wenn möglich vermeiden.

Maggies Bulldoggen warteten auf dem Rasen vor dem Haus und scharwenzelten um unsere Füße herum, kaum dass wir ausstiegen. Mahir fuhr erschrocken zurück und saß am Ende mit hochgezogenen Füßen auf der Armlehne des Beifahrersitzes, außer Reichweite ihrer neugierigen Nasen. Das hielt die Hunde nicht davon ab, zu seinen Schuhen hochzuspringen und ihn anzukläffen. Für so kleine Hunde erzeugten sie einen erstaunlichen Lärm. »Lieber Himmel, haltet ihr die Dinger nicht an der Leine?«

»Nicht zu Hause«, antwortete Maggie. »Bruiser, Butch, Kitty, Platz!« Die drei Hunde, die es anscheinend am hartnäckigsten darauf abgesehen hatten, Mahir zu erreichen, ließen sich auf alle viere nieder und trotteten mit hängenden Zungen zu Maggie.

»Mit der Zeit gewinnt man sie lieb«, sagte ich und beugte mich über Mahir, um seine Tasche aus dem Auto zu holen. Sie war erstaunlich schwer. Ich hatte mit etwa zehn Kilo gerechnet, aber sie war schwer genug, um mich für einen Moment aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Mensch, was ist denn da drin, Ziegelsteine?«

»Größtenteils Computerzubehör. Ich hoffe, ich kann mir von dir ein paar Hemden leihen. Ich wollte nicht mehr als eine Tasche mitnehmen.« Mahir behielt misstrauisch die Hunde im Auge, während er aus dem Wagen rutschte und vorsichtig Richtung Haus ging. Die Hunde hatten sich derweil um Maggie versammelt und blickten hingebungsvoll zu ihr auf.

»Du kannst dir meine Hemden leihen, Mann, aber meine Boxershorts bekommst du nicht.« Ich legte ihm den Arm um die Schultern und ging Richtung Küchentür. »Dich erwartet ein Kaffee, falls du nicht lieber Tee möchtest. Du siehst übrigens total fertig aus.«

»Ja, das habe ich schon mitgekriegt«, sagte Mahir erschöpft. »Tee klingt wunderbar.«

Er schlurfte weiter. Ich warf einen Blick zurück zu Maggie. Kelly war inzwischen ausgestiegen und stand mit nachdenklich gerunzelter Stirn neben ihr. Mit einem Nicken gab Maggie mir zu verstehen, dass sie meine stumme Botschaft verstand. Ich antwortete mit einem kurzen, erleichterten Lächeln. Ich brauchte ein paar Minuten allein mit Mahir, bevor er für acht Stunden ins Koma fiel, und Maggie würde sich um Kelly kümmern, bis ich wieder Zeit für sie hatte.

In der Küche war niemand. Alaric und Becks waren noch unterwegs, und die Bulldoggen waren alle draußen und nötigten wahrscheinlich gerade Maggie, Stöckchen für sie zu werfen. Ich führte Mahir zu einem Stuhl am Tisch. »Bevorzugst du einen bestimmten Tee? Maggie hat etwa fünfhundert Sorten. Ich finde, dass sie alle schmecken, als würde man an einem Rasenmäher lecken, weshalb ich keine Empfehlungen aussprechen kann.«

»Wenn es kein Kräutertee ist, ist es in Ordnung.« Mahir brach auf dem Stuhl zusammen, und das Kinn sackte ihm fast bis auf die Brust herab. »Sojamilch, ohne Zucker bitte.«

»Kommt sofort.« Ich beobachtete ihn mit einem Auge, während ich den Wasserkocher füllte und eine Tasse aus dem Regal nahm.

Er ist erledigt.

»Ist mir nicht entgangen«, brummte ich. Mahir hob den Kopf und blinzelte mich verwirrt an. Ich bedachte ihn mit einem unehrlichen Lächeln. »Entschuldigung. Ich habe nur «

»Ich weiß, was du gemacht hast. Hallo, Georgia! Ich hoffe, du hast deinen Bruder mit deiner Spukerei nicht schon so dicht an den Rand des Wahnsinns getrieben, dass dieser Besuch sinnlos geworden ist.«

Es gibt keine Gespenster, sagte George verdrießlich.

