14
Laut der GPS-Anzeige des Motorrads hätte die Fahrt von der Seuchenschutzbehörde in Portland zu Maggie etwas über fünf Stunden auf dem Highway dauern müssen. Wir brauchten allerdings an die acht. Da die Wahrscheinlichkeit, dass der Seuchenschutz uns verfolgte, soeben enorm gestiegen war, hielten wir uns an die Seitenstraßen, ließen die Kameras aus und gingen den Wachstationen so weit wie möglich aus dem Weg. Ich würde zwar nicht behaupten, dass wir am Arsch der Welt rumgurkten, aber wir mussten zweimal anhalten, um Zombie-Hirsche niederzuschießen, die versuchten, sich durch den Zaun zwischen der Straße und dem umliegenden Brachland zu nagen.
»Ich wünschte wirklich, dass ich das posten könnte«, klagte Becks, während sie einem weiteren der infizierten Pflanzenfresser direkt zwischen das Geweih schoss.
»Tja, ich wünschte wirklich, ich hätte eine Tasse Kaffee«, antwortete ich und trat den Motor an. »Komm!«
Es gab Zeiten, da war es mir paranoid vorgekommen, dass George Buffy darum gebeten hatte, einen Störsender in das Ortungssystem ihres Motorrads einzubauen. Die Zeiten liegen hinter mir, insbesondere jetzt, da wir uns dank dieses Störsenders dreimal zum Tanken und zur Koffeinaufnahme zurück auf den Highway stehlen konnten. Während ich fuhr, überflog Becks die Nachrichten auf der Suche nach Berichten über den Ausbruch in Portland. »Wir können nicht vorsichtig genug sein«, sagte sie, als wir anhielten, um Getränke und ausreichend fettiges Fast Food zu besorgen, damit wir es zu Maggie schafften, ohne zusammenzubrechen. Ich war ihrer Meinung. Wir waren zu weit gekommen, um zu sterben, nur weil wir keine Nachrichten gehört hatten.
In den ersten Berichten wurde unsere Anwesenheit überhaupt nicht erwähnt. Sie waren allesamt nichtssagend und sorgfältig bereinigt. Erst als wir schon etwa zwei Stunden unterwegs waren, gab man in den offiziellen Berichten zu, dass möglicherweise ein paar Journalisten in den Ausbruch geraten waren, aber weder nannte man unsere Namen, noch versuchte man, uns die Sache anzuhängen. Das war schon mal gut. Es bedeutete, dass wir noch etwas Zeit hatten, bevor wir sie alle umbringen mussten.
George blieb während der Fahrt uncharakteristisch ruhig. Sie war nicht weg – in dem Fall wäre ich viel zu zerrüttet gewesen, um das Motorrad unter Kontrolle zu halten, insbesondere nach allem, was seit Kellys Eintreffen passiert war –, aber sie redete auch nicht mit mir. Sie saß einfach schweigend in meinem Hinterkopf und brütete über Gott weiß was. Wenn sie so weit war, würde sie es mir schon sagen. Ich weiß, das verrät einiges über meine geistige Gesundheit. Wir hatten uns so weit von der Normalität entfernt, dass das Wort »seltsam« keine Bedeutung mehr für uns hatte.
Die Sonne hing tief an einem mangofarbenen Himmel, als ich auf Maggies Auffahrt fuhr. Ich musste mit einem Fuß am Boden rollern, damit das Motorrad nicht umkippte, während wir ein Sicherheitstor nach dem anderen durchquerten, bis sich meine Hand an der Kupplung irgendwann verkrampfte und ich den Eindruck gewann, dass es angenehmer sein würde, das Motorrad einfach am Straßenrand liegen zu lassen und den restlichen Weg bis zum Haus zu Fuß zu gehen. Becks war offensichtlich genauso erschöpft wie ich. Als wir schließlich den Netzhautscan bestanden, war sie regelