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Nachdem ich die Ereignisse des Tages aufgeschrieben hatte, fühlte ich mich völlig erschöpft. Ich wollte bloß noch nach oben gehen, duschen, mich anständig dekontaminieren und sechs bis acht Stunden pennen, bevor wieder irgendwer was von mir wollte. Aber wenn ich das machte, würde mein Blogbeitrag als Bleiwüste online gehen, und dann würden eifrige Beta-Blogger mein Postfach mit »Hilfsangeboten« überschwemmen. Diese »Hilfe« würde voraussichtlich in Tränen enden – den Tränen meiner Helfer, wenn sie mich so weit in den Wahnsinn getrieben hatten, dass ich sie feuerte. Da war es leichter, die Sache gleich selbst zu erledigen und die Aufnahmen nach brauchbaren Sequenzen zu durchkämmen.
Manchmal vermisse ich Buffy. Das heißt, eigentlich vermisse ich sie immer – sie war eine meiner besten Freundinnen, bis zu dem Moment, in dem sie uns verkauft hat –, aber es gibt Zeiten, in denen ich sie wirklich vermisse. Ich hätte ihr meinen Bericht in die Hand drücken und ihr sagen können, dass sie ihn hübsch verpacken soll, und sie hätte eine Multimediaschlacht aus dem Hut gezaubert, noch ehe die Worte ganz aus meinem Mund gewesen wären. Sie war in ihrem Fach die Beste gewesen. Eigentlich in allem, was sie tat, was in gewisser Weise das Problem war, weil das letztlich auch ihren Verrat an uns einschloss, bei dem eine Menge Leute ums Leben gekommen sind. Bei ihrem Geständnis hat sie gesagt, dass es ihr leidtäte. Damals habe ich ihr geglaubt, und ich glaube ihr auch heute noch. Manchmal machen Menschen Fehler, und manchmal handelt es sich um die Sorte Fehler, bei denen man keine zweite Chance erhält.
Trotzdem ist sie kein bisschen weniger tot, und trotzdem vermisse ich sie kein bisschen weniger.
Letztlich wählte ich drei kurze Filmausschnitte und zehn Bilder aus, packte sie an den Stellen in meinen Artikel, an denen sie die beste Wirkung erzielen oder zumindest nicht völlig unmotiviert erscheinen würden, und machte Feierabend. Im Moderatorenforum hinterließ ich den Vermerk, dass ich ein paar Stunden offline sein würde und nur gestört werden wollte, wenn die Welt unterging. Selbst dann sollten die Leute erst bei Mahir nachfragen, bevor sie mich anriefen. Damit war zwar nicht garantiert, dass man mich in Ruhe ließ, aber immerhin würde es die Leute ein wenig bremsen. So als ob man die Realität auf Schlummeralarm stellt.
Erst als ich aufstand, wurde mir klar, wie verspannt ich war. Ich reckte mich, bis es in meinen Schultern knackte. Auf dieses Stichwort hin fingen die Hälfte aller Muskeln in meinem Körper an, sich zu beschweren, während die andere Hälfte scheinbar zu Wackelpudding wurde. »Scheiße! Ich werde auch nicht jünger«, bemerkte ich und ging in die Küche.
Alaric war weg. Wahrscheinlich hatte er Dienst in den Foren. Nun, besser er als ich, allerdings habe ich diese Strafe Gottes schon so oft erduldet, dass mir jeder auf diesem Posten ehrlich leidtut.
Becks und Maggie saßen immer noch am Tisch und sahen die sichtlich nervöse Kelly mit dem Ausdruck von Katzen an, die eine Maus belauern. Als ich die Küche betrat, drehte sie sich zu mir um, und ein Ausdruck der Erleichterung trat auf ihr Gesicht. Falls sie sich durch mein Eintreffen erlöst fühlte, musste es hier ziemlich übel zugegangen sein, während ich im Nebenzimmer gewesen war.
