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Maggie sah nicht gerade glücklich aus, als sie für den Doc etwas zum Anziehen zusammensuchen sollte, aber sie fügte sich. Mehr konnte ich kaum von ihr verlangen. Ich wartete im Wohnzimmer und schrieb ein paar Blogeinträge, in denen ich klarstellte, dass wir nicht mal in der Nähe von Oakland gewesen waren, als die Bomben hochgingen. Nebenher surfte ich auf Medizinerblogs, um rauszufinden, was man dort über den Tod von Dr. Kelly Connolly dachte. So, wie dort über sie geschrieben wurde – verlorenes Wunderkind aus einer stolzen Abstammungslinie, aufsteigender Stern am Virologenhimmel –, hätte man meinen können, dass sie kurz davorgestanden hätte, Kellis-Amberlee zu heilen, anstatt zusammen mit anderen Häftlingen Sklavenarbeit in den Gruben der Seuchenschutzbehörde zu verrichten.
Die Macht guter Presse, sagte George trocken.
Mit einem leisen Lachen machte ich mich wieder an die Arbeit.
Alaric betrat mit einem halb aufgegessenen Toastbrot in einer Hand das Zimmer, als ich gerade eine E-Mail losjagte, mit der ich den fortgesetzten Verkauf von Daves Merchandising-Produkten gestattete. »Hast du die Fotos vom Tatort auf den Klatschseiten gesehen?«, fragte er. Ich nickte. »Fast so unheimlich wie Invasion der Körperfresser. Ich wusste zwar, dass die Klontechnologie weiter fortgeschritten ist als das, was man von außen mitkriegt, aber der Seuchenschutz beschäftigt die besten Ärzte der Welt, und nicht mal die haben bemerkt, dass es sich um einen Klon handelt.«
»Es gibt Schlimmeres.«
»Wie das?«
»Keine Ahnung. Aber es gibt immer was Schlimmeres.« Ich warf einen Blick Richtung Küchentür. »Wo ist Becks?«
»Sie hilft Maggie mit Dr. Connolly.« Er nahm einen Bissen Toast und setzte sich an den Monitor neben meinem. »Ich glaube, sie wollte sie nicht miteinander allein lassen.«
»Ich wusste schon immer, dass sie ziemlich klug ist.«
Alaric schnaubte, während er sich anmeldete und sich in den Foren ans Werk machte. Ich übte meine »Leitungsfunktion« aus, was bedeutete, dass ich ihm über die Schulter sah, Cola trank und so tat, als würde ich aufpassen. Er beachtete mich nicht. Am Anfang habe ich seine Neigung dazu, meine Anwesenheit bei der Arbeit auszublenden, persönlich genommen, bis George mir versichert hat, dass er sich ihr gegenüber immer genauso verhalten hat. Er gehört einfach nur zu der Sorte Menschen, die sich wirklich gerne auf ihre Arbeit konzentrieren.
Wirklich süß, wie du ignorierst, dass ich dir unmöglich etwas sagen kann, was du nicht ohnehin schon weißt, bemerkte George.
»Fang keinen Streit mit mir an«, erwiderte ich und nahm einen weiteren Schluck Cola. Damit kann ich sie normalerweise für ein Weilchen zum Schweigen bringen. Wenn das nicht funktioniert, flüchte ich eine Zeit lang ins Nachrichtenschauen. Für sie ist das tröstlich, und ich lerne etwas dabei. So hat jeder was davon.
Aber es stimmt.
»Trotzdem ist es scheiße, so was zu sagen, und das weißt du auch.«
Alaric ignorierte meine Unterhaltung mit der leeren Luft. Er hat auf die harte Tour gelernt, dass es manchmal am besten ist, einfach wegzuschauen. In unserem ersten gemeinsamen Monat im Büro hat er mich jedes Mal, wenn ich George versehentlich laut geantwortet habe, gefragt, mit wem ich rede, und mehr als einmal hat er darauf hingewiesen, dass sie tot ist. Nachdem ich schließlich die Beherrschung verloren und ihm die Faust ins Gesicht gerammt habe, hat er aufgehört. Das Ergebnis waren aufgeschürfte Knöchel bei mir und bei ihm eine gebrochene Nase. Wenn ich mich schnell bewege, zuckt er noch immer zusammen. Ich kann ihm wohl kaum einen Vorwurf daraus machen. Wenn mein Chef ein durchgeknallter Typ mit einem fiesen rechten Haken wäre, dann würde ich wahrscheinlich auch ein bisschen schreckhaft sein.
Ein Threadtitel sprang mir ins Auge. Ich beugte mich vor und tippte auf Alarics Monitor. »Da. Kannst du den Thread mal aufmachen?«
»Klar.« Er klickte auf den Titel: Sicherheitsvorkehrungen der Seuchenschutzbehörde unzureichend? »Ich wüsste nicht, was das mit …«
»Scroll einfach runter!«
»Natürlich«, sagte er und begann zu scrollen.
Der Thread begann als Diskussion über den Einbruch in der Außenstelle Memphis und entwickelte sich zu einem fünf oder sechs Kommentare langen Streit über die Sicherheitsvorkehrungen der Seuchenschutzbehörde. Wie erhofft begannen die Kommentatoren nach kurzer Zeit, Namen zu nennen. Jeder Arzt, Praktikant, Mitarbeiter und Pressesprecher der Behörde, der in den letzten achtzehn Monaten ums Leben gekommen war, tauchte auf. »Alaric, kannst du die Namen der Verstorbenen rausfiltern und Nachrufe und Berichte über ihre Todesumstände raussuchen? Wenn dich irgendjemand schief anschaut, kannst du ja sagen, dass du eine Reportage auf Grundlage dieses Threads verfasst.«
»Klar.« Als ihm klar wurde, worauf ich hinauswollte, erwärmte er sich für die Idee. »Ich kann sogar noch was Besseres machen. Ich habe noch ein paar von Buffys alten Würmern, die nach wie vor voll funktionsfähig sind. Ich setze einen darauf an, nach Verbindungen zwischen den verstorbenen Mitarbeitern, Kelly Connolly, Joseph Wynne und allen weiteren ungewöhnlichen oder unerklärlichen Todesfällen in ihrem Freundeskreis zu suchen.«
»Hauptsache, du lässt dich nicht schnappen oder zurückverfolgen, dann kannst du machen, was du willst.«
»Klasse.« Alaric beugte sich vor und fing an zu tippen. Er war ebenso konzentriert, wie ich es von George, Rick und allen anderen Newsies, die mir je begegnet waren, kannte. Wenn ich nackt auf seinem Schreibtisch getanzt hätte, hätte er mich wahrscheinlich einfach nur mit einem Schnauben beiseitegeschoben, um seinen Monitor wieder sehen zu können. Zufrieden damit, dass ich etwas Sinnvolles erreicht hatte, stand ich auf und ging in die Küche. Eine frische Cola würde dafür sorgen, dass ich nicht allzu genau über die Mittel nachdachte, die Alaric für seine Arbeit einsetzte.
