20
Ich bin mir nicht sicher, ob jemand von uns in jener Nacht ein Auge zugetan hat. Solange wir unterwegs waren, wahrten wir Internet-Funkstille: keine Uploads, keine Beiträge in den Foren, nichts, was man zurückverfolgen konnte oder womit man unsere Anwesenheit hier hätte nachweisen können. Das schloss auch Telefonanrufe ein, da die GPS-Chips unserer Telefone sich aktivieren würden, wenn wir sie einschalteten. Seit wir Weed verlassen hatten, waren wir sehr vorsichtig gewesen – hoffentlich vorsichtig genug.
Es waren die Bluttests, die mir Sorgen machten. Man kann in Amerika nicht ohne mindestens einen Bluttest am Tag leben, und normalerweise – meistens – brauchte es mehr. Wir hatten an Kontrollstellen und in Lebensmittelgeschäften im ganzen Land Blutproben abgegeben, und wenn der Seuchenschutz irgendwie Zugang zu den Ergebnissen hatte, dann waren wir am Arsch.
Oh, die Seuchenschutzbehörde schwört natürlich, dass sie saubere Ergebnisse nicht zurückverfolgt, sondern nur diejenigen, bei denen der Test eine aktive Infektion anzeigt, aber niemand weiß das mit Sicherheit. Rechtlich gesehen dürfen sie saubere Ergebnisse überhaupt nicht zurückverfolgen. Wenn es nicht auf eine Virenvermehrung hinweist, dann muss der Test anonym bleiben. Man darf ihn nicht für eine Fahndung oder für medizinische Profile einsetzen – es gibt da ein praktisches kleines Gerichtsurteil zu dem Thema. Natürlich hätten die Versicherungsgesellschaften nur zu gerne einen Vorwand, das Blut von jedem einzelnen Menschen in diesem Land auf bestehende Krankheiten hin zu analysieren. Die Ironie dabei ist, dass die Versicherungen eigentlich über die nötigen Mittel verfügen, um die Verwendung beliebiger Bluttestergebnisse durchzudrücken, aber im Vergleich zur Pharmaindustrie sind sie doch Hungerleider, und die Pharmaindustrie will nicht ihren Kundenstamm verlieren, weil die Leute sich keinen Versicherungsschutz mehr leisten können. Auch das haben wir Garcia Pharmazeutika zu verdanken.
Wir verließen das Motel morgens um vier Uhr dreißig. Der Himmel war noch pechschwarz und die Straßen verlassen. Wir hatten vor, etwa fünfzehn Minuten vor den Putzkräften bei der Seuchenschutzbehörde einzutreffen, den Wagen auf dem Parkplatz für die Personalfahrzeuge abzustellen und durch eine Seitentür reinzugehen, solange das Gelände noch weitgehend verlassen war. Es war ein riskanter Plan, aber auch nicht schlechter als unsere anderen Ideen und besser als so manche davon. Maggies Transporter sah hinreichend neutral aus, damit man ihn nicht weiter beachten würde, und nicht so übertrieben unauffällig wie beispielsweise ein weißer Wagen mit verdunkelten Scheiben es gewesen wäre. Solche Fahrzeuge ziehen genau deshalb die Aufmerksamkeit auf sich, weil sie unauffällig wirken sollen.
Während der ersten Fahrtstunde waren Kelly und ich als Einzige im Auto wach. Sie saß neben mir auf dem Beifahrersitz – was ebenfalls riskant war, da ihr Tod in der Gegend von Memphis tagelang Presse gemacht hatte. »Ärztin stirbt heldenhaft im Dienst« ist die Sorte Schlagzeile, die sich hält. Newsies mögen solche Nachrichtenstorys: Wenn sonst nicht viel läuft, können sie immer wieder auf sie zurückkommen, um auch das letzte bisschen aus ihr herauszupressen. Andererseits war es Kelly, die mir den Weg durch die Wohngebiete und die Abkürzungen zeigen konnte, die man nur kannte, wenn man aus der Gegend war. Das, was sie zu einer möglichen Gefahr machte, machte sie zugleich zu einer wichtigen Ressource.
Aber war das nicht schon die ganze Zeit so gewesen?
Die Sonne zog gerade eine feurige Linie über den Horizont, als wir den Rand von Memphis erreichten. Ich schaltete das Radio ein und drehte es auf, sobald es einen Sender gefunden hatte. Old Republic schallte durch den Wagen. »Ein Klassiker!«, rief ich Kelly zu. Ich musste schreien, sonst hätte sie mich bei der lauten Musik nicht verstanden. »Großartig! Ich hasse diesen Scheiß!«
Nach dem lauten Fluchen von hinten zu urteilen hassten Becks und Mahir ihn sogar noch mehr. »Mach die Kacke aus!«, rief Becks und verpasste mir einen festen Klaps auf den Hinterkopf.
Grinsend drehte ich das Radio leiser. »Guten Morgen, mein Sonnenschein.« Kelly lächelte hinter vorgehaltener Hand. Das war gut. Je entspannter wir alle an diese Sache herangingen, desto besser standen unsere Chancen, lebend wieder herauszukommen. »Gut geschlafen?«
»Ich sollte dir eine Kugel in deinen verdammten Kopf jagen, dich am Straßenrand liegen lassen und zum Motel zurückfahren, um nicht weitere sechs Stunden in diesem Wagen zu verbringen«, sagte Mahir.
»Das ist ein Ja. Wasser ist in der Kühlbox. Wer braucht eine Koffeintablette?«
Alle brauchten Koffeintabletten. Kelly teilte sie aus, drei für jeden. Ich spülte meine mit Cola hinunter, Mahir und Kelly ihre mit Wasser, und Becks schluckte sie trocken. Ich sagte nichts. Manche Leute hören laut Rockmusik aus der alten Zeit, manche Leute ziehen sich Laborkittel an, und manche versuchen zu beweisen, dass sie die Härtesten sind. Wenn Becks sich so besser fühlte, hatte ich kein Problem damit.
Wie Kelly versprochen hatte, kamen wir ohne Schwierigkeiten auf den Parkplatz fürs Wartungspersonal. Nur ein einziger Bluttest wurde benötigt, um durch das Tor zu kommen, und der wurde von einem unbemannten Wachhäuschen durchgeführt. »Ich kann nicht behaupten, dass ich von den hiesigen Sicherheitsvorkehrungen besonders beeindruckt bin«, sagte ich. »In Portland reinzukommen war sehr viel schwerer.«
»Die Anlage in Portland hatte auch geöffnet, als du da warst«, erwiderte Kelly. »Vertrau mir! Ab hier wird es immer schlimmer.«
Aus irgendeinem Grund war mir nicht danach zu widersprechen.
Ich hielt so dicht beim Gebäude, wie ich es wagte, indem ich den Wagen auf einen Platz fuhr, der größtenteils hinter einem großen stählernen Generatorgehäuse verborgen war. Becks war aus dem Auto, bevor ich auch nur den Motor ausgeschaltet hatte. Sie drehte sich langsam um ihre eigene Achse, die Pistole nach unten von sich weg haltend, sodass sie sie gegebenenfalls nicht erst ziehen musste. Mahir folgte ihr nach draußen, wirkte aber weniger aggressiv, als er neben dem Wagen Position bezog. Ich warf Kelly einen Blick zu.
»Bist du bereit?«
»Nein«, antwortete sie und stieg aus.
Ich seufzte. »Bin ich bereit?«
Nein, sagte George. Aber jetzt ist es zu spät, um umzukehren.
»Das ist wohl nur fair.« Ich öffnete den Aschenbecher und ließ den Autoschlüssel hineinfallen. Wenn ich es nicht aus dem Gebäude schaffte, würden die anderen sich so nicht damit herumschlagen müssen, den Wagen kurzzuschließen, bevor sie abhauen konnten. »Jetzt kriegst du was zu sehen.«
Ich machte die Tür auf und stieg aus.
Wir boten auf unserem Weg über den Parkplatz sicher einen seltsamen Anblick. Kelly ging ausnahmsweise voran, und ihr weißer Laborkittel leuchtete wie ein Banner im schwachen Licht des frühen Morgens. Becks folgte dich hinter ihr und gab ihr Deckung. Sie trug eine Hose mit Tarnmuster, Laufschuhe und eine olivfarbene Jacke mit eingenähtem kugelsicherem Gewebe. Sogar ihr Haar hatte sie zu einem festen Knoten hochgebunden, der vor laufender Kamera lausig ausgesehen hätte, die Wahrscheinlichkeit, dass es ihr in die Augen fiel, aber deutlich verringerte. Mahir ging praktisch direkt neben Becks. Ohne seine weißen Turnschuhe hätte er wie ein Professor ausgesehen, der gerade aus Oxford zu Besuch war. Ich bildete mit meinen üblichen metallverstärkten Jeans, meinem Baumwollhemd und meiner Tweedjacke das Schlusslicht. Nicht unbedingt eine Gruppe von Leuten, wie sie normalerweise noch vor Sonnenaufgang bei der Seuchenschutzbehörde Memphis reinmarschiert.
Die erste Tür war mit einem richtigen mechanischen Schloss versehen, die Sorte, für die man einen Schlüssel braucht. »Kein Bluttest, um reinzukommen?«, fragte Becks ungläubig.
»Hier noch nicht«, antwortete Kelly und kramte in ihrer Handtasche herum. »Wenn das Virus bei dir aktiv wird, dann haben wir dich lieber hier zwischen den Parkplätzen und den Laboren. So kann man dich ganz nach Belieben einfangen oder töten, und du kannst die Belegschaft nicht auffressen.« Sie holte einen Schlüssel hervor.
»Praktisch«, sagte Mahir.
Kelly schloss die Tür auf, und wir betraten das Gebäude. Jetzt ging Becks vor, während ich hinten blieb. Die beiden von uns, die praktisch nicht gefechtstauglich waren, gingen so lange wie möglich zwischen den anderen beiden. Einen Scharfschützen würde unsere Formation nicht behindern, aber vielleicht gab sie uns die Gelegenheit zu reagieren, bevor beide getroffen waren.
Zivilisten in eine Gefechtszone bringen, sagte George. Was Mutter wohl dazu sagen würde?
»Dass ich alles aufnehmen soll«, brummte ich, während ich weiter Kelly folgte.
Die erste Tür führte auf einen schmalen Gang, der sich nach etwa fünf Metern zu einem breiten Betonkorridor hin öffnete, welcher aussah, als hätte man ihn von einem Atombunker aus der alten Zeit hierher verpflanzt. Turbinen brummten in der Ferne. Es gab keine Fenster und kein natürliches Licht. Stattdessen leuchteten über unseren Köpfen, geschützt von einem Maschendrahtgitter, riesige Neonröhren. Kelly ging weiter, sodass wir anderen, sogar Becks, uns beeilen mussten, um Schritt zu halten.
»Was ist das?«, frage Mahir, der sich misstrauisch umblickte.
»Eine Isolationszone. Wenn wir die Anlage abriegeln, wird dieser Bereich luftdicht versiegelt, und das Unterdrucksystem springt an. Er kann von der Kontrollzentrale aus mit Formalin geflutet werden, oder auch manuell aus den Wachhäuschen entlang der Außenwände. Im Falle eines Ausbruchs öffnen sich die Türen zum Hauptgebäude, und das Sicherheitssystem versucht, die Infizierten hier herein zu lotsen, wo sie aufbewahrt werden, bis wir wissen, wie wir weiter verfahren.«
»Habt ihr schon mal von der Möglichkeit gehört, die verdammten Dinger einfach abzuknallen?«, fragte Becks.
»Irgendwo müssen wir unsere Testobjekte herbekommen.« Kellys Worte klangen nüchtern. Für sie war das nur ein ganz normaler Aspekt der Arbeit bei der Seuchenschutzbehörde. »Jeder, der hier eingestellt wird, muss unterschreiben, dass er seine Leiche der Wissenschaft hinterlässt. Sobald man eine Virenvermehrung erleidet, wird man Eigentum der Behörde.«
»Ist ja kein bisschen gruselig.« Ich ließ den Blick an den Wänden entlangwandern. »Ich sehe keine Kameras.« Was ich allerdings sah, war eine Reihe von Schießscharten in den Wänden. Wahrscheinlich lag dahinter ein weiterer luftdichter Korridor, in dem man die Scharfschützen einsperren konnte, bis sie ihre Arbeit erledigt hatten und einen sauberen Bluttest vorweisen konnten. Das hier war ein Lagerraum. Und zugleich war es eine Todesfalle, das durften wir nicht vergessen. »Gibt es hier auch so praktische Fluchttunnel?«
»Unterirdisch. Man kommt auf der anderen Seite des Grundstücks heraus.« Kelly blieb vor einer Tür mit Nummerntastatur und Netzhautscanner stehen. Während sie auf die Tasten drückte, kommentierte sie ihr Tun, wahrscheinlich, damit wir ihr nicht vor lauter Nervosität eine Kugel in den Kopf jagten. »Ich gebe den Sicherheitscode für Gäste in den Computer ein und dazu den Sicherheitscode von Dr. Wynnes Labor, und ich teile ihm mit, dass ich drei Begleiter dabeihabe. Auf dieser Sicherheitsebene wird nicht zwischen den verschiedenen Zugängen unterschieden. Diese Sicherheitslücke ist uns bekannt, aber wir schließen sie nicht, für den Fall, dass wir Leute durch die Hintertür hereinholen müssen.«
»Um der Presse aus dem Weg zu gehen?«, fragte Mahir sanft.
Errötend tippte Kelly noch einige Sekunden auf der Tastatur herum, bevor sie schließlich die Hand zurückzog. Ein Panel öffnete sich in der Wand und gab den Blick auf vier Bluttesteinheiten frei. »Wir müssen alle ein sauberes Testergebnis abliefern, bevor wir weiterkönnen.« Sie legte die Hand auf das erste Testfeld und leitete gleichzeitig den Netzhautscan ein. Es war ein gutes Manöver: Auf diese Art kam sie weiteren Fragen zuvor – und wir hatten eine Menge Fragen. Angefangen mit »Wie zum Henker sollen wir hier bitte wieder rauskommen?«.
»Zu spät, um es sich anders zu überlegen«, murmelte Becks und unterzog sich ebenfalls ihrem Bluttest. Mahir und ich zuckten mit den Schultern und taten es ihr nach. Becks hatte recht: Es war zu spät.
Die Testergebnisse waren sauber – was nicht überraschend war, denn schließlich waren wir gerade erst eingetroffen –, und die Tür schwang auf und gab den Blick auf einen langen weißen Korridor frei, der sehr viel mehr nach dem aussah, was man bei der Seuchenschutzbehörde erwartete. Die Lichter waren nur etwa zur Hälfte eingeschaltet, sodass die Ecken voller Schatten waren. An der nächstgelegenen Tür hing ein Schild mit der Aufschrift Vorsicht – Seuchengefahr.
»Hier fühlt man sich gleich wie Zuhause«, bemerkte ich und folgte Mahir auf den Korridor. Ich ging wieder als Letzter, und hinter mir schloss sich die Tür und schnappte mit einem hydraulischen Zischen zu, das mich unangenehm an Portland erinnerte. Die Haare auf meinen Armen und in meinem Nacken stellten sich auf, als mir klar wurde, dass wir nun wirklich eingeschlossen waren.