»He«, sagte ich. »Ich gehe hoch, duschen.«
Der Ausdruck der Erleichterung auf Kellys Miene verblasste. »Willst du deine Fleischpastete nicht aufessen?«
»Nein, ich bin satt. Maggie, kannst du dich um alle Kommentare kümmern, die ich in den nächsten paar Stunden bekomme? Ich muss ein bisschen Schlaf nachholen, sonst bin ich morgen zu nichts zu gebrauchen.«
»Geht klar.« Maggie lächelte. »Jetzt geh schon! Du nimmst dich zu hart ran.«
»Da hast du wahrscheinlich recht.« Ich hielt inne, als mir ein Gedanke kam. »Maggie, sag Alaric, dass er mal nach der Wanze sehen soll, die wir im Konferenzzimmer platziert haben. Die sollte eigentlich jetzt in seinem aktiven Verzeichnis auftauchen. Wenn sie etwas sendet, will ich es sofort wissen.«
»Die Dekontaminierung wird ein paar Tage dauern«, sagte Kelly. Falls sie irgendwelche Einwände hatte, was das Verwanzen von öffentlichen Einrichtungen anging, behielt sie sie für sich. »Bis dahin werdet ihr nichts reinkriegen.«
»Tja, dann habe ich wohl eine Menge Zeit, meinen Schönheitsschlaf nachzuholen. Gute Nacht euch allen, und versucht euch ein bisschen auszuruhen.«
»Mach ich«, sagte Becks und bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick, als ich mich zum Gehen wandte.
Die Treppe hochzukommen kostete mich mehr Mühe, als ich erwartet hatte. Ich war so verdammt müde. Eigentlich kam mir der Weg viel zu anstrengend vor, wo ich mich doch genauso gut zum Schlafen auf die Stufen setzen konnte. Ich wusste, dass ich duschen musste. Laut der strengen Vorschriften für Feldeinsätze hätte ich in dem Moment duschen sollen, in dem ich das Haus betreten hatte. Es kann einem wirklich die Versicherung versauen, wenn man sich nicht nach jedem registrierten Feldeinsatz einer anständigen Dekontamination unterzieht, aber das Gesetz lässt gewisse Schlupflöcher, die man nur kennen muss. Den Ausflug zu Dr. Abbeys Labor hatten wir nicht aufgezeichnet, und die Anlagen der Seuchenschutzbehörde gehören zu den wenigen öffentlichen Orten, die nicht als Gefahrenzonen gelten. Es war absolut legal, dass ich mich nicht wie ein braver kleiner Junge abgeschrubbt hatte, und ich hatte genug Erfahrung, um einschätzen zu können, dass ich keinem der Zombies gefährlich nahe gekommen war. Ich wollte bloß nicht mit dem Gefühl ins Bett gehen, nie wieder richtig sauber zu werden.
Die Duschen in Maggies Haus sind ein weiteres erstaunliches Beispiel dafür, was möglich ist, wenn man genug Geld hat und es bereitwillig ausgibt. In unseren Wohnungen in Oakland hatten wir nur die nötigste Ausstattung gehabt, die aus Luftschleusen, computergesteuerten Wasserdüsen und einfachen Bluttesteinheiten besteht. Man hatte sich dort gefühlt, als würde man von Fabrikrobotern sauber geschrubbt. Komfort hatte keine Rolle gespielt. Die Dinger verpassten einem vielleicht nicht ungefragt einen Einlauf, aber, Himmel, es fehlte nicht viel … Als Maggies Eltern ihr ein eigenes Haus spendiert hatten, hatten sie buchstäblich keine Kosten gescheut. Ich hatte hier Schnickschnack gesehen, den ich bis dahin nur aus Zeitschriften und Artikeln über Menschen mit mehr Geld als Verstand gekannt hatte.