Es gibt Leute, die behaupten, dass Kellis-Amberlee und seine untoten Nebenwirkungen das Ende der menschlichen Spezies herbeiführen werden. Ich sehe das eher nicht so. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Zombies die Menschheit wenn überhaupt, dann bereits 2014 ausgelöscht hätten, als sie zum ersten Mal auftauchten. Ich glaube, wenn an diesem Punkt irgendetwas die Menschheit vernichtet, dann wird es die Menschheit selbst sein.
Nun, wo meine Blogbeiträge geschrieben waren, Alaric bei der Arbeit war und Becks und Maggie sich mit Kelly zurückgezogen hatten, wusste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Schließlich setzte ich mich einfach mit meiner Cola an den Küchentisch und wartete darauf, dass etwas geschehen würde. Etwa fünfzehn Minuten später wurde meine Geduld belohnt, und es geschah tatsächlich etwas.
Schritte kamen die Treppe runter, und Becks erschien in der Küchentür, die Hände zu einer beschwichtigenden Geste gehoben. Kein besonders gutes Zeichen. »In Ordnung, Shaun, bevor du austickst, solltest du wissen, dass das die beste Möglichkeit war.«
Ich hob eine Braue. »Du preist dein Produkt verdammt schlecht an. Was es auch ist, nach diesen Worten würde ich es niemals kaufen. Nur dass du’s weißt.«
»Ich sag ja bloß: Tick nicht aus!« Sie trat ganz in die Küche und warf einen Blick über die Schulter zurück. »Komm schon, Kelly!«
»Ich komme mir total bescheuert vor«, sagte Kelly. Sie kam in Sicht, dicht gefolgt von Maggie.
Ich starrte sie an.
Buffy hat mir und George eine Menge von ihrem Zeug hinterlassen, als sie gestorben ist. Ihre Eltern haben uns sogar noch was dazugegeben. Wir waren ihre besten Freunde, und sie wussten nicht, was sie sonst mit ihrer Sammlung von grellen Schmuckstücken und Hippiekleidern machen sollten. Dass ich kein Transvestit bin und George sich niemals mit solchem Zeug am Leib hätte blicken lassen, spielte keine Rolle: Sie waren trauernde Eltern, wir waren Buffys Freunde, also haben wir das ganze Zeug gekriegt. Nur hatten wir nicht besonders viel Platz in der Wohnung, und von der Vorstellung, Buffys Sachen einfach wegzuschmeißen, wurde mir ganz anders. Also hatten wir sie bei Maggie eingelagert.
Ungewohnt nervös sah Becks mich an. Offenbar wartete sie auf mein Urteil. Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle hinunter und sagte das Erste, was mir in den Sinn kam:
»Puh! Das … sieht anders aus.«
Kelly trug einen vielfarbigen Batikrock, eine weiße Bauernbluse und eine Flickenweste, auf die überall kleine Spiegel genäht waren. Wenn sie sich bewegte, blitzten die Spiegel, wenn auch nicht so farbenfroh wie das runde Dutzend Armbänder, die mit LED-Edelsteinen besetzt waren. Dazu passende »Edelsteine« befanden sich auch an ihren Sandalen, die ganz und gar unpraktisch aussahen. Ich wusste es besser. Buffy war eine Idealistin und in gewisser Weise auch dumm gewesen, aber sie hatte seit jeher gewusst, dass man immer gut vorbereitet sein musste, und sie hatte nicht ein einziges Paar Schuhe besessen, in dem man nicht rennen konnte.
Himmel, wie ich sie vermisse, sagte George so leise, dass ich sie fast nicht verstehen konnte.
»Ich auch«, murmelte ich ebenso leise.
Georgette »Buffy« Meissonier war die ursprüngliche Leiterin des Fiktiven-Ressorts gewesen. Sie hat praktisch das gesamte Computernetzwerk von Nach dem Jüngsten Tag eingerichtet. Sie war eine der wenigen mir bekannten Personen, die George zuverlässig zum Lächeln bringen konnten. Sie war lieb und lustig und verdammt schlau, sie war ein totaler Computerfreak, und jedes Mal, wenn ihr Name fällt, muss ich mich selbst daran erinnern, dass sie nichts von dem, was sie getan hat, wirklich böse gemeint hat. Klar, sie hat Tates Leuten Zugang zu unserem System verschafft, und klar, deshalb sind eine Menge Leute gestorben, aber sie hat es nur gut gemeint.
Buffy ist für ihre Taten gestorben. An manchen Tagen, wenn mir besonders wahnsinnig zumute ist, scheint mir das Strafe genug zu sein. Natürlich sind das auch die Tage, an denen ich mir einrede, dass George nicht tot ist, sondern nur – was weiß ich – irgendwie ungreifbar und stinksauer darüber. Aber meistens …
… meistens geht es mir nicht ganz so schlecht.
Maggie oder Becks – Maggie, vermutete ich – hatte Kelly den Großteil ihres Haars abgeschnitten und ihr nur ein paar wilde Stoppeln gelassen, die in alle Richtungen abstanden. Noch nie in meinem Leben war ich so glücklich über den Anblick einer blonden Frau gewesen, denn genau so hatte George immer ihr Haar getragen – so kurz, dass Zombies sie nicht daran packen konnten, aber lang genug, damit sie es nicht ständig nachschneiden musste. Wenn Kelly braune Haare gehabt hätte, dann hätte ich wahrscheinlich laut losgeschrien.
»Und?«, fragte Maggie.
»Stimmt.« Ich schluckte mehrere mögliche Antworten runter, angefangen bei »Kleider einer toten Freundin, Haarschnitt meiner toten Schwester, gute Arbeit«. Was mir sonst noch einfiel, war auch nicht gerade besser. »Sie sieht jedenfalls wirklich anders aus.« Ich hatte das Gefühl, noch etwas hinzufügen zu müssen, weshalb ich sagte: »Gute Arbeit.«
Unerklärlicherweise grinste Becks zufrieden.
Derweil betastete Kelly ihr Haar und sagte: »Ich habe mein Haar nicht mehr so kurz getragen, seit ich ein kleines Mädchen war. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich damit umgehen soll.«
»Lieber kahl geschoren als verhaftet, weil du der Seuchenschutzbehörde einen Streich gespielt hast, Doc«, erwiderte ich.