»Zum Labor geht es hier entlang«, sagte Kelly, während sie sich nach links wandte und dabei ein Selbstvertrauen an den Tag legte, das ich noch nie zuvor bei ihr beobachtet hatte. Hier war sie in ihrem Element. Nur die besten und klügsten Medizinstudenten brachten es zu einer Laufbahn beim Seuchenschutz. Sie hatte sicher jahrelang auf das Privileg hingearbeitet, diese Hallen als ihren Arbeitsplatz bezeichnen zu dürfen.
Das macht sie wahrscheinlich echt fertig, sagte George leise.
Weil ich nicht laut sprechen wollte, nickte ich nur. George und ich haben von klein auf gelernt, niemals auf das zu vertrauen, was andere uns sagten. Wir wussten seit jeher, dass es Dinge gab, die nicht ausgesprochen wurden, wenn die Kamera lief. Für Kelly musste sich der Verrat der Seuchenschutzbehörde wie das Ende der Welt anfühlen. Sie tat mir unglaublich leid … und gleichzeitig war es mir insgeheim eine Genugtuung, dass sie innerlich zweifellos Höllenqualen litt. Der Seuchenschutz war ihr Leben, und er war mit verantwortlich für den Tod meiner Schwester. Ich konnte Mitgefühl mit Kelly empfinden. Aber ich konnte ihr nicht verzeihen, dass sie so naiv gewesen war und um ihrer Karriere willen an all die Dinge geglaubt hatte.
Immerhin hatte sie bezüglich des Zeitplans der Putzkräfte richtig gelegen. Wir folgten zwei Korridoren und erreichten schließlich Dr. Wynnes Labor. Auf dem Weg begegneten wir nicht einer Menschenseele, und ich sah auch keine Kameras, obwohl ich Ausschau hielt. Die Überwachungssysteme waren ausgesprochen unauffällig. Das machte mir ein wenig Sorgen. In Portland waren die Kameras sehr viel leichter zu erkennen gewesen, und meiner Erfahrung nach haben Leute, die sich praktisch unsichtbare Überwachungssysteme installieren, ernsthaft etwas zu verbergen.
»Hier«, flüsterte Kelly und blieb an einer Tür ohne Aufschrift und mit einer Bluttesteinheit daneben stehen. Sie wollte gerade die Hand heben, doch dann zögerte sie, und ein unsicherer Ausdruck trat auf ihr Gesicht. »Wir müssen einer nach dem anderen durchgehen«, sagte sie langsam.
Ich verzog das Gesicht, und Becks schaute finster drein. Wenn wir einzeln reingingen, bedeutete das, dass entweder einer von uns vor Kelly durch die Tür musste – und damit unvertrautes und nicht einsehbares Gelände betrat –, oder wir schickten sie alleine hindurch, was zur Folge haben konnte, dass wir voneinander getrennt würden. Ich wollte nicht, dass wir auf unterschiedlichen Seiten einer Tür standen, wenn die Spezialkräfte der Seuchenschutzbehörde angerannt kamen, um uns alle niederzuschießen.
Aber ich hatte keine Wahl. Wir waren Kellys Forschungsergebnissen rund um die Welt gefolgt, und wir waren ihr selbst in den Rachen der Seuchenschutzbehörde von Memphis gefolgt. Wenn wir die Sache jetzt abbliesen, dann waren viele Leute für nichts und wieder nichts gestorben. »Geh vor, Doc«, sagte ich. Sie warf mir einen überraschten Blick zu. »Wir bleiben dicht hinter dir. Keine Bange! Wir gehen nirgendwohin.«
Kelly nickte und legte die Hand auf das Testfeld. Kurz darauf leuchtete das Licht über der Tür grün auf, und sie trat hindurch und verschwand.
»Ich hoffe du weißt, was du tust«, sagte Becks und trat vor, um sich ebenfalls dem Test zu unterziehen.
»Das wusste ich bisher noch nie«, antwortete ich. »Warum sollte ich jetzt damit anfangen? Ich mach doch nicht alles kaputt, wenn es gerade so gut läuft.«
Das Licht wurde grün, bevor sie Zeit zum Antworten hatte. Wahrscheinlich war es besser so. Sie schaute mich immer noch finster an, und während sich die Tür hinter ihr schloss, zeigte sie mir den Finger.
Seufzend drückte Mahir seine Hand auf das Testfeld. »Ich wünschte wirklich, du würdest sie nicht aufziehen, während wir im Feld sind.«
»Wenn ich das nicht täte, wüsste sie überhaupt nicht, wie sie mit mir umgehen sollte.«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Mahir, trat durch die nun geöffnete Tür und ließ mich allein auf dem Flur zurück.
Nicht ganz allein. Du bist dran, sagte George.
»Du auch«, antwortete ich und drückte meine Hand auf die Testeinheit.
Der Raum auf der anderen Seite der Tür war ein ganz normales Seuchenschutzlabor: Geräte, von denen ich nichts verstand, ein Kühlschrank voller Dinge, von denen ich nichts wissen wollte, Berge von wahrscheinlich seit Wochen überfälligem Papierkram auf einem Schreibtisch. Eine Trockentafel, die mit sinnlosem Kauderwelsch vollgeschrieben war, nahm den Großteil einer Wand ein. Kelly starrte gebannt darauf.
»Er hat das Problem der Einnistung gelöst«, sagte sie ebenso sehr zu sich selbst wie zu uns anderen. »Ich weiß nicht, wie, aber er hat das Problem der Einnistung bei der Immunreaktion gelöst. Die ganze Sache ist so einfach, sie ist so …«
»So elegant«, sagte Mahir.
Kelly lächelte. »Ja, das ist sie.«
»Na toll«, sagte ich und trat von hinten an sie heran. »Möchtest du es dem Rest von uns auch erklären?«
»Oh! Tja, das hier …« Sie wedelte mit der Hand vor einem Stück Tafel herum und fing an zu reden. Medizinerjargon strömte über ihre Lippen, zu schnell, als dass ich hätte folgen können. Doch darauf kam es nicht an. Ich musste ihr nicht in Echtzeit folgen können. Ohne ein halbes Dutzend laufender Kameras gehe ich nicht aus dem Haus, und die Aufzeichnungen kann ich mir ansehen, wann immer es mir passt. Vorausgesetzt, wir kamen wohlbehalten hier raus. Da wir nichts senden konnten, konnte ich auch keine Sicherheitskopien anlegen. Wenn wir hier in der Seuchenschutzbehörde starben, würde alles umsonst gewesen sein.
Ich verdrängte diesen trostlosen Gedanken. Kelly redete noch immer, und wenigstens Mahir schien zu verstehen, worum es ging. Dann und wann warf er etwas ein, stellte Fragen oder suchte eine andere Formulierung für etwas, das ihm so, wie sie es ausgedrückt hatte, nicht ganz klar gewesen war.
»Ich liebe es, so ein schlaues Kerlchen dabeizuhaben«, sagte ich halblaut zu Becks.
»Ich auch«, antwortete sie grinsend, während die vertraute Erregung, die ein Feldeinsatz mit sich brachte, ihr Gesicht erfüllte. Irwins sind immer dann am lebendigsten, wenn sie fünf Minuten von einem grausamen Tod entfernt sind.
Kelly beendete ihre Erklärung, fünfzehn Sekunden bevor wir hörten, wie die Tür sich entriegelte. Das Geräusch war kaum lauter als ein Flüstern, aber wir alle waren so angespannt, dass wir eine zu Boden fallende Stecknadel aus einem Kilometer Entfernung gehört hätten. Ich gab Becks einen Wink, worauf sie nickte und wir uns lautlos zu beiden Seiten der Tür in Position begaben, während Mahir Kelly nach hinten zog, wo man sie nicht sofort sehen würde. Die Tür glitt auf, und ein hochgewachsener Mann in einem weißen Laborkittel trat hindurch, die Aufmerksamkeit auf das Klemmbrett in seiner Hand gerichtet.
Als die Tür sich schloss, stellten Becks und ich uns Schulter an Schulter und hoben die Pistolen, sodass die Mündungen ganz leicht den Rücken des Mannes im Laborkittel berührten. Er erstarrte. Ein kluger Mann.
»Hallo, Dr. Wynne«, sagte ich liebenswürdig. »Wir dachten uns, dass Sie vielleicht wissen möchten, wie die Dinge so laufen, also sind wir mal vorbeigekommen, um Hallo zu sagen.«
»Shaun?«
»Der war ich zumindest, als ich das letzte Mal nachgesehen habe.« Ich trat einen kleinen Schritt weiter vor und bohrte ihm die Mündung meiner Waffe etwas fester in den Rücken. »Wie steht’s bei Ihnen? Wie läuft es hier?«
»Ich … äh. Ich hatte nicht damit gerechnet, Sie hier anzutreffen.«
»Das hatten wir auch nicht erwartet«, sagte Mahir und trat in Dr. Wynnes Blickfeld. Kelly blieb hinten und verbarg ihr Gesicht nach wie vor in den Schatten. »Ich habe Sie bei der Trauerfeier gesehen, aber ich glaube nicht, dass man uns einander bereits vorgestellt hat.«
»Mahir Gowda, neuer Kopf der Nachrichtenabteilung bei Nach dem Jüngsten Tag«, sagte Dr. Wynne, ohne zu zögern. »Ich habe die Seite verfolgt. Ich muss zugeben, ich habe auch nicht damit gerechnet, Sie irgendwann mal kennenzulernen.«
»Wir stecken heute voller Überraschungen«, sagte Becks und gab ihm einen kleinen Stoß mit ihrer Waffe. »Weg von der Tür! In die Mitte des Raums, die Hände an die Seiten. Machen Sie bitte keine plötzlichen Bewegungen, ich würde Sie wirklich nur ungern erschießen.«
»Stimmt, das macht sie ganz und gar nicht gerne«, sagte ich. »Wir haben ihr gesagt, dass sie jeden Schlamassel, den sie hier anrichtet, selbst aufwischen muss, und Becks verabscheut es, sauber zu machen.«
Dr. Wynne befolgte kopfschüttelnd ihre Anweisungen. In der Mitte des Raums angekommen, drehte er sich zu mir um. »Shaun, was machen Sie hier? Sie hätten nicht kommen sollen.«
»Es gab zu viel, was nicht zusammenpasste. Wir brauchen Sie zum Nachrechnen.«
Frag ihn nach den Virenstämmen!
»Dazu komme ich noch«, murmelte ich.
»Wie bitte?«, fragte Dr. Wynne.
»Nichts.« Ich ließ ein Hochglanzlächeln aufblitzen. »Doc? Möchtest du ihm Hallo sagen?«
»Gerne.« Kelly trat aus den Schatten. Ihre Absätze klapperten auf dem Boden. Dr. Wynne erbleichte. »Hallo! Wie geht es Ihnen?«
»Ich … Sie …« Er hielt einen Moment lang inne, dann sammelte er sich und sagte: »Shaun hat behauptet, dass Sie in Oakland ums Leben gekommen wären.«
»Die Toten neigen heutzutage dazu wiederzukehren, schon vergessen?« Sie schaute an die Tafel. »Sie haben das Problem der Immunreaktion gelöst. Einige dieser Modelle erkenne ich wieder. Immer, wenn ich sie postuliert habe, meinten Sie, ich läge daneben. Aber es sieht ganz danach aus, als hätten sie funktioniert.«
»Kelly, wie sind Sie …«
Sie drehte sich zu uns um und nickte mir knapp zu.
Das war mein Stichwort. Ich bedachte Dr. Wynne mit einem weiteren Lächeln und sagte: »Wir haben ein bisschen nachgebohrt, konnten Sie aber nicht erreichen, ohne zu viele Alarmsirenen auszulösen, insbesondere, da der Doc dabei sein wollte. Wahrscheinlich wollen Sie wissen, was wir herausfinden konnten.«
»Und was ist mit den Waffen? Nur zur Vorsicht?«
»Mehr oder weniger.« Ich ließ meine Pistole sinken. »Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein.«
»Sie haben mir weisgemacht, dass Dr. Connolly tot wäre.«
»Das stimmt«, sagte ich umgänglich. »Mahir?«
»Bin schon dabei.« Mahir holte ein Lesegerät aus seiner Manteltasche, ging zu Dr. Wynne und hielt es ihm hin. »Hier sehen Sie gleich die interessantesten Daten. Lesen Sie aufmerksam! Die Implikationen sind ziemlich unschön.«
»Als ich Dr. Connolly zu Ihnen geschickt habe, hatte ich damit gerechnet, dass Sie sofort verschwinden.« Dr. Wynne fuhr sich durchs lichte Haar, während er auf den Bildschirm in seiner großen Hand schaute. »Das wäre das Schlaueste gewesen. Wenn Sie gleich nach ihrem Eintreffen von der Bildfläche verschwunden wären, hätten Sie sich in Sicherheit bringen können.«
»Sie wissen doch, dass wir nie so gearbeitet haben«, sagte ich, überrascht über den entschuldigenden Unterton, der sich dabei in meine Stimme stahl. Es tat mir wirklich leid. Wenn wir falschlagen, und er uns nur beschützen wollte …
Shaun, sagte George. Shaun, warte mal einen Moment! Warte mal!
Dr. Wynne nickte und scrollte sich durch das von uns zusammengetragene Datenmaterial. »Das ist sehr gute Arbeit. Wie schwer war das aufzutreiben?«
»Nicht besonders«, sagte Mahir, ehe ich etwas sagen konnte. Er schaute Dr. Wynne ausdruckslos an und fügte hinzu: »Es ist erstaunlich, wie viel von alldem frei flottierte. Man muss es nur in den richtigen Zusammenhang bringen.«
Shaun …
»Sekunde, George«, sagte ich leise und behielt dabei Dr. Wynnes Gesicht im Auge. Mit konzentriert gerunzelter Stirn studierte er die Daten. »Ich will hören, was er zu sagen hat.«
»Ist da eine Auftragsarbeit dabei?« Dr. Wynne blickte auf. »Stammt ein Teil der Daten aus einem bestimmten Labor oder einer ähnlichen Einrichtung?«
Dr. Abbey hatte ihre gesamten Forschungen in einem Labor durchgeführt, und ich wusste nicht, wie viel davon der Allgemeinheit zugänglich war. Einen Teil der Daten hatten wir weitergegeben, um an weitere heranzukommen, aber nicht alles und nicht in zusammengetragener Form. Ich machte den Mund auf, um ihm das zu sagen … und dann hielt ich stirnrunzelnd inne.
George sagte in die Stille hinein: Er hat Kellys Spur verloren, sobald das Gebäude in die Luft geflogen ist und ihre Ausweise vernichtet wurden – die Ausweise, die er ihr verschafft hat. Er hat ihren Tod nie infrage gestellt. Er muss es gewusst haben. Shaun …
»Ich weiß«, flüsterte ich. Und mit einem Mal wusste ich es tatsächlich, unwiderlegbar und ohne jeden Zweifel: Dr. Wynne hatte die Vernichtung von Oakland angeordnet. Dr. Wynne hatte Dave getötet.
»Was wissen Sie, mein Junge?«, fragte er.