Das gesamte Badezimmer war mit Kacheln aus der alten Zeit gefliest und hatte echte Porzellanarmaturen von der Sorte, die zerbrechen oder Sprünge bekommen können, wodurch sie zu einem Infektionsrisiko werden und vollständig ausgetauscht werden müssen. Auf den ersten Blick übersah man leicht, dass der Raum in zwei Bereiche geteilt war, da sich die Toilette, das große Waschbecken und die antike Wanne mit den Metallfüßen alle im Hauptteil befanden. Man musste nur die Tür öffnen, um das Bad zu betreten – ein Bluttest war nicht nötig. Wenn es einem gelang, den schweren Vorhang vor der einen Wand einfach zu ignorieren, dann konnte man sich einreden, dass man sich tatsächlich in einem Badezimmer aus der alten Zeit befand und dass der ganze Zombiequatsch überhaupt nie passiert war.
Ich schloss die Tür hinter mir und ging ans Waschbecken, wo ich den Inhalt meiner Taschen in den Korb legte, den Maggie zu ebendiesem Zweck dort aufgestellt hatte. Sobald ich mich vergewissert hatte, dass ich nicht versehentlich meinen Presseausweis mitwaschen würde oder so, zog ich mich aus und warf meine Kleider – mit Schuhen und allem – in den Wäschekorb. Wenn ich die Dusche einschaltete, würde sich unten im Wäschekorb ein Schacht öffnen, durch den meine Kleidung zur automatischen Sterilisierung befördert werden würde. Kein Mensch würde sie berühren, bevor sie nicht garantiert keimfrei war. Ich schaute kurz in den Spiegel und runzelte die Stirn. Ich wirkte erschöpft und bekam langsam Ringe unter den Augen. Gut, dass ich nicht mehr im Irwin-Geschäft war. Mit jedem Bild, auf dem ein Irwin müde aussieht, verliert er an Marktwert.
Ich zog den Vorhang beiseite, hinter dem sich die hermetisch verschlossene Tür befand, die die Dusche vom Rest des Badezimmers trennte. An einer Seite befand sich eine Testeinheit. Ich drückte meine Hand darauf und spürte, wie die Nadeln sich in meine Haut bohrten. Ich räusperte mich und sagte: »Shaun Mason, Gast, erbitte Standard-Dekontaminierungsverfahren.«
Einen Moment lang herrschte Stille, während der Computer meine Blutprobe analysierte und mein Stimmmuster mit der Hausdatenbank abglich. Das Licht hörte auf zu blinken und leuchtete nun stetig grün. Eine Glocke ertönte, und eine angenehme Stimme, die verdächtig nach Maggie klang, sagte: »Willkommen, Shaun! Bitte tritt ein!« Die luftdichte Tür schwang zischend auf. Schaudernd trat ich ein. Das Geräusch hydraulischer Türen würde mir noch für eine Weile Unbehagen bereiten – bis die nächste grausige Sache geschah, die mich die Ereignisse in der Seuchenschutzbehörde Portland vergessen lassen würde.
Die Tür schloss sich hinter mir mit einem weiteren, lauteren Zischen. Wenn man das Dekontaminierungsprogramm einmal gestartet hatte, ließ es sich nicht mehr unterbrechen.
»Welche Art von Dusche bevorzugen Sie?« Die Stimme kam aus einem oben in der Rückwand eingelassenen Lautsprecher. Außer der Tür war alles gekachelt, Boden und Decke in Weiß und die Wände in einem beruhigenden Blauton. Es gab vier Duschköpfe, die auf verschiedener Höhe von den Schultern bis beinahe zur Decke angebracht waren. Eine Nische in der Wand zur Linken enthielt Shampoo, Haar-Conditioner und eine Reihe von Duschgels.
»Heiß, kurz, gründlich«, antwortete ich. Nach kurzem Zögern fügte ich ein »bitte« hinzu. Es ist nie gut, Computer zu beleidigen, die intelligent genug sind, ganze Sätze zu bilden. Nicht, wenn sie die Türschlösser kontrollieren, und vor allem nicht, wenn sie dazu in der Lage sind, einen in Desinfektionsmittel zu kochen.