Kelly seufzte. »Ich wünschte, ich könnte da widersprechen.«
»Ich wünsche mir auch so einiges«, sagte ich und stand auf. »Kommt, Leute! Es geht los.«
Es war gar nicht so leicht, alle zusammenzutreiben und vors Haus zu scheuchen. Kelly war am Ende ihrer Kräfte und wollte zurückbleiben, was Maggies lautstarken Protest zur Folge hatte. Sie sagte, dass sie ihre Hunde nicht zusammen mit einer Fremden zurücklassen würde. Mir war zwar nicht ganz klar, was Kelly einem Rudel epileptischer Bulldoggen hätte antun sollen, aber Maggie blieb stur: Niemand außer ihr durfte ohne Aufsicht in ihrem Haus zurückbleiben – und offenbar zählte das riesige Heer von Ninja-Assassinen im Unterholz nicht als Aufsicht. Um es noch komplizierter zu machen, weigerte Maggie sich zurückzubleiben.
»Ich hab gerade erst Dave verloren«, sagte sie. »Ihr könnt nicht einfach wegfahren und mich hier zurücklassen. Wenn ich schon alles und jeden verlieren muss, dann komme ich mit euch mit.«
Da konnte ich nicht viel dagegen sagen.
Nach einer Menge Geschrei, ein wenig Betteln und Feilschen und der offenen Drohung, Alaric am Straßenrand sitzen zu lassen, fuhr Becks schließlich den Sendewagen, während Alaric vom Beifahrersitz aus die Foren betreute und Kelly hinten mitfuhr. Ich nahm das Motorrad, mit Maggie als Sozius. Sie bestand darauf, wahrscheinlich, weil sie Angst davor hatte, was sie Kelly antun würde, wenn sie sich längere Zeit in einem geschlossenen Raum mit ihr aufhielt. Den Doc traf keine Schuld an Daves Tod. Früher oder später würde Maggie das erkennen. Hoffte ich.
Ich bin niemals über weitere Strecken mit einem Beifahrer unterwegs gewesen – mit Ausnahme von George, die sich allerdings nicht auf das Fahrverhalten des Motorrads auswirkte und auch kein zusätzliches Gewicht darstellte. Ich selber war oft genug als Sozius mitgefahren, als George noch vorne gesessen hatte, aber das war ganz und gar nicht das Gleiche. Es war nicht besonders hilfreich, dass Maggie das Motorradfahren nicht gewohnt war und nicht wusste, wie man sein Gewicht verlagern musste, um keine Schlagseite zu bekommen. Bei ernsthaften Schwierigkeiten würden wir wahrscheinlich am Arsch sein.
Allerdings gibt es auf der Interstate 5 normalerweise kaum ernsthafte Schwierigkeiten. Die Kombination aus strengen Sicherheitsvorkehrungen, weiten Gebieten ohne menschliche Bewohner und dem Umstand, dass die meisten Leute kaum mehr als ein paar Kilometer weit unterwegs sind, hat die Gefahren von langen Autofahrten inzwischen deutlich verringert.
Buffy ist gestorben, als ein Heckenschütze dem Truck, in dem sie fuhr, die Reifen wegschoss. Aber abgesehen von derlei Kleinigkeiten ist so eine Reise völlig ungefährlich.
Ungefährlich. Was für ein Witz!
Fast sechs Stunden und fünfzehn Wachstationen später näherten wir uns Eugene. Die Interstate 5 war die schnellste Verbindung zu so ziemlich jeder größeren Stadt an der Westküste, aber sie hatte ihre Nachteile, wie zum Beispiel die ständigen Kontrollen. Jedes Mal, wenn wir in eine Stadt hinein- oder aus ihr hinausfuhren mussten oder, abhängig von der lokalen Definition von »Nähe«, auch nur zu nah an eine herankamen, mussten wir anhalten. Wo wollen Sie hin? Warum? Dürften wir Ihre Lizenzen sehen? Dürften wir die Nachweise dazu sehen? Möchten Sie sich vielleicht einem Netzhautscan unterziehen? Glauben Sie ernsthaft, dass Sie eine Wahl hätten?
Der Seuchenschutz hatte keinen Grund, unsere Spur zu verfolgen – zumindest noch nicht. Mit unseren Papieren war alles in Ordnung, und letztlich wurden wir bei jeder Kontrolle durchgewunken, aber trotzdem machten mich die ständigen Kontrollen nervös. Ich fühlte mich verfolgt. Aber nach den Ereignissen der vergangenen 24 Stunden war das wohl auch gerechtfertigt.
Das orangefarbene Licht am Rande meines Visiers meldete mir mit einem Blinken, dass ein Anruf wartete. »Annehmen«, sagte ich.
»He, Boss!« Alarics normalerweise lockerer Tonfall hatte etwas Angespanntes. »Laut GPS sind wir noch anderthalb Stunden von Portland entfernt. Rückst du bald die Zieladresse raus, oder spielen wir bis zur Ortseinfahrt Ratespielchen?«
»Wir fahren nicht nach Portland«, antwortete ich. Im Hintergrund hörte ich Becks fluchen. Fast musste ich lachen. »Sag Becks, dass sie sich nicht ins Hemd machen soll. Wir fahren zu einer Stadt bei Portland. Sie heißt Forest Grove. Dort müssen wir zu einem alten Gewerbegebiet, das während des Erwachens dichtgemacht und offiziell nie wieder eröffnet wurde. Die Adresse ist im GPS eingespeichert. Ich habe sie unter dem Namen ›Shauns geheimer Pornoladen‹ abgelegt.«
Reizend, bemerkte George.
»Iih«, machte Alaric. »In Ordnung, ich rufe jetzt die Koordinaten ab. Müssen wir sonst noch etwas wissen?«
»Ihr wisst genau so viel wie ich, und wenn nötig, könnt ihr weitere Informationen aus dem Doc herausholen.« Ich machte einen Schlenker, um einem Schlagloch auszuweichen, und spürte, wie Maggie sich fester um meine Hüfte klammerte. Für eine Frau, die fast nie das Haus verließ, blieb sie erstaunlich ruhig. Langsam fragte ich mich, was genau in dem »Kräutertee« gewesen war, den sie vor unserem Aufbruch getrunken hatte. »Wir sind zu einem illegalen Biotech-Labor unterwegs, um mit jemandem zu reden, mit dem der Seuchenschutz sich lieber nicht anlegt. Was soll schon schiefgehen?«
Eine ganze Weile kam keine Antwort, bis Alaric schließlich sagte: »Ich lege jetzt auf.«
»Das ist wahrscheinlich das Beste.«
»Du bist echt krank im Kopf.«
»Das dürfte stimmen. Wir sehen uns in Forest Grove.« Das orangefarbene Licht erlosch. Ich gestattete mir ein grimmiges Lachen und gab Gas. Unsere kleine Spritztour der Verdammten war unterwegs.