»Nichts.« Ich schluckte meinen Widerwillen hinunter und zwang mich, eine neutrale Miene zu wahren. »Ist Kelly die letzte Überlebende aus Ihrem Forschungsteam?«
Dr. Wynne zögerte einen Moment, bevor er nickte. »Ja. Deshalb wusste ich, dass ich sie hier rausbringen musste. Ich habe mir Sorgen gemacht, dass ihr etwas zustoßen würde, wenn sie bleiben würde.«
»Also haben Sie sie zu uns geschickt?« Er musste gewusst haben, dass ihre Ankunft uns dazu veranlassen würde, geschlossen aus dem Feld zurückzukehren. Er hatte sie nicht mit falschem Datenmaterial zu uns schicken können – das hätte sie gemerkt; sie war zu lange Teil des Forschungsteams gewesen, als dass er ihr einfach so etwas hätte unterschieben können –, und die echten Ergebnisse waren mehr als genug gewesen, um uns stundenlang an Ort und Stelle zu halten. Als Kelly eingetroffen war, waren wir alle zu Hause gewesen. Selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte ich alle angerufen und zurückbeordert. Er hatte nach ihrem Eintreffen bei uns einfach ein paar Stunden gewartet und dann die Hunde von der Leine gelassen, in dem Wissen, dass wir alle an einem Fleck waren.
»Ich wusste, dass ich Ihnen vertrauen kann.«
»Huch! Na so was!« Ich hob erneut die Pistole und zielte auf ihn. Mahir und Kelly schauten mich mit erschrockenem Blinzeln an. »Wissen Sie, ich hätte sie nämlich nach Kanada geschickt. Oder vielleicht in eines der nicht sanktionierten Laboratorien, wo man etwas mit ihrem Forschungskram hätte anfangen können. Wir haben uns zwar wirklich über die Story gefreut, die wir nicht veröffentlichen konnten, aber Ihre illegalen Ressourcen haben Sie bei uns nicht besonders gut investiert.«
»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen, Shaun«, sagte Dr. Wynne und blickte auf. Seine Augen weiteten sich, als er die erhobene Waffe sah. »Was soll das? Wir sind hier alle Freunde.«
»Da bin ich mir langsam nicht mehr so sicher.« Becks trat neben mich und hob ebenfalls schussbereit ihre Pistole. »Warum haben Sie sie zu uns geschickt? Was zum Teufel macht uns so besonders?«
»Ihr wart eine Gefahr«, sagte Kelly und warf einen weiteren Blick auf die Tafel, um sich dann Dr. Wynne zuzuwenden. »Das war es, nicht wahr? Sie haben mich zu ihnen geschickt, weil sie eine Gefahr waren.«
Dr. Wynne antwortete nicht.
Ich nickte Kelly erfreut zu. »Ich schätze, das heißt ja. Also, wer hat Ihnen alles versaut, Dr. Wynne? Hat jemand sich in der Uhrzeit vertan?«
Dr. Wynne runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Wir haben den Doc sorgfältig nach Peilsendern abgesucht, aber nachdem wir die Ausweise, die Sie ihr gegeben haben, vernichtet hatten, gab es keine mehr«, sagte ich. »Wenn es noch welche gegeben hätte, dann hätten wir es wohl kaum da rausgeschafft. Irgendjemandem war es so wichtig, uns umzubringen, dass er die Hälfte der Innenstadt von Oakland dafür in die Luft gejagt hat …«
»Ich glaube, da übertreiben Sie ein bisschen, mein Junge«, sagte Dr. Wynne.
»… aber danach haben diese Leute uns aus den Augen verloren, nicht wahr?« Während ich sprach, hielt ich die Pistole weiter auf Dr. Wynne gerichtet und beobachtete sein Gesicht. »Warum interessiert es Sie, wo wir unsere Forschungsergebnisse herhaben, Dr. Wynne? Sollte es nicht genügen, dass wir sie haben? Wenn wir an sie herankommen konnten, dann kann es auch jeder andere.«
»Nein, Shaun, nicht jeder.« Dr. Wynne schüttelte den Kopf und lächelte leicht, als Mahir ihm das Lesegerät wegnahm. »Man braucht ziemlich spezialisierte Quellen. Leute mit Insiderwissen.« Kelly wurde blass. »Leute, die nicht durch Gesetze gebunden sind.«
Mahir kniff die Augen zusammen, und seine Miene gewann mit einem Mal etwas Bedrohliches. »Sir, wollen Sie damit sagen, dass Sie an uns ausprobiert haben, wie gut sich Informationen verbreiten lassen?«
»Ich habe damit gerechnet, dass ihr abhaut.« Sein Tonfall klang recht vernünftig. Er sprach nach wie vor mit der warmen Stimme mit dem Südstaatenakzent, die mich und George nach unserer Rückkehr von den Toten begrüßt hatte, nachdem die Seuchenschutzbehörde uns auf dem Highway eingesammelt hatte. Dr. Wynne fuhr sich mit der Hand durchs lichte Haar und schaute mich fest an. »Ich habe dich nie für besonders schlau gehalten, Shaun – dafür war deine Schwester zuständig, Gott schenke ihrer Seele Frieden! Wenn sie einen Fehler gemacht hat, dann den, sich darauf zu verlassen, dass du ihr den Rücken freihältst – aber ich hätte dich trotzdem nicht für derart dumm gehalten.«
Meine Kehle fühlte sich so trocken an, dass ich nicht schlucken konnte. »Das nimmst du zurück«, flüsterte ich.
Hör nicht auf ihn, sagte George. Er will dich nur aus dem Konzept bringen. Er weiß verdammt genau, dass wir niemals abgehauen wären. Er hat auch gar nicht damit gerechnet.
»Für dich ist das leicht gesagt, George«, brummte ich. »Du bist hier die Tote.«
Dr. Wynne hob die Brauen. »Du redest also wirklich mit ihr. Das ist … faszinierend. Als ich davon gehört habe, habe ich es für eine Übertreibung gehalten. Antwortet sie dir?«
Ich starrte ihn finster an.
Er hob die Hände. »Na, mein Junge, ich will dich nicht beleidigen. Es interessiert mich nur. Mir kommt das ein bisschen, tja, verrückt vor, wenn ich das sagen darf.«
»Oh, keine Sorge! Das habe ich schon oft genug gehört«, antwortete ich ausdruckslos.
»Wir haben ihm das auch gesagt«, fügte Becks hinzu. »Schon öfters.«
»Dr. Wynne?« Kelly klang … verloren. Zum ersten Mal, seit sie in Oakland aufgetaucht war, klang sie ganz und gar verloren. Sie war verängstigt gewesen, verwirrt und wütend, aber so hatte sie noch nie geklungen. »Hat er recht? Ist das, was Shaun sagt … hat er recht?«
Er drehte sich halb zu Kelly um und ließ die Hände sinken. »Es war nie etwas Persönliches, meine Liebe. Das musst du mir glauben.«
Sie schüttelte den Kopf und starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll … aber ich glaube, dass du mich zum Sterben weggeschickt hast. Alles spricht dafür.«
»Ich schätze, an diese Gefahr hätte ich denken müssen. Sie haben dir was eingeredet, stimmt’s? Diese dummen Leute mit ihrem dummen Kreuzzug gegen die herrschenden Verhältnisse. Tja, deshalb bist du blind in die Sache reingestolpert, nicht wahr?« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Du weißt, dass ich dir niemals wehtun wollte. Du hast immer zu meinen Lieblingen gehört.«
Sie schaute ihn mit zitternder Unterlippe an. Aus ihrem Blick sprach der blanke Wunsch, ihm zu glauben. »Ich verstehe es bloß nicht.«
»Mach dir keine Sorgen! Das musst du auch nicht.« Er lächelte leicht. »Du musst nur wissen, dass du mir bei meiner Forschung sehr weitergeholfen hast und dass deine Arbeit eines Tages – wenn die Welt dafür bereit ist – vielen Menschen helfen wird. Genügt das nicht?« Er trat noch ein bisschen vor.
»Keinen Schritt weiter!«, sagte ich mit schneidender Stimme.
Dann sprang er.
Ich hätte niemals damit gerechnet, dass ein derart massiger Mann sich so schnell bewegen kann. In der Zeit, die ich brauchte, um meine Waffe neu auszurichten, packte er Kelly, zog sie an seine Brust, holte eine Pistole aus seiner Laborkitteltasche und presste sie ihr an die Schläfe. Sie stieß ein einziges, zu Tode erschrockenes Quieken aus.