»Sehr gerne«, sagte die Dusche. »Bitte schließen Sie die Augen!« Das war die einzige Vorwarnung, bevor das Wasser mit Macht aus allen vier Duschköpfen schoss. Ich machte die Augen eine halbe Sekunde zu spät zu und versuchte prustend, sie mir trocken zu wischen. Wenigstens fing diese Dusche mit Wasser an. Andere begannen sofort mit den Desinfektionsmitteln.
Der erste Wasserschwall hielt etwa dreißig Sekunden lang an und wärmte mich auf, bevor die Dusche, nach wie vor höflich, verkündete: »Bei drei werde ich mit der Desinfizierung beginnen. Bitte machen Sie sich bereit!«
»Alles klar«, sagte ich und kniff die Augen noch fester zu. Die Flüssigkeit, die auf mich herabregnete, wurde kühler und nahm den beißenden Geruch von Industriebleiche an. Ich versuchte, nicht allzu viel zu atmen, während ich mich abrubbelte und die Flüssigkeit in meine Haut einmassierte. Wie immer brannte es tierisch, aber es war ein gutes Brennen: das Gefühl, wirklich sauber zu werden und einen weiteren Tag überlebt zu haben.
Die Dusche hielt den Desinfektionsteil so kurz wie legal zulässig. Er dauerte nur fünf Sekunden länger als die anfängliche Wasserdusche. Dann sagte die Stimme aus dem Lautsprecher: »Der normale Waschvorgang beginnt jetzt. Sie haben vier Minuten. Bitte melden Sie sich, wenn Sie länger duschen möchten!«
Statt des Desinfektionsmittels kam nun wieder Wasser, das rasch wärmer wurde. Ich wusch mir das Gesicht und sagte: »Vier Minuten sind bestens, danke!«
»Nichts zu danken, Shaun«, antwortete die Dusche.
Gruselig. Ich hasse es, wenn Maschinen anfangen, mit mir zu plaudern. Ich wischte mir durch die Augen, bevor ich sie öffnete und nach dem Shampoo griff. George und ich haben früher um die Wette geduscht. Wer am schnellsten drinnen und sauber wieder draußen war. Die ganzen Typen, mit denen wir zur Schule gegangen waren, behaupteten steif und fest, dass ihre Freundinnen und Schwestern Ewigkeiten im Bad verbrachten, aber George hat immer gegen mich gewonnen. Sie konnte sich in weniger als drei Minuten sauber schrubben, wenn sie es eilig hatte und nicht draußen im Feld gewesen war – die Desinfizierung kostete uns beide Zeit, sodass wir sie irgendwann abzogen, wenn wir unsere Duschzeiten verglichen. Nur so konnten wir sichergehen, dass der Wettbewerb fair blieb. Natürlich belegte sie etwa einmal im Monat einen Nachmittag lang das Badezimmer, um ihrem Haar wieder seine ursprüngliche Farbe zu verleihen, was jedes Mal darin endete, dass sie nach mir rief, damit ich ihr bei den Ansätzen half. Als wir sechzehn gewesen waren, hatte sich das Waschbecken in unserem alten Badezimmer dauerhaft braun verfärbt, und wir haben so viele Handtücher ruiniert …
Das Wasser versiegte und ließ mich mit Seife hinter einem Ohr und einem dämlichen Gesicht zurück. Mir war nicht klar gewesen, dass vier Minuten so schnell vergehen konnten. »Danke, dass Sie heute bei mir geduscht haben, Shaun«, sagte die Dusche, als die hermetisch verriegelte Tür sich zischend öffnete. »Es war mir eine Freude, Ihnen zu Diensten zu sein.«
»Äh, danke!« Ich ging durch die Tür. »Gleichfalls.«
Ich schnappte mir zwei Handtücher von dem Stapel neben dem Waschbecken. Eines schlang ich mir um die Hüften, mit dem anderen rubbelte ich mir kräftig die Haare trocken und legte es mir dann um die Schultern. Der Korb mit meinem Kram war hier über Nacht sicher, und es war ohnehin längst Schlafenszeit für mich.