Hast du einen Plan?, fragte George.
»Nein, das weißt du doch«, antwortete ich. Ich machte mir keine Gedanken darum, dass Maggie meine Selbstgespräche mithören könnte. Das Brausen des Windes würde meine Stimme mitreißen. So seltsam es sein mochte, George und ich hatten ein gewisses Maß an Privatsphäre, obwohl jemand anders mit den Armen meine Hüften umklammerte. Wäre Maggie am Lenker gewesen, hätte ich mir vielleicht sogar vormachen können, dass die Welt noch so war, wie sie sein sollte, auch wenn die Illusion nur bis zum Ende der Fahrt gehalten hätte.
George lachte. Ich lächelte, entspannte mich und fuhr weiter. Nächster Halt: Forest Grove.
Das Caspell-Gewerbegebiet lag am Stadtrand, in einer Gegend, die wahrscheinlich als vielversprechender Standort gegolten hatte, bevor die Toten auf die Idee gekommen waren, wieder aufzustehen und durch die Gegend zu laufen. Es war nach einem Modell erbaut, das sich vor dem Erwachen großer Beliebtheit erfreut hatte, mit großen Freiflächen und breiten Wegen zwischen den Gebäuden. Ich hätte darauf gewettet, dass über die Hälfte der Gebäude wahrscheinlich irgendwann einmal automatische Türen gehabt hatten und in keiner Weise gegen die umherschlurfenden Infizierten gesichert waren. Es war kein Wunder, dass die örtlichen Behörden sich niemals die Mühe gemacht hatten, diesen Standort zurückzuerobern: Das einzig Besondere an ihm war, dass man ihn nicht niedergebrannt hatte.
Laut Kelly befand sich das, was wir suchten, im ehemaligen IT-Komplex, bei dessen Bau man sehr viel vernünftigeren Prinzipien gefolgt war: Er war luftdicht, wasserdicht und hatte keine Fenster, womit kein Kontaminationsrisiko bestand, solange man nicht vergaß abzuschließen. Georgia und ich sind in einem solchen IT-Komplex aus der alten Zeit zur Schule gegangen, und dort waren wir so sicher wie nur möglich gewesen. Es ergab eine Menge Sinn, sein Labor an einem solchen Ort einzurichten, insbesondere, wenn das restliche Gewerbegebiet eine hervorragende, wenn auch nicht ungefährliche Deckung bot. Nicht mal der mutigste Irwin würde durch Zufall darauf stoßen, und wenn einer blöd genug war, freiwillig hier herumzustolpern, dann würde er wahrscheinlich aufgefressen werden, ehe er ankam.
Das Parkhaus neigte sich besorgniserregend nach links. Ich begutachtete es, schüttelte den Kopf und fuhr weiter. Das letzte, was wir gebrauchen konnten, war, dass uns ein Parkhaus auf den Kopf fiel oder, schlimmer noch, dass es auf unsere Fahrzeuge fiel, während wir drinnen waren. Andererseits wären wir dann tot gewesen und hätten uns nicht mehr mit all dem Scheiß herumschlagen müssen.
Du hast ja heute echt eine wunderbare Laune, sagte George.
»Genieß es, wer weiß, wie lange sie vorhält«, erwiderte ich und fuhr weiter vorneweg durch das verlassene Gewerbegebiet. Maggie klammerte sich jedes Mal, wenn es holperte, etwas fester an mich, aber sie hielt still genug, damit ich nicht aus dem Gleichgewicht geriet. Das war gut so. Der aufgesprungene Asphalt war mit rostigem Metall, Glasscherben und anderen Trümmerstücken übersät: Falls wir uns langlegten, dann konnten wir von Glück reden, wenn wir mit einer Tetanusspritze davonkamen.
Die Ladebucht hinter dem IT-Komplex war leer und wies Spuren einer nicht allzu lang zurückliegenden Wartung auf. Das war vielversprechend. Ich fuhr vor, schaltete den Motor ab und wartete, bis Maggie abgestiegen war, ehe ich den Ständer ausklappte und das Motorrad auf ein relativ unbeschädigtes Stück Pflaster schob. Von den vielen Stunden auf der Straße taten mir die Oberschenkel weh, aber dafür fühlte ich mich so klar im Kopf wie schon seit Wochen nicht mehr. Bei mir hilft es immer, wenn ich endlich etwas unternehmen kann.
Ein paar Meter weiter hielt der Wagen. Noch bevor die Räder stillstanden, ging die Beifahrertür auf und Alaric sprang heraus. Während er uns entgegenlief, fummelte er an seiner Feldausrüstung herum. Ich nahm den Helm ab und grinste ihn schief an. »Hattest du eine angenehme Fahrt?«
»Ich hasse dich«, erwiderte er tonlos.
»Wie nett«, sagte Maggie. Alaric bedachte sie mit einem bösen Blick, worauf auch sie lächelnd den Helm absetzte. Ihre Pupillen waren leicht geweitet – nicht in dem außerordentlichen Maße, das auf eine aktive Infektion schließen ließ, sondern auf sanftere, entspanntere Art, die ich von meinen Begegnungen mit überspannten Reportern bei Pressekonferenzen kannte. Ihr Kräutertee enthielt eindeutig die eine oder andere Spezialzutat.
Ich dachte darüber nach, sie beiseite zu nehmen, um mich mit ihr über die Einnahme von psychoaktiven Substanzen vor Feldeinsätzen zu unterhalten, beschloss aber, es ihr durchgehen zu lassen. Schließlich nahm sie nicht an Gefechten teil. Sie und Kelly waren reiner Ballast, wenn wir angegriffen wurden. Da konnte sie genauso gut halb betäubter Ballast sein, falls die Sache schlecht lief. So, wie die Dinge lagen, durfte sie nur deshalb legalerweise mit uns unterwegs sein, weil die Gegend laut städtischer Zonenverordnung offiziell sicher war. Allerdings wirklich nur offiziell.
Becks stieg als Nächste aus. Sie hatte ihre Feldausrüstung bereits umgeschnallt. Ihr Stirnrunzeln sah aus wie festgewachsen. »Du bist mir was schuldig«, sagte sie und blieb neben Alaric stehen.