»Fallen lassen!«, blaffte Becks.
»Wohl eher nicht«, sagte Dr. Wynne sanft. »Aber danke der Nachfrage.« Er trat einen Schritt zurück und zog Kelly dabei mit sich. »Weißt du, Shaun, ich hätte das niemals versucht, wenn wir das ursprüngliche Ziel getroffen hätten. Das wäre nicht nötig gewesen. Georgia hätte es kapiert, als Tate seinen großen Schurkenabgang hingelegt hat. Sie hätte uns einfach in Ruhe gelassen.«
»Wage es nicht, ihren Namen in den Mund zu nehmen!«, knurrte ich.
Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, wie ich vorgetreten war, bis Dr. Wynne erneut mit der Waffe an Kellys Schläfe tippte und ein »Ts-ts« von sich gab. »Also, du möchtest doch nicht, dass mir die Hand ausrutscht und ich diese kleine Pfirsichblüte erschieße, oder? Sie ist ein so gewissenhaftes Mädchen. Hat niemals etwas Böses von anderen gedacht. Deshalb war das hier auch unvermeidlich. Sie konnte mir nicht ewig von Nutzen sein.«
Mahir starrte ihn derweil mit offenem Mund an. »Du meinst … am Ende kam er mir wirklich ein bisschen überzogen vor, wie der Böse aus einem schlechten Film. Das war Absicht?«
»Wenn man alles in Schwarz und Weiß vor sich hat, muss man nicht mehr nach Grautönen suchen«, erklärte Dr. Wynne. »Wir haben euch einen perfekten Bösewicht vorgesetzt, der keine Motive hatte, die man infrage stellen musste, und über den man nicht weiter nachzudenken brauchte. Ihr wart nur zu blöd, um das Angebot anzunehmen.«
»Dr. Wynne?«, flüsterte Kelly.
»Still, meine Liebe, kein Wort mehr.« Er trat einen weiteren Schritt zurück. »Ihr mögt doch Geschichten, oder? Ich habe eine für euch. Es war einmal ein junger Arzt, der die Welt retten wollte. Aber Welten sind nicht so leicht zu retten, und diese musste noch ein bisschen länger in der Verdammnis schmoren, ehe sie die Erlösung wirklich zu schätzen wissen würde. Die Erlösung brachte nämlich … Komplikationen mit sich. Also erklärte er sich dazu bereit, gewissen Männern zu helfen, die es besser wussten als der Rest der Welt. Männer, aus denen einmal Engel werden sollten. Und er lernte, dass ein Mensch selbst zum Engel werden kann, wenn er genug Kontrolle ausübt.«
»In Ordnung, du hast gewonnen«, sagte ich. »Du bist hier der Verrückte. Ich trete meine Krone an dich ab.«
Dr. Wynne schüttelte den Kopf. »Ich habe noch eine Geschichte für euch – eine, die sehr bald wahr sein wird. Ich war völlig überrumpelt, als die Überwachungskameras einen Einbruch gemeldet haben. Glücklicherweise kam ich pünktlich zur Arbeit. Nicht auszudenken, welchen Schaden ihr sonst vielleicht angerichtet hättet, bevor ich euch aufhalten konnte. Natürlich hatten wir euch bereits im Verdacht, etwas mit dem Ausbruch in Portland zu tun zu haben, aber erst als ihr versucht habt, hier etwas Ähnliches loszutreten, begriffen wir, wie weit du vom Weg abgekommen bist. Ohne den Beistand deiner Schwester und ohne eine Verschwörung, der du nachjagen konntest, war die Wirklichkeit einfach zu viel für dich. Du hast begonnen, dir frei erfundene Bedrohungen zusammenzufantasieren.«
»Wie kommt es, dass ihr Arschlöcher immer das Bedürfnis habt, der Presse lang und breit von euren finsteren Machenschaften zu erzählen, bevor ihr uns umbringt?«, fragte Becks. Sie klang vollkommen ruhig. Ich war noch nie so stolz auf sie gewesen. »Muss man das, um in die Gewerkschaft aufgenommen zu werden oder so?«
»Ich dachte, dass ihr vor eurem Tod vielleicht die Wahrheit erfahren möchtet. Leute wie ihr seid immer so auf die Wahrheit fixiert. Als wäre sie rechtschaffener als eine Lüge, selbst wenn die Lüge das schützt, was die Wahrheit zerstören würde.« Seine Lippen verzogen sich zu einem bedauernden Lächeln, das an jene sympathische Person erinnerte, die mir einmal die frohe Botschaft überbracht hatte, dass ich weiterleben durfte. Ich hasste ihn umso mehr dafür. »Ihr dürft meine Worte ruhig aufzeichnen. Von hier aus könnt ihr nichts senden, und verlassen werdet ihr diesen Ort auch nicht wieder.«
Ich zwang mich, meine Pistole zu senken, und sagte: »Wie wär’s damit: Wir stecken alle unsere Waffen weg, du gibst uns Kelly wieder, und wir gehen. In Ordnung? Niemand muss sterben. Schließlich können wir nicht beweisen, dass hier tatsächlich etwas vorgeht.«
»Oh, aber ihr habt es bewiesen, durchaus – und ihr habt uns auf einige ungestopfte Löcher aufmerksam gemacht. Ihr habt unsere Arbeit für uns erledigt und uns alles mitgebracht, was wir brauchen, um die Situation zu bereinigen. Ein halbes Dutzend Forscher und ein paar Laborassistenten genügen, um die ganze Sache noch weitere zehn Jahre am Laufen zu halten. Das sollte mehr als genug sein, um ernsthafte Fortschritte bei dem Problem zu machen, ohne die Welt dabei in Panik zu versetzen.« Er kicherte. Zumindest wich er nicht noch weiter zurück: Er stand nun mit dem Rücken zum Tisch, Kelly fest an seine Brust gedrückt. »Ihr klammert euch so an eure geliebte Wahrheit, dass ihr das große Ganze aus den Augen verliert. Wenn das hier bekannt wird …«
»Was wäre dann? Die Leute würden etwas wissen?« Becks starrte ihn finster an. »Dein böser Plan ist scheiße.«
»Warum habt ihr neue Virenstämme entwickelt?«, fragte Mahir. »Welchem Zweck dient das?«
»Wir suchen einen, der kein Reservoirverhalten auslöst«, sagte Dr. Wynne. »Sobald uns das gelungen ist, sind wir dazu in der Lage, das Virus ganz nach Belieben zu zerlegen und neu zusammenzusetzen. Keine nervtötenden kleinen moralischen Probleme mehr damit, die Infizierten zu erschießen. Kein unerwartetes Verhalten. Sobald das Virus standardisiert ist, sobald es unseren Erwartungen entspricht, können wir endlich eines konstruieren, das macht, was wir von ihm wollen, das unsere Befehle befolgt und nicht die von irgendjemand anderem. Wir werden die Welt so retten, wie wir es für richtig halten und wann wir es für richtig halten, und man wird uns die angemessene Anerkennung dafür nicht versagen. Die Reservoirkrankheiten verkomplizieren alles, und das können wir nicht zulassen. Trotzdem bedaure ich es, dass der Schlag gegen Oakland verfrüht durchgeführt wurde, Shaun. Ich mochte dich wirklich. Ich hatte gehofft, dir eben diese Situation ersparen zu können.«
»Wie kommst du darauf, dass unser Wissen nicht ohnehin an die Öffentlichkeit gelangt?«, fragte ich sanft. »Ich habe nicht mein ganzes Team mitgebracht. Wenn wir uns nicht melden, geht alles raus.«
»Ah, aber wenn es an die Öffentlichkeit kommt, werden wir euch bereits den Ausbruch in Portland in die Schuhe geschoben haben und vielleicht auch die Attacken auf Präsident Rymans Wahlkampftruppe. Vielleicht bist du sogar der Grund für den Tod deiner Schwester. Du wirst kein Held sein, Shaun. Nicht einmal ein Märtyrer. Du wirst der Mann sein, der seine Schwester um der Quoten willen ermordet hat, und die Welt wird dich hassen.« Mit einem versonnenen Lächeln ließ Dr. Wynne Kelly los und streckte den Arm nach dem Tisch hinter sich aus. Kelly rührte sich nicht vom Fleck. Die Waffe an ihrer Schläfe schien sie irgendwie zu entmutigen. »Man wird nichts, was auf eurer kleinen Schmierseite steht, glauben. Für die Öffentlichkeit wird es nur wie die letzten Zuckungen eines Wahnsinnigen aussehen.«
Du Scheißkerl, flüsterte George.