Ich ging zur Tür, hielt jedoch inne, als ich die Hand nach dem Knauf ausstreckte. »Ach Kacke!« Als wir eingetroffen waren, hatte Maggie sich dafür entschuldigt, dass sie nur drei Gästezimmer hatte – eines für Alaric, eines für Becks und eines für Kelly. Damit musste ich auf dem Sofa im Eingangszimmer schlafen, was in Ordnung gewesen wäre, wenn ich, tja, Kleider gehabt hätte. Nacktheit war definitiv ein Problem, wenn ich erneut dort schlafen wollte, und da ich mir nicht besonders viel Zeit zum Packen genommen hatte, kurz bevor unser Wohnblock explodiert war, hatte ich kein zweites Paar Jeans dabei.
Ich war einfach zu müde, um eine Entscheidung zu treffen. Ich stand noch immer da und versuchte mir darüber klar zu werden, was ich jetzt machen sollte, als jemand an die Badezimmertür klopfte. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus: Gerettet! Offensichtlich war Maggie klar geworden, dass ich ein Problem hatte, weshalb sie mir einen Bademantel brachte, wenn nicht sogar ein Paar Hosen, das vielleicht einer von den Fiktiven bei einem Besuch hier vergessen hatte. »Du hast ja keine Ahnung, wie froh ich bin, dass du kommst«, sagte ich, als ich die Badezimmertür öffnete.
Auf der anderen Seite stand Becks. Sie schaute mich aus großen, ernsten Augen an und sagte: »Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest.« Und dann, ehe ich die Gelegenheit hatte, zu reagieren oder auch nur etwas zu sagen, kam sie ins Badezimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Einen Moment lang blieb sie stehen. Mit einer Hand hielt sie den Türknauf hinter ihrem Rücken fest, die andere hatte sie an die Hüfte gelegt. Es war ein Mittelding aus einer Pose und einem Innehalten, und ich hatte keine Ahnung, was es zu bedeuten hatte.
»Äh!« Ich trat einen Schritt zurück, um ihr Platz zu machen, damit sie tun konnte, was auch immer sie zu tun beabsichtigte. »He, Becks, alles in Ordnung? Ich wollte gerade das Bad frei machen, also wenn du rein willst …«
»Halt den Mund, Shaun!« Sie ließ die Tür los und kam auf mich zu. Kaum war sie bei mir, nahm sie das Handtuch von meinen Schultern und warf es achtlos beiseite. »Warum hältst du nicht einmal in deinem Leben, ein einziges Mal. Einfach. Den. Mund.« Sie kam noch ein bisschen näher, beugte sich auf Zehenspitzen vor und küsste mich.
Mit diesem Kuss hatte ich nicht gerechnet. Mir blieb keine Chance auszuweichen oder ihn abzuwehren. Nein, ich hätte die Sache nicht sofort abwenden … aber ich hätte mich ihr entziehen können. Und damit an Ort und Stelle beenden.
Stattdessen erwiderte ich ihren Kuss.
Becks drückte sich fest an mich, schlang die Arme um meine Schultern und hielt mich fest. Ich legte die Arme um ihre Hüften, vor allem, weil ich nicht wusste, wohin mit ihnen, und zog sie fast unwillkürlich näher an mich. Ich hatte das Gefühl, als würde die von ihrem Körper ausgehende Wärme die verbleibende Feuchtigkeit auf meiner Haut einfach verdampfen. Sie hörte nicht auf, mich zu küssen, und ihre Bewegungen wurden von Sekunde zu Sekunde drängender. Mit einem Mal wurde mir sehr deutlich, dass ich beinahe nackt war. Ich hob die Hände und umfasste ihre Unterarme, um sie behutsam von mir wegzuschieben. Sie rang darum, den Kuss noch ein paar weitere Sekunden aufrechtzuerhalten, bis wir zu weit voneinander entfernt waren.