Das war nun wirklich nichts, worüber ich mit ihr diskutieren wollte. Ich holte also stattdessen die Sojamilch aus dem Kühlschrank und sagte: »George lässt dich grüßen. Dein Tee ist in einer Minute fertig. Möchtest du mir erzählen, was dich zu diesem Überraschungsbesuch getrieben hat? Wir hätten wenigstens das Sofa für dich herrichten können, wenn wir gewusst hätten, dass du kommen würdest.«

»Ich wollte nicht, dass irgendjemand davon weiß«, sagte Mahir mit einer Ruhe, die mich erschauern ließ. Es war keine Impulshandlung gewesen. Das hatte ich eigentlich auch nicht erwartet, aber trotzdem hätte ich, als ich seinen Tonfall hörte, am liebsten den Tee beiseitegestellt und den Schnaps hervorgeholt. »Ich habe über ein Reisebüro einen Flug von Heathrow nach New York gebucht, anstatt einfach online ein Ticket zu kaufen. Von dort bin ich nach Seattle geflogen, wo ich von meinem Reisepass auf den meines Vaters umgestiegen bin und mir einen Flug nach Portland gesucht habe. Von dort bin ich dann mit einem Privatflugzeug weiter nach Weed. Der Herr, dem das Flugzeug gehörte, hat Bargeld angenommen, und in seinem Ladeverzeichnis wird stehen, dass ich eine junge Kanadierin gewesen sei, die zu einer Blumenschau in die Staaten wollte.«

»Was hat das gekostet?«

»So viel, dass du zutiefst dankbar dafür sein solltest, dass ich eine Gewinnbeteiligung und kein festes Gehalt bekomme, sonst würdest du mir nämlich ein hübsches Sümmchen schulden.« Mahir nahm seine Brille ab und rieb sich mit dem Handrücken die Augen. »Ich fürchte, ich bin nicht mehr zu viel zu gebrauchen. Ich bin jetzt schon fast anderthalb Tage wach.«

»Das habe ich mir schon gedacht.« Der Wasserkocher fing an zu blubbern. Ich schaltete ihn aus, hängte einen Teebeutel aus Maggies absurd großer Auswahl in den Becher und goss Wasser darüber. Dann brachte ich Mahir den Becher und die Sojamilch. »Gib mir die Kurzfassung. Wie schlimm ist es?«

»Wie schlimm es ist?« Mahir beschäftigte sich einen Moment lang mit seinem Tee und sprach erst wieder, als er mit dem Becher in beiden Händen auf seinem Stuhl saß. Mit festem Blick schaute er mich an und sagte: »Ich bin mit dem Datenmaterial, das du mir gegeben hast, zu drei Ärzten gegangen, die ich mit ziemlicher Sicherheit für seriös halte. Einer hat mich ausgelacht. Er meinte, wenn etwas Derartiges vorginge, hätte er davon gehört, da die entsprechenden statistischen Tendenzen praktisch nicht zu übersehen wären. Außerdem meinte er, dass derartige Vorgänge sich in den Zensusdaten widerspiegeln würden. Ich forderte ihn dazu auf, zu beweisen, dass sie das nicht taten.«

»Und?«

»Drei Tage später hat er aufgehört, meine Anrufe entgegenzunehmen. Ich vermute, der Grund dafür war, dass sich in den Zensusdaten genau das widergespiegelt hat, was er abgestritten hatte.« Mahir trank einen Schluck Tee, verzog das Gesicht und fuhr fort: »Als ich zu ihm ging, um ihn persönlich zur Rede zu stellen, war er fort und er hat keine Nachsendeadresse hinterlassen.«

Scheiße aber auch, sagte George.