Ausnahmsweise war ich einmal gelassener als sie. »Du bist ein Arschloch«, sagte ich.
»Ja, aber ich bin ein Arschloch, das lebend diesen Raum verlassen wird, was man von dir nicht behaupten kann«, antwortete er. Erneut legte er den Arm um Kelly und zog sie Richtung Tür. »Der Sicherheitsdienst ist auf dem Weg. Es gibt nichts, was du tun könntest.«
Als er die Hand bewegte, sah ich, was er vom Tisch genommen hatte: zwei ganz gewöhnliche Kugelschreiber. »Was wirst du tun, wenn die Leute von der Sicherheit kommen?«, fragte ich. »Kritzelst du uns zu Tode?«
Kelly riss die Augen auf. Jetzt sah sie nicht mehr verloren aus, sondern zu Tode erschrocken. Selbst die Pistole an ihrem Kopf hatte ihr keine derartige Reaktion entlockt. »Was?«, flüsterte sie.
»Könnte man so sagen, ja«, antwortete Dr. Wynne.
»Das ist ein Stift«, sagte ich.
Der Schein kann trügen, bemerkte George.
Kelly schaute mich mit immer noch weit aufgerissenen Augen an und sagte stumm: »Es tut mir leid.« Dann griff sie hinter sich, bekam ein Skalpell von einem Tablett mit Operationsbesteck zu fassen und rammte es Dr. Wynne in den Nacken. Er brüllte wie ein verwundeter Ochse, und seine Waffe fiel zu Boden, als er sich die Hand an den Hals presste. Die Hand, in der er die Kugelschreiber hielt, ruckte hoch, und an einem davon drückte er eine Art Auslöser. Ein dünner Pfeil sauste an meinem Ohr vorbei durch die Luft und bohrte sich in die Wand. Becks schoss zweimal und traf Dr. Wynne einmal in den Arm. Der andere Schuss ging ins Leere. Ich hob meine Waffe ebenfalls wieder und schoss ihm mitten in die Brust, genau dorthin, wohin er bei mir mit dem Stift gezielt hatte.
Der Einschlag riss ihn herum. Kelly entglitt das Skalpell, und sie fiel nach hinten, wobei sie gegen Mahir prallte. Der immer noch brüllende Dr. Wynne hob die Stifte und zielte auf die beiden. Mit einem Schrei stieß Kelly Mahir beiseite, sodass er lang hinschlug, im selben Moment, in dem Dr. Wynnes Knie nachgaben.
Dr. Wynne prallte hart auf den Boden, worauf Becks ihm sofort zweimal in den Kopf schoss. Schon mal eine Leiche, die nicht wieder aufstehen würde.
Mahir kam taumelnd auf die Beine und achtete dabei sorgfältig darauf, Dr. Wynnes Blut nicht zu berühren. »Oh mein Gott …«
»Mahir, bist du sauber?«, fragte ich.
Er schaute an sich hinunter und suchte seine Kleidung nach Spritzern ab. »Ich … ich glaube schon. Anscheinend habe ich nichts abbekommen.«
»Wunderbar. Versuch bitte trotzdem, keine Körperflüssigkeiten mit anderen Leuten auszutauschen, bis wir bei einer Testeinheit sind! Einer, die nicht dem Seuchenschutz gehört. Ich traue nichts mehr, was sich in diesem verdammten Gebäude befindet.« Ich senkte die Waffe, steckte sie aber nicht weg. »Komm, Doc! Wir müssen verdammt noch mal hier raus.«
»Ich fürchte, ich nicht«, antwortete sie leicht benommen.
Mein Kopf ruckte hoch.
In ihrer Brust steckte eine kleine, durchsichtige Plastiknadel, die leicht ölig glitzerte. »Er hat mich getroffen«, sagte sie, während sie darauf hinabstarrte. »Dr. Wynne hat mich getroffen, bevor er umgefallen ist. Mit dem Stift. Nur war das kein Stift – sondern eine Waffe. Man kann Betäubungspfeile reintun oder tödliche Injektionen oder … alles Mögliche.« Sie schluckte. »Alles Mögliche.«
»Das hat nichts zu besagen«, erwiderte Becks.
»Stimmt. Weil er mich natürlich nur mit einem Beruhigungsmittel oder so was beschossen hat.« Kelly schüttelte geradezu genervt den Kopf. »Stell dich nicht dumm! Dafür haben wir keine Zeit.«
»Scheiße, Doc, komm jetzt einfach!«
»Nein.« Sie drehte sich um, riss eine Schublade auf und holte eine Testeinheit daraus hervor. Sie knallte sie auf den Tisch, öffnete den Deckel und steckte ihre Hand hinein. »Es tut mir so leid. Ich schwöre, dass ich nichts davon gewusst habe. Vielleicht hätte ich es ahnen sollen, vielleicht war ich ein naiver kleiner Trottel – ich war so sehr mit dem Versuch beschäftigt, die Welt zu retten, wie man es von mir erwartete, dass ich einfach nicht die Augen aufgemacht habe – aber ich wusste nichts davon.«
»Ich glaube dir«, sagte Becks leise.
Die Lichter an Kellys Testeinheit wurden eines nach dem anderen rot.
Sie zog ihre Hand heraus, als schließlich auch das letzte Licht rot geworden war, und schaute uns trotzig an. »Glaubt ihr mir jetzt? Dr. Wynne hat auf mich geschossen, und gleich wird es bei mir losgehen. Ich bin erledigt. Es ist vorbei. Und ich glaube wirklich, dass ihr jetzt abhauen solltet.«
Ich verzog das Gesicht. »Scheiße! Doc, es tut mir leid.« Becks hob die Waffe und richtete sie auf Kellys Kopf. Aus dieser Entfernung konnte sie sie unmöglich verfehlen.
»Mir auch.« Kelly zog die Nadel aus ihrer Brust und hielt sie einen Moment lang hoch, lange genug, damit wir sie deutlich sehen konnten, ehe sie sie fallen ließ. Mit einem leisen Klappern traf sie auf den Kachelboden, rollte ein Stück und kam in Dr. Wynnes Blutlache zum Liegen. »Lasst die Tür offen, wenn ihr geht. Ich bleibe hier und lenke die Leute vom Sicherheitsdienst ab.«
Ich streckte die Hand aus, drückte langsam Becks Arm runter und schüttelte den Kopf. »Doc, bist du dir sicher? Mit einem aktiven Virus spielt man nicht herum.«
»Ich glaube, das weiß ich besser als du.« Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem schmalen Lächeln. Zusammen mit ihrem Pferdeschwanz sah sie dadurch für einen herzzerreißenden Moment lang aus wie Buffy. Ich hatte die Ähnlichkeit bereits bemerkt, als Kelly das erste Mal in Oakland aufgetaucht war, und hier war sie wieder, im denkbar schlimmsten Moment.
Ich schätze, die beiden haben mehr gemeinsam, als wir dachten, sagte George.