Ihre Augen leuchteten, und ihre Wangen waren gerötet. Sie trug noch immer den Bademantel, den sie sich von Maggie geliehen hatte. Der Gürtel hatte sich beinahe gelöst, wodurch ich einen wirklich guten Blick in ihren Ausschnitt hatte. Ich schluckte. Schwer. Ich mochte vielleicht müde sein, aber ich war nach wie vor männlichen Geschlechts, und es war verdammt lange her, seit ich eine derartige Aussicht genossen hatte. Teile meiner Anatomie, die ich schon beinahe abgeschrieben hatte, wachten auf und bekundeten ihr Interesse an der Situation. Lautstark.
»Becks, ich weiß nicht, ob …«
»Möchtest du, dass ich aufhöre?« Sie entwand sich meinem Griff mit einer schlichten Eleganz, die mir den Atem stocken ließ. Dann ergriff sie meine Hände und verschränkte ihre Finger mit den meinen. »Ich will ganz ehrlich sein. Ich möchte nicht aufhören. Aber wenn du willst, gehe ich wieder.«
»Ich … ich weiß nicht … ich bin bloß …« Ich schaute auf unsere ineinander verschränkten Finger, betrachtete ihre praktischen, kurzen Fingernägel. Sie hatte die Nägel einer Irwin. Seltsamerweise fühlte ich mich durch diesen Gedanken besser. Ich war einfach nur eine weitere Gefahrenzone, die sie erforschen wollte. »Ich weiß nicht, ob das eine besonders gute Idee ist.«
»He, schau mich an!«
Ich hob den Kopf. Becks schaute mir in die Augen und fuhr fort: »Ich bitte dich nicht um irgendwelche Zusagen. Ich will nicht fest mit dir zusammen sein. Du bist mein Chef, und du bist mein Kollege, und ich respektiere das. Aber wir wären heute beinahe gestorben, und ich würde mir gerne in Erinnerung rufen, dass wir überlebt haben.« Sie trat einen Schritt zurück, ohne meine Hände loszulassen. »Ich fühle mich einsam. Bist du niemals einsam?«
Mit einem Mal fiel mir das Atmen schwer. »Jede verdammte Nacht«, sagte ich, überwand den Abstand zwischen uns mit einem Schritt, riss meine Hände los und schlang ihr erneut die Arme um die Hüften. Diesmal war ich es, der sie küsste. Diesmal war ich derjenige, der sich drängend an sie drückte, als sie meinen Kuss erwiderte. Sie griff mir mit den Fingern ins Haar und zog meinen Kopf etwas nach unten. Wir küssten uns, bis meine Lippen sich wund anfühlten und mir vor Atemnot die Brust schmerzte.
Becks zog sich zurück, die Finger immer noch in meinem Haar. »Heißt das, dass ich nicht aufhören soll?«
»Hör nicht auf«, keuchte ich und küsste sie erneut.
Irgendwie schafften wir es raus aus dem Badezimmer und runter in den Flur zu den Gästezimmern, wo sie schlief. Es gelang mir, das Handtuch umzubehalten, bis wir die Tür hinter uns zugemacht hatten. Dann löste Becks das Problem, was ich damit machen sollte, indem sie es mir abnahm und beiseitewarf. Sie öffnete ihren Bademantel, drückte sich fest an mich und begann erneut, mich fieberhaft zu küssen. Das Gefühl ihrer Haut auf meiner war fast zu viel. Ich stöhnte. Sie stöhnte ebenfalls zufrieden, der Laut einer lebendigen Frau, die begehrte und begehrt werden wollte, anstelle der Laute der Toten. Gut, denn das war es, was ich brauchte. Ich verbrachte viel zu wenig Zeit mit den Lebenden.
Die tosende Stille in meinem Schädel war vergessen, erstickt von den Geräuschen unserer Körper – Haut, die über Haut glitt, Finger, die durch Haare strichen, Lippen, die einander fanden, sich voneinander lösten und einander erneut begegneten. Becks ging die ganze Zeit rückwärts und zwang mich so, ihr zu folgen, wenn ich sie weiter küssen wollte. Das wollte ich, und so ging ich weiter, bis sie mich aufs Bett zog und ein Bein um mich schlang, um mich festzuhalten. Ich widersetzte mich nicht. Ich wollte mich nicht widersetzen. Zum ersten Mal seit Georges Tod war mir alles bis auf diesen Augenblick scheißegal. Es war ein schönes Gefühl. Es hatte mir gefehlt.