»Ich oder Maggie?«
»Ja. Nein. Ich weiß nicht. Die einzige Möglichkeit, sie ruhigzustellen, war das Radio auf den Ärzte-Nachrichtenkanal zu stellen. Wenn ich mir noch eine Minute länger hätte anhören müssen, was für aufregende neue Entwicklungen es in der Pharmazie gibt, dann hätte ich ihren Kopf genommen und …«
Kellys zögerliches Auftauchen ersparte uns weitere Einzelheiten. Sie warf einen verschreckten Blick auf den Parkplatz, ehe sie uns entgegeneilte und fragte: »Was machen wir hier?«
»Das ist die Adresse, zu der wir laut deiner Akten hinmüssen, Doc.«
»Das muss ein Irrtum sein.«
»Nein. Untergrundlabor, Untergrundanlagen.« Ich klemmte mir den Helm unter den Arm und betrachtete die abgesackten Gebäude um uns herum. »Sieht jemand Hausnummern? Wir suchen die elf.«
»Du willst doch nicht ernsthaft, dass wir da reingehen«, sagte Kelly.
»Nein, Doc, wir sind gerade ein paar Hundert Kilometer gefahren, um auf dem Bürgersteig herumzustolzieren.« Becks schüttelte den Kopf und wandte sich dann ab, um auf eines der Gebäude zuzuhalten, auf der Suche nach weiteren Anzeichen von Bewohnern.
Kelly seufzte. »Der Tag wird immer besser.«
»Keine Bange. Ich bin mir sicher, dass wir schon bald auf diesen Augenblick zurückblicken und feststellen werden, wie gut wir es hatten.« Ich folgte Maggie, und dicht hinter mir kam Alaric. Kelly blieb einen Moment lang, wo sie war, und starrte uns hinterher. Ich sah sie aus dem Augenwinkel. Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht laut loszulachen – was zugegebenermaßen ganz und gar unangemessen gewesen wäre, sich aber verdammt gut angefühlt hätte.
Sei vorsichtig, warnte mich George. Wenn du zu viel Druck auf sie ausübst, dreht sie durch. Wir müssen hier ruhig bleiben und zusammenarbeiten. Wir dürfen nicht aufhören, miteinander zu reden.
»Ich dachte, sie hätte uns bereits alles gesagt«, brummte ich, während Kelly loslief, um zu uns aufzuschließen. Alaric warf mir einen Blick zu, sagte jedoch nichts.
So dumm bist du nicht.
Darauf hatte ich nichts zu erwidern. Während ich weiterging, begutachtete ich die Gebäude um uns herum. Ich rechnete eigentlich nicht mit einem großen Schild, auf dem HIER ILLEGALES VIROLOGIE-LABOR stand, aber nett wäre es gewesen. Die Gebäude des IT-Komplexes wirkten im Prinzip alle gleich, quadratisch und halbwegs gut instand gehalten, wenn man nicht nach dem Anstrich ging. Auf einem nahen Dach befand sich ein noch vollständiger Satz Mobiltelefon-Antennen, die ein vertrautes Zickzackmuster vor dem Nachmittagshimmel bildeten.
Ich verharrte. Verwirrt blieb auch Alaric stehen. »In welchem Jahr wurden private Telefonantennen für jeden Wohnblock eingeführt? Hat jemand eine Ahnung?«
»Äh … 2020«, sagte Alaric nach einer langen Kopfrechenpause. »Ich kann mich noch dran erinnern, wie sie unsere eingebaut haben.«
»Stimmt. Und der Komplex hier stammt aus der alten Zeit. Wer hat die Dinger also installiert?« Ich zeigte mit dem Daumen auf die Antennen.
»Alaric riss die Augen auf. »Oh!«
»Ja, oh! Hier drüben, Leute.« Ich winkte die anderen heran und ging über das aufgesprungene Pflaster Richtung Eingangstür. Verschlossen. Nicht weiter verwunderlich. Wenn ich ein illegales Biotechlabor betreiben würde, dann würde ich auch nicht gern Überraschungsbesuche von Plünderern und Abenteurern erhalten wollen. Ich klopfte an die metallene Tür und hörte das dumpfe Echo im Raum dahinter.
Niemand reagierte. Auch das war nicht weiter verwunderlich. Vielleicht sollten wir das Schloss aufschießen«, schlug Becks vor.
Ich bedachte sie mit einem zweifelnden Blick. »Hast du gerade vorgeschlagen, eine Schusswaffe auf eine Tür abzufeuern, hinter der sich ein Labor befinden könnte? Ein Labor mit, du weißt schon, explosiven Chemikalien, verrückten Maschinen und Gott weiß was noch drin?«
Becks zuckte mit den Schultern. »Zumindest tun wir dann irgendwas.«
»Wir tun jetzt gerade etwas. Wir gehen da rein.« Ich klopfte erneut. Nach ein paar Sekunden Stille räusperte ich mich und rief: »Hier ist Shaun Mason von Nach dem Jüngsten Tag. Wir möchten zu Dr. Abbey. Ist sie zu sprechen? Es geht um die Sache mit den Reservoirkrankheiten.«
Das Echo meines Klopfens war noch nicht verhallt, als die Tür auch schon aufging und dahinter eine kleine, fröhlich dreinblickende, gut gebaute Frau zum Vorschein kam, mit braunen, nach allen Seiten abstehenden Haaren, in die scheinbar nach dem Zufallsprinzip einige gebleichte Strähnen verteilt waren. Sie trug ein neonorangefarbenes T-Shirt, auf dem NERV NICHT DEN OKTOPUS stand, Jeans und einen Laborkittel, und sie hielt ein Jagdgewehr auf meine Brust gerichtet.
»Kannst du dich ausweisen?«, fragte sie. Ihr Tonfall war locker, geradezu charmant, und sie hatte einen Akzent, den ich nicht genau zuordnen konnte. Auf die Frage folgte ein freundliches Lächeln, das sich allerdings nicht in ihren Augen widerspiegelte. Diese Frau würde, ohne zu zögern, abdrücken, wenn sie der Meinung war, dass wir ihr einen Grund dazu gegeben hätten.
Nicht die denkbar freundlichste Begrüßung, aber auch nicht die unfreundlichste, sagte George. Kelly schnappte nach Luft, entweder vor Schreck oder vor Empörung. Egal, so konnte ich etwas erwidern, ohne dass die Frau mit der großen Knarre mich von Anfang an für verrückt hielt. Das durfte gerne noch warten, bis sie nicht mehr mit ihrer Waffe auf uns zielte.