»Mit dem zweiten Arzt, an den ich mich gewandt habe, hatte ich mehr Glück ich glaube in erster Linie, weil er Australier war und es ihm ziemlich egal war, was die örtliche Regierung über seine Arbeit dachte. Er meinte, dass die Ergebnisse Hand und Fuß hätten, auch wenn die Schlussfolgerungen etwas übertrieben seien, und dass er am liebsten versuchen würde, die Ergebnisse an Versuchstieren zu testen.«

»Die Ergebnisse lassen sich anwenden?«, fragte ich verwirrt.

»Im Sinne von tja, es ist ein bisschen wie mit der Forschung, die man zur Jahrhundertwende mit Parasiten durchgeführt hat. Dabei hat man entdeckt, dass man eine ganze Reihe von Autoimmunstörungen mithilfe von spezialisierten Parasiten in den Griff bekommen kann, weil die Parasiten das Immunsystem hinreichend ablenken. Das hält den Körper davon ab, sich selbst zu attackieren. Kellis-Amberlee ist deswegen so effektiv, weil es sich wie ein natürlicher Bestandteil des Körpers verhält das Virus ist unser ständiger Begleiter, weshalb unser Immunsystem es nicht angreift. Das Problem ist, dass der Körper es auch dann, wenn es den Zustand wechselt, nicht als Feind erkennt.

Ich runzelte die Stirn. »Da komme ich nicht mehr mit.«

»Weil der Körper das schlafende Virus als Teil seiner selbst betrachtet, ist er nicht dazu bereit, das erwachende Virus zu bekämpfen. Aber diejenigen, die irgendwie eine Attacke des aktiven Virus überleben indem sie ihm zum Beispiel ausgesetzt werden, wenn sie noch zu klein sind, um eine Vermehrung zu erleiden, oder weil sie von Natur aus resistent sind , können eine gewisse Menge davon in ihrem Körper ›einlagern‹, wie einen Parasiten. Dadurch bringen sie dem Körper bei, wogegen er sich wehren muss.«

»Also wollte dieser Kerl was machen einen Haufen Kängurus infizieren und abwarten, was passiert, wenn sie größer werden?«

»Im Prinzip ja.«

»Was ist aus ihm geworden?«

»Man hat ihn aufgrund von Steuerflucht und einer falschen Arbeitserlaubnis abgeschoben.«

Stille machte sich zwischen uns breit, als ich über seine Worte nachdachte und über das, was er unausgesprochen gelassen hatte. Selbst George schwieg und ließ mich nachdenken. Schließlich fragte ich: »Was ist mit dem Dritten?«

»Sein Datenmaterial ist in meiner Reisetasche.« Mahir musterte mich gelassen, während er einen Schluck Tee nahm. »Er hat die Ergebnisse gelesen. Dreimal. Und dann hat er mich angerufen, mir seine Schlussfolgerungen mitgeteilt, mir gesagt, wo er seine Daten hingeschickt hat, aufgelegt und sich erschossen. Und ich frage mich ernsthaft, ob er nicht vielleicht das Richtige getan hat.«

»Was was hat er gesagt?«

»Er hat gesagt, dass wir, wenn wir mutiger wären und nicht so bereitwillig den Weg des geringsten Widerstands nehmen würden, Indien vielleicht schon vor zehn Jahren zurückerobert hätten.« Mahir stellte seinen Becher ab und stand auf. »Ich bin müde, Shaun. Bitte zeig mir jetzt, wo ich schlafen kann! Du kannst dir alles, was ich mitgebracht habe, durchlesen, und wir reden dann später darüber.«

»Komm mit!« Ich stand auf und ging Richtung Flur. »Du kannst mein Zimmer nehmen. Es ist nicht gerade riesig, aber ruhig, und die Tür schließt fest, sodass du nicht mit irgendwelchen Überraschungsgästen aufwachst.«

»Das klingt gut«, sagte er, während er mir die Treppe hochfolgte. Seine Anwesenheit, so unerwartet sie auch sein mochte, fühlte sich genau richtig an, als wäre sie nötig gewesen, ehe wir zu Ende bringen konnten, was auch immer wir angefangen hatten.

Wir waren nun alle auf der Flucht, und wenn wir aufhören wollten davonzulaufen, konnten wir das nur zusammen tun.