»Shaun.«
Ich fing an, ihren Hals zu küssen, schmeckte das leichte Salzaroma ihrer Haut. Auch das hatte mir gefehlt. Der Geschmack vom Hals einer Frau, die Art, wie er sich beim Atmen bewegte …
»Shaun.«
Es dauerte einen Moment, bis Becks’ Stimme zu mir durchdrang. Ich hörte auf, sie zu küssen, richtete mich auf und schaute ihr ins Gesicht. Ihr Haar war so zerzaust, als hätte sie gerade einen Marathonlauf absolviert und davor noch eine ganze Zombiehorde nur mit einer Schrotflinte zurückgeschlagen. Langsam begriff ich, warum sie es lang trug. Es mochte vielleicht tierisch unpraktisch sein, aber es ermöglichte einen Anblick wie diesen, und das war ein paar Unannehmlichkeiten wert. »Was ist? Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein.« Sie lächelte ein wenig schief. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich Kondome habe.«
So weit hatte ich noch nicht einmal gedacht. Ich blinzelte verwirrt und nickte. »Super, wenn ich welche habe, sind sie nämlich unten.« Genau genommen war ich mir nicht sicher, ob ich Kondome im Rucksack hatte oder nicht. Ich hatte so lange keine mehr gebraucht, dass mir der Gedanke daran überhaupt nicht gekommen war. In der Welt nach Georges Tod hatte Sex keine Rolle gespielt. Dafür war einfach keine Zeit gewesen.
Becks lächelte noch immer, und nun wirkte sie erstaunlich schüchtern, wenn man bedachte, dass wir beide splitterfasernackt und ineinander verschlungen waren. »Lässt du mich nach oben?«, fragte sie.
»Äh, klar!« Es war nicht ganz einfach, uns zu entwirren. Sie stand auf, reckte sich, damit ich ihren Körper möglichst gut betrachten konnte – und ich musste zugeben, dass es da wirklich einiges zu sehen gab. Dann ging sie zu ihrem Rucksack und bückte sich, um in einer der Innentaschen herumzukramen. Ich blieb auf dem Bett. Mit einem Mal fühlte ich mich unbehaglich und wusste nicht, wohin mit meinen Händen. Das war auch etwas, worüber ich mir noch nie hatte Gedanken machen müssen. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich sie betrachten sollte, solange sie nicht im Bett war. Schließlich beschloss ich, mich aufzusetzen, die Hände locker zwischen den Oberschenkeln abzulegen und dabei in ihre Richtung zu schauen, ohne dabei wirklich hinzusehen. Wenn ich wegschaute, dann würde sie sich vielleicht aufregen. Vielleicht käme sie dann zu dem Schluss, dass mir ihr Anblick nicht gefiele oder so.
Himmel! Seit wann war das Leben so verdammt kompliziert?
»Da haben wir es.« Becks drehte sich um, hielt ein folienverpacktes Kondom zwischen Daumen und Zeigefinger hoch und kam zurück zum Bett. »Ich habe ein Verhütungsimplantat, aber man kann nie sicher genug sein, stimmt’s?«
»Stimmt«, wiederholte ich lahm. Die Unterbrechung hatte mir Zeit zum Nachdenken gegeben, was nicht besonders gut war. Mein Körper war nach wie vor dafür, die Sache durchzuziehen, aber jetzt versuchte mein Gehirn, seine Position geltend zu machen, und es hielt das alles hier für gar keine gute Idee. Es war sich sogar ziemlich sicher, dass es sich um eine verdammt schlechte Idee handelte, und wenn es einen Moment zum Abbrechen gab, dann war er jetzt.
Becks riss die Verpackung auf.