»Still«, sagte ich und achtete dabei darauf, Kelly einen Seitenblick zuzuwerfen, sodass es wenigstens so aussah, als würde ich mit ihr reden. Dann schaute ich wieder zu der Frau in der Tür und fragte: »Darf ich in meine Jackentasche greifen, um meinen Presseausweis rauszuholen? Ich verspreche, langsam zu machen.«
»Von mir aus«, antwortete sie noch immer lächelnd. »Joe! Komm mal hier rüber, Junge!« Der größte Hund, den ich je gesehen hatte, kam hinter ihr hervor. Von seinen Schlabberbacken troffen zähe weiße Speichelfäden. Sein Kopf kam mir größer vor als mein Brustkorb. Vielleicht war es nur der Schock, aber in diesem Moment hätte ich das um keinen Preis nachmessen wollen. Dazu kam noch, dass das verdammte Vieh kohlrabenschwarz war, wodurch es verstörend nach einem klassischen Höllenhund aussah.
Kelly schnappte erneut nach Luft. Diesmal konnte ich es ihr nicht verdenken. Selbst Becks keuchte auf, und Maggie hörte ich etwas murmeln, was verdächtig nach »Heilige Scheiße!« klang.
»Joe, pass auf sie auf«, sagte die Frau mit dem Gewehr. Gehorsam trottete das massige Tier auf den Bürgersteig heraus und stellte sich zwischen sie und uns. Er knurrte nicht, schaute uns nicht böse an und tat auch sonst von sich aus nichts Bedrohliches. Er stand einfach nur da und war riesig. Das war mehr als genug.
Ich griff langsam in meine Jackentasche und stellte die vernünftigste Frage, die mir unter den gegebenen Umständen einfiel: »Werte Dame, was zum Teufel ist das?«
Ja, genau. Mach dich bei der Frau unbeliebt, die Cujo als Accessoire hat. Ich bin es sowieso leid, als Einzige von uns beiden tot zu sein.
Ich beachtete George nicht und richtete meine Aufmerksamkeit stattdessen auf die Frau, die mich jeden Augenblick töten konnte. Man kann mich da durchaus als stur bezeichnen. Aber lieber konzentriere ich mich aufs Überleben, und verschiebe die Konversation mit sarkastischen Toten auf später.
»Das ist Joe«, sagte die Frau, wobei sie das Gewehr unbeirrt auf mich gerichtet hielt. »Er hat sich schon vor mir ausgewiesen. Deshalb schwebt er auch nicht in Gefahr, erschossen zu werden.«
»Das ist eine englische Dogge«, hauchte Maggie beinahe ehrfürchtig. Sie trat einen Schritt vor, eine Hand zu einer Geste ausgestreckt, die ich sie auf ihrem Videoblog hatte machen sehen, wenn sie ihrem Miniaturrudel einen neuen Flüchtling hinzufügte. Mitten in der Bewegung erstarrte sie, und ihr Blick huschte zu der Frau mit dem Gewehr. »Ist er gutartig?«
»Sobald ihr euch ausgewiesen habt, wird er sehr freundlich sein.« Trotzdem wurde das Lächeln der Frau mit dem Jagdgewehr etwas herzlicher. »Joe ist ein guter Junge. Er frisst nur dann Menschen, wenn ich es ihm sage.«
»Wie ermutigend«, brummte ich und hielt ihr meine Journalistenlizenz hin. »Hier. Alle Qualifikationen und Beglaubigungen kann man abrufen. Einfach den Code eingeben.«
»Und deine Leute?« Ohne meine Lizenz entgegenzunehmen deutete sie mit einer knappen Kopfbewegung zu den anderen.
»Rebecca Atherton, Leiterin unserer Irwins. Magdalene Garcia, sie leitet die Fiktiven. Alaric Kwong, er gehört zu den Newsies. Der eigentliche Leiter des Ressorts wohnt in London und ist heute nicht dabei. Und das hier ist …« Einen schrecklichen Moment lang fiel mir Kellys Deckname nicht ein.
Barbara Tinney, sagte George ihn mir vor.
»Barbara Tinney«, wiederholte ich. »Eine Sozialwissenschaftlerin, die für ein paar Monate bei unserer Website mitarbeitet. Um etwas Felderfahrung zu sammeln.«
Dem Gesichtsausdruck der Frau nach zu schließen kaufte sie mir das nicht ab. »Aha! Und was macht ihr hier? Seid ihr auf dem Weg zu eurer nächsten Schlagzeile falsch abgebogen?«
Ich hatte zwei Möglichkeiten. Ich konnte versuchen, mir eine plausibel klingende Lüge einfallen zu lassen, oder ich konnte ihr die Wahrheit sagen. Früher hätte ich mich sofort für die Lüge entschieden, je interessanter, desto besser. Heutzutage fühle ich mich mit so etwas nicht mehr so wohl. »Wir sind hier, um Dr. Abbey zu sehen«, sagte ich, wobei ich ihr nach wie vor meine Lizenz hinhielt. »Ich habe Datenmaterial von der Seuchenschutzbehörde, das mir jemand erklären muss, und ich dachte mir, dass sie möglicherweise die Richtige dafür ist.«
Sie hob andeutungsweise die Brauen.
Ich hatte ihr Interesse geweckt. Also beschloss ich, nicht locker zu lassen. »Ich weiß ja nicht, ob Sie die Nachrichten mitverfolgen, aber meine Schwester Georgia Mason …«
»Retinales Kellis-Amberlee, nicht wahr? Ich erinnere mich. Eine echte Tragödie. Es tat mir sehr leid, davon zu hören.« Der Lauf des Gewehrs geriet ein bisschen ins Wanken. »Aber ich brauche einen besseren Grund dafür, dass ihr hier seid und nicht irgendwo in einem ›richtigen‹ Labor.«
Sag es ihr! Georges mentale Stimme hatte einen schneidenden Klang, den ich bei ihr nur selten gehört hatte, selbst als sie noch gelebt hatte. Ich konnte es ihr schwerlich verdenken. Die Geheimniskrämerei der Seuchenschutzbehörde war möglicherweise der Grund dafür, dass sie nur noch als Stimme in meinem Kopf existierte.