Kelly streifte ihren Laborkittel ab und ließ ihn zu Boden fallen. Die Baumwolle saugte sich fast sofort mit dem Blut vom Boden voll, aber das schien Kelly gar nicht zu bemerken. Sie redete einfach weiter, während sie sich bückte, um Dr. Wynnes Pistole aufzuheben. »Bei meinem Körpergewicht habt ihr etwa elf Minuten, bevor ich zu einer Gefahr werde. Das gibt euch genug Zeit, um von hier zu verschwinden, und mir genug, um den Wachleuten einen echt miesen Morgen zu bereiten. Draußen müsst ihr nach links gehen und dann bis zum Ende des Flurs. Die Leute von der Sicherheit werden aus der anderen Richtung kommen. An der T-Kreuzung biegt ihr wieder links ab und öffnet die vierte Tür. Damit solltet ihr wieder …«
»Wie beim letzten Mal?«, fragte ich.
Sie nickte. Ihr Lächeln verblasste langsam, und ihre Unterlippe zitterte einen Moment lang, bevor sie sagte: »Die Sicherheitssysteme in den Evakuierungstunneln sind vom Rest des Gebäudes unabhängig, falls es zu einer Fehlfunktion oder … oder einer Situation wie dieser kommt. Solange ihr ein sauberes Testergebnis vorweisen könnt, kommt ihr raus, egal, was hier drin vorgeht.«
»Ich erinnere mich.« Ich trat einen Schritt zurück, weg von ihr. »Becks, Mahir, kommt!«
»Ja.« Nach kurzem Zögern fragte Becks: »Hast du genug Munition?«
Kelly lächelte erneut, diesmal in Becks Richtung. Es war ein kleines Lächeln, und schmerzlich mit anzusehen, weil es vielleicht ihr letztes sein würde. Zumindest sah sie dieses Mal nicht wie Buffy aus. »Ja. Danke!«
»Für den Fall, dass du es nicht aushältst – wenn du sterben willst, solange du noch weißt, wer du bist –, solltest du darauf achten, dir eine Kugel für dich selbst aufzuheben.«
»Das werde ich.« Seufzend schaute Kelly auf die Waffe in ihrer Hand. »Ich denke, unter diesen Umständen hätte mein Großvater gewollt, dass ich mich so entscheide. Ihm kam es immer auf die Wahrheit an … und mir auch. Mir war wirklich nicht klar, dass Dr. Wynne mich zu euch geschickt hat, um euch eine Falle zu stellen. Und es tut mir leid. Ich wollte nichts von alledem.«
»Ich weiß«, sagte Becks.
Ich holte tief Luft und atmete langsam aus, bevor ich sprach. »Danke, Doc!« Ein Flüstern in meinem Hinterkopf ließ ein trauriges Lächeln auf meine Lippen treten. »Auch von George. Es tut ihr leid, dass sie dir nicht vertraut hat.«
»Nichts zu danken – und sag ihr, dass es nicht weiter schlimm ist.«
Kellys Lächeln verblasste. Sie wich zurück, lehnte sich an den Schrank und sank zu Boden. Das war das Letzte, was ich von ihr sah, wie sie dort mit an die Brust gezogenen Knien saß und Dr. Wynnes leblosen Körper anstarrte, als erwartete sie, dass er ihr irgendein Geheimnis verraten würde – dass er etwas sagen würde, das allem, was sie durchgemacht hatte, wie von Zauberhand einen Sinn verleihen würde.
Wir drei Übriggebliebenen verließen das Büro und verfielen schnell in einen Laufschritt, der uns keine Zeit zum Grübeln ließ. Wir waren viel zu beschäftigt damit, von einem Ort zu fliehen, der eigentlich der sicherste auf diesem Planeten hätte sein sollen.
Wir waren auf halbem Weg durch den ersten Flur, als die Alarmsirenen aufheulten. Die orangefarbenen Warnlichter unter der Decke gingen an. Mahir beschleunigte und überholte uns beide links. Becks griff mich am Ellbogen und zog mich um die Ecke außer Sicht, kurz bevor das Geräusch rennender Füße den Flur erfüllte, so schnell und laut, dass es sogar die Alarmsirenen übertönte. Der Sicherheitsdienst war unterwegs.
»Du darfst nicht zurückbleiben«, zischte sie. Ich konnte sie kaum hören. Es waren vor allem ihre Lippenbewegungen, die mir verrieten, was sie gesagt hatte.
»Ja, ich weiß.« Becks wollte meinen Arm loslassen, doch ich packte sie bei der Hand. »Kommt schon, ihr beiden. Verschwinden wir von hier.«
Keiner widersprach. Wir setzten uns erneut in Bewegung, rannten beinahe und folgten der Wegbeschreibung einer Toten in Richtung Freiheit. Kelly hielt Wort: Sie gab den Leuten von der Sicherheit in Dr. Wynnes Labor etwas zu tun. Die ersten Schüsse waren zu hören, als wir gerade in das Evakuierungsnetzwerk einstiegen. Sobald die Geheimtür hinter uns zuschlug, brach das Geräusch abrupt ab. Die Sicherheitstunnel waren still und dunkel, genau wie beim letzten Mal.
Auf unserer Flucht begegneten wir keiner Menschenseele. Trotzdem wagte ich kaum zu atmen, bis die Tür nach draußen sich schließlich vor uns öffnete und wir am Rande des Parkplatzes rauskamen, an einer Stelle, die halb verborgen hinter einem kurzen Zaun aus Blechstreifen war. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, welchem Zweck er diente: Falls die Anlage von Infizierten überrannt wurde, bot die Metallwand Deckung und verschaffte einem die nötige Zeit, um entweder zu rennen wie der Teufel oder in den Tunnel zurückzukehren und auf Rettung zu warten. Die Idee war gut. Unglücklicherweise bedeutete »entkommen« in diesem Zusammenhang nichts anderes, als dass wir das Gelände verlassen mussten, bevor man uns sah.
Ich rechnete damit, Schüsse zu hören, während wir zu Maggies Wagen liefen. Mit feuerbereiten Waffen duckten wir uns, um so kleine Ziele wie möglich zu bieten. Doch niemand schoss auf uns. Die Wachleute waren noch drinnen und suchten nach Kellys geheimnisvollen Begleitern. Niemand hatte sich die Videoaufzeichnungen aus den Evakuierungstunneln angesehen, weil wahrscheinlich niemand sich mit Portland in Verbindung gesetzt hatte, weil wahrscheinlich wiederum niemand damit gerechnet hatte, dass wir so weit kommen würden. Mein Herz pochte mir in der Brust, und George gab in meinem Hinterkopf zusammenhanglose, tröstende Laute von sich, um mich zu beruhigen. Das gelang ihr auch halbwegs, aber atmen konnte ich erst wieder richtig, als wir sicher im Wagen saßen und die Außenwelt ausgesperrt hatten. Ich steckte den Schlüssel ins Zündschloss, und dann rasten wir ins spröde goldene Morgenlicht und ließen die Seuchenschutzbehörde hinter uns, darin Kelly Connolly, die naiv gewesen war, aber nie etwas Böses getan hatte.
Wir haben schon zu viele Menschen hinter uns gelassen. Und irgendwie scheint unsere Flucht kein Ende zu finden.
Das Schönste an des Sommers Licht
Ist, dass es uns den Herbst verspricht.
Wenn dann die Schneelast Äste bricht,
Ist es für uns so weit.
In das endlos finstre Grab
Stieg Persephone hinab,
Wo Hades sie zum Schlafe barg
In Staub und Dunkelheit.
Ihm vertrauen wir uns an,
Denn in Hades’ kalter Hand
Fern des Lebens, fern der Angst
Endet alles Leid.
Aus Geliebte Pusteblume, dem Blog von Magdalene Grace Garcia, 23. Juni 2041.