Mit einem Schlag wurde mein Großhirn vom hormondurchfluteten Körper überstimmt. Ich griff nach ihr, und sie griff nach mir, und dann rollten ihre Finger das Kondom über meinen Schwanz ab, und dann nahm sich mein kohärentes Denkvermögen eine kleine Auszeit. Es wurde nicht mehr benötigt und war auch nicht mehr erwünscht. Jetzt ging es nur noch um das, was sich in diesem Bett befand, und dafür musste man kein bisschen denken, sondern nur handeln. Also machte ich die Augen zu, legte die Hände an Becks’ Hüften und gab mich dem Augenblick hin.
Ich weiß nicht, wie lange er dauerte. Jedenfalls war ich am Ende noch erschöpfter als vorher. Es war eine bessere Art von Erschöpfung, aber … allumfassend, die Art von Erschöpfung, gegen die man praktisch nicht ankämpfen kann. Ich half Becks mit halb geschlossenen Augen beim Aufräumen und beförderte tastend die feuchten Laken und das benutzte Kondom in den Wäschekorb und den Mülleimer. Dann legte ich mich wieder auf die Matratze, ließ den Kopf aufs Kissen sinken. Es kam mir vor, als würde endlich alle Anspannung von mir abfallen und mich schwebend an jenem wunderbaren Übergang zwischen Halbschlaf und Bewusstlosigkeit zurücklassen.
Finger fuhren über meine Brust und kamen oberhalb meines Nabels zur Ruhe. »Gute Nacht, Shaun«, flüsterte eine Stimme Zentimeter von meinem Ohr entfernt.
Himmel! Zum ersten Mal seit Ewigkeiten kam es mir vor, als wäre die Welt wieder in Ordnung. Ich hob eine Hand, um ihr mit den Fingerknöcheln über die Wange zu streichen, roch ihren süß-salzigen Sexgeruch und lächelte.
»Gute Nacht, George«, sagte ich und versank in Schlaf.
Die Geschichte der Menschheit ist voller Singularitäten – großen Ereignissen, die alles verändert haben, auch wenn niemand sie vorhersehen konnte. Die Entdeckung von Antibiotika war eine Singularität. Davor war es normal, dass Frauen langsam und qualvoll »im Kindbett« starben, an einer ganz einfachen Staphylokokken-Infektion. Ein Loch im Zahn konnte einen umbringen. Antibiotika haben all das verändert, und keine fünfzig Jahre waren sie eine Selbstverständlichkeit.
Die industrielle Revolution war eine Singularität. Wer das hier liest, sollte bedenken, dass elektrisches Licht einmal als Luxus galt und dass man zunächst sogar bezweifelt hatte, dass es sich durchsetzen würde. Die Vorstellung, dass eines Tages die ganze Welt nur noch mithilfe von Maschinen funktionieren würde, wäre als absurd angesehen worden, als pure Science-Fiction … und doch ist es so gekommen.
Das Erwachen war eine Singularität. Die Art, wie wir heute leben, ist nicht nur ein bisschen anders. Sie wäre unseren Vorfahren völlig fremd. Unsere Paradigmen haben sich verschoben, und man kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Deshalb greifen so viele alte psychologische Regeln nicht mehr. In einer Welt voller wandelnder Toten ist das verrückt, was man daraus macht.
Aus Lagerkollerträume, dem Gastblog von Barbara Tinney, 20. April 2041.
Am heutigen Filmabend gibt es den Klassiker des Genres, Tanz der Teufel, in dem ein echt scharfer junger Bruce Campbell – lecker! – von Dämonen, bösen Bäumen und seiner eigenen Hand bedroht wird. Ich werde den Chatroom um acht Uhr pazifischer Zeit eröffnen und für diejenigen, deren Aufmerksamkeitsspanne nicht für mehr als ein paar Hundert Zeichen reicht, die ganze Zeit live über den Film bloggen.
Ich hoffe, euch alle online zu sehen, und denkt dran: Wer sich zuletzt einloggt, ist mir einen Drink schuldig.
Aus Geliebte Pusteblume, dem Blog von Magdalene Grace Garcia, 20. April 2041.