Ich konnte genauso gut alles auf eine Karte setzen. »Barbara Tinney ist die Tarnidentität von Dr. Kelly Connolly vom Seuchenschutz. Die Wissenschaftlerin, die kürzlich bei einem Einbruch ermordet wurde, war ein Ganzkörper-Klon. Die echte Dr. Connolly ist nicht ums Leben gekommen, sie ist hier.« Diesmal war Kellys entsetzte Miene deutlich zu erkennen. Ich gab mir alle Mühe, nicht darauf zu achten. »Von ihr haben wir das Datenmaterial, in dem eben dieses Labor als hinreichend verrufen dargestellt wird, dass niemand uns ausgerechnet hier vermuten würde, solange wir noch unseren Hintern mit beiden Händen finden. Von dem riesigen Hund stand allerdings nichts da, sonst wären wir vielleicht anderswohin gefahren. Also, sind Sie Dr. Abbey, oder können Sie uns sagen, wo wir sie finden? Es wird langsam ein bisschen ungemütlich, hier mitten im Nirgendwo herumzustehen.«
»Tja, warum habt ihr das nicht gleich gesagt?« Die Frau mit den abstehenden Haaren ließ das Gewehr sinken und lächelte mit einem Mal offenherzig. »Ich bin Dr. Abbey – ihr könnt mich Shannon nennen –, und ich freue mich darüber, Besuch zu haben. Insbesondere, wenn dieser Besuch so interessante Bekanntschaften hat.« Als ihr Blick auf Kelly fiel, verblasste ihr Lächeln ein wenig, doch Kelly war zu sehr damit beschäftigt, mich anzustarren, um etwas davon zu bemerken. »Wie wäre es, wenn ihr erst einmal reinkommt, dann klären wir alles Weitere.«
Alaric fand schließlich seine Stimme wieder. Schwer schluckend fragte er: »Kommt … kommt der Hund auch mit?«
»Natürlich tut er das. Joe ist mein Laborleiter, hab ich recht, Joe?« Der riesige Hund antwortete mit einem Bellen, das mir in den Ohren wehtat, und klopfte mit dem wedelnden Schwanz auf den Boden. Maggie sah aus, als müsste sie schwer an sich halten, um nicht zu ihm hinzurennen und sich ihm an den Hals zu werfen. Als Dr. Abbey ihren Blick bemerkte, lachte sie. »Er beißt nicht. Joe, diese Leute sind willkommene Besucher. Verstanden?« Der Hund stand schwanzwedelnd da.
»Heißt das, dass ich ihn streicheln darf?«, fragte Maggie eifrig.
»Kannst du diese laufende Straftat bitte erst streicheln, wenn wir drinnen sind?«, fragte ich.
»Kommt!« Dr. Abbey trat beiseite und winkte uns herein. »Ladies first.«
»Damit sind wir gemeint, Prinzessin.« Becks hakte sich bei Kelly unter und zog die widerstrebende Ärztin mit sich durch die Tür ins Labor. Maggie folgte den beiden, wobei sie weiterhin sehnsuchtsvoll zu dem Hund schaute. Alaric bedachte mich mit einem nervösen Blick und folgte ihr dann. Wahrscheinlich wollte er sie nicht mit einer ausgewachsenen verrückten Wissenschaftlerin allein lassen.
Dr. Abbey musterte mich mit gehobener Braue. »Kommst du auch mit?«
»Ja. Danke!« Ich gab mir alle Mühe, selbstsicher einzutreten, und ging dabei sogar so weit, ihrem riesenhaften Haustier im Vorbeigehen den Kopf zu tätscheln. »Braves Hundchen.«
Tief aus Joes Kehle drang ein Wuff-Laut. Ich hoffte, das bedeutete, dass er sich freute, und nicht, dass er vorhatte, mir den Arm abzubeißen. Das Gesetz, das es verbietet, im Stadtgebiet Haustiere zu halten, die groß genug für eine Kellis-Amberlee-Vermehrung sind, ist nach meiner Familie benannt. Deshalb hatte ich mit Ausnahme von Maggies epileptischen Bonsai-Bulldoggen nie viel Erfahrungen mit Hunden gemacht.
Dr. Abbey schnaubte belustigt und folgte mir ins Innere. Joe trottete hinter ihr her und erstickte so das letzte bisschen Hoffnung, dass er draußen bleiben würde, um den Bürgersteig zu bewachen oder so.
Ich war so sehr damit beschäftigt, den Hund im Auge zu behalten, dass ich gegen Becks prallte und sie dabei ein Stück nach vorne stieß. »He, aufgepasst«, rief ich.
Shaun, zischte George. Sieh doch!
Ich sah hin. Und verstand sofort, warum der Rest meiner Truppe wie angewurzelt am Ende des kurzen Vorraums stehen geblieben war und in die lagerhausartigen Tiefen des ehemaligen IT-Gebäudes starrte. Ich hatte mit einer schmuddeligen kleinen Kellerklitsche gerechnet, technisch etwa auf dem Stand einer Piratensender-Website von ein paar kleinen Jungs, die noch bei ihren Eltern wohnten. Doch das hier war ein funktionstüchtiges Labor, das zwar abseits aller vernünftigen Sicherheitsprotokolle arbeitete, dessen Ausstattung meine Erwartungen aber trotzdem weit übertraf.
Alle nicht tragenden Wände waren entfernt und durch ein Labyrinth aus Arbeitsabteilen, tragbaren Isolationszelten und Tierkäfigen ersetzt worden. Aufgetürmte Server standen Seite an Seite mit Kaninchenställen. Verteilt über den ganzen Boden sah man hydroponische Behälter, in denen Pflanzen wuchsen, die mir aus Maggies Garten vage bekannt vorkamen. Es herrschte ein gleichmäßiges weißes Licht, und rund die Hälfte der Leute, die zwischen den Computern umherliefen, trugen entweder Sonnenbrillen oder die durchsichtigen Plastikbänder, die in Krankenhäusern manchmal benutzt werden, um die Augen von Patienten mit Reservoirkrankheiten zu schützen.
Kelly starrte mit einer Miene völligen Entsetzens auf die Szenerie. »Das ist … grauenvoll«, hauchte sie und drehte sich zu mir um. »Wir müssen hier raus. Das ist widerwärtig. Hier werden so viele medizinische und ethische Bestimmungen verletzt, dass sie sich kaum zählen lassen, und …«
»Und weil das Labor hier nicht unter der Kontrolle des Seuchenschutzes steht, bedeutet das, dass man die Regeln hier nicht brechen darf, habe ich recht?«, fragte Maggie. Ihr Tonfall war eisig.
Kelly hielt in ihrer Tirade inne und holte zitternd Luft. »Du verstehst das nicht«, sagte sie gedehnt. »Das ist … die könnten hier, mit dieser Ausrüstung, Unvorstellbares tun. Das da ist ein Gensequenzer.« Sie deutete auf eine Maschine, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. »Damit könnten sie eine ganz neue Variante des Virus entwickeln, wenn sie wollten.«
»Verärgern wir diese netten Leute nicht, ja?«, bat ich. »Du kannst dich später über ihre Ethik empören. Wenn wir gerade nicht in der Unterzahl sind.« In einem Labor dieser Größe bereitete es wahrscheinlich überhaupt keine Schwierigkeiten, Leichen zu entsorgen. Ich wollte Dr. Abbey auf gar keinen Fall einen Grund geben, sich unser zu entledigen.
Der Riesenhund – Joe – schlenderte heran und blieb freundlich hechelnd neben mir stehen. Sofort ging Maggie in die Hocke und streckte ihm mit den Knöcheln nach oben die Hand hin, so als hätte sie es mit einem ihrer eigenen, weit weniger furchteinflößenden Hunde zu tun. Joe ließ sich dazu herab, an ihr zu schnuppern. Kurz darauf sabberte er ihr die Hand voll und wedelte begeistert mit dem Schwanz, als sie ihn mit der anderen Hand hinter dem Ohr kraulte.
»Die meisten Leute gehen längst nicht so locker mit Joe um«, sagte Dr. Abbey, als sie zu uns zurückkehrte. Sie hatte ihr Gewehr irgendwo zwischen Tür und Laborbereich zurückgelassen, trug jedoch nach wie vor ihren Kittel. Zumindest bei einem Teil der Deckenlampen handelte es sich offenbar um Schwarzlichtröhren, wie auch George sie bevorzugt hatte, denn der Stoff strahlte ein leichtes Leuchten ab.
»Die meisten Leute riskieren nur ungern eine Infektion, wenn es nicht absolut nötig ist«, sagte Kelly.
»Tja, solche Leute haben den Stock meterweit im Arsch«, erwiderte Dr. Abbey. »Außerdem stellt Joe keine Gefahr da. Er ist immun, nicht wahr, Schätzchen?« Die Dogge, die noch immer heftig mit dem Schwanz wedelte, blickte auf, als sie ihren Namen hörte.
Wir übrigen starrten Dr. Abbey an – mit Ausnahme von Maggie, die nach wie vor voll und ganz im Bann des Riesenviechs stand. Überraschenderweise war es Alaric, der als Erster seine Stimme wiederfand. »Ist das dein Ernst? Immun? Aber er wiegt definitiv über vierzig Kilo. Wie kann er immun sein?«
Dr. Abbey zuckte mit den Schultern. »Er hat die Hundevariante von fünf Reservoirkrankheiten und entwickelt laut ersten Anzeichen gerade eine sechste. Er wird niemals Vater werden, da seine dritte Kellis-Amberlee-Erkrankung die Hoden betraf – danach musste ich den armen Jungen kastrieren lassen. Aber er wird auch niemals eine ausgewachsene Virenvermehrung erleiden. Er ist immun.«
Meine Gedanken rasten, während ich versuchte, ihre Worte zu verarbeiten. Es war nicht sonderlich hilfreich, dass George in meinem Kopf herumschrie, Antworten verlangte und gleichzeitig bestritt, dass etwas an Dr. Abbeys Behauptungen dran sein könnte. Kelly schaute Dr. Abbey an, ihr Mund bewegte sich lautlos und formte einen Einspruch, der nicht herauswollte. Selbst Becks starrte sie bloß an. So verblüfft hatte ich sie noch nie gesehen. Das will einiges heißen, denn Becks ist praktisch nie verblüfft. Wer als Newsie oder Irwin Zeit im Feld verbracht hat, ist nicht so leicht zu erschüttern.
Maggie löste sich von ihrer hingebungsvollen Beschäftigung mit Joe, und eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen, als sie Dr. Abbey musterte. »Fünf Reservoirkrankheiten bei einem Hund?« Dr. Abbey nickte. »Aber wie? Ich habe noch nie von einem Lebewesen gehört, sei es Mensch oder Hund, das mehr als eine entwickelt hat.«
»Ach, das war der einfache Teil«, sagte Dr. Abbey strahlend. Ihr Lächeln zeugte von unverfälschtem Berufsstolz. »Ich habe sie bei ihm ausgelöst.«
Das brachte uns alle zum Schweigen, einschließlich George. Maggie löste die Hände von dem Hund. Das entfernte Piepen der Computer, das gelegentliche Quieken oder Bellen eines Labortiers und die Schritte der übrigen Labortechniker bildeten eine seltsame Geräuschkulisse. Joe schaute zwischen den Menschen hin und her und bellte laut.
Dr. Abbey streckte die Hand aus, um ihm den Kopf zu tätscheln. »Tja, da wir offensichtlich eine Menge zu bereden haben ... wie wäre es, wenn ihr in mein Büro mitkommt? Dort habe ich Tee und Gebäck, und dort kann ich euch auch erzählen, wie es mir gelungen ist, die Naturgesetze umzukrempeln. Komm mit, Joe!« Mit einem Wink bedeutete sie uns, ihr zu folgen, und trat in das von geschäftiger Aktivität erfüllte Labor.
»Gehen wir mit?«, fragte Alaric.
»Hast du eine bessere Idee?«
»Nein«, sagte er missmutig.
»Na dann! Wir folgen also der verrückten Frau in den Tod.« Schulterzuckend und so lässig wie möglich ging ich Dr. Abbey hinterher. Der Tag wurde von Minute zu Minute interessanter. Ich konnte nur hoffen, dass wir auch noch dazu kommen würden, davon zu erzählen.
Die Natur der sogenannten Reservoirkrankheiten ist nie vollständig geklärt worden, obwohl eine ganze Reihe mehr oder weniger vernünftiger Theorien im Angebot sind. Warum wird das KA-Virus nur in bestimmten Körperregionen aktiv? Warum verbreitet es sich nicht nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie sonst? Warum ist retinales KA besonders bei Frauen verbreitet, während Hirn-Rückenmarks-KA vor allem bei Männern auftritt? Niemand scheint eine Ahnung zu haben.
Was wir wissen, ist, dass die Reservoirkrankheiten sich ausbreiten. Die Anzahl der registrierten Fälle von retinalem, Hirn-Rückenmarks-, Eierstock-, Hoden- und Hypophysen-KA ist sowohl in menschlichen als auch in tierischen Wirten im Laufe der vergangenen elf Jahre um über 18% gestiegen. Es gibt Gerüchte über das Auftreten neuer Reservoirkrankheiten mit schaurigen Namen wie Herz- oder Lungen-KA. Und trotzdem weiß bislang niemand, wie es dazu kommt.
Alles in allem drängt sich die Frage auf, ob die Menschheit wirklich noch einmal davongekommen ist … oder ob das Ende lediglich um ein oder zwei Jahrzehnte aufgeschoben wurde.
Aus Epidemologie der Mauer von Mahir Gowda, 11. Januar 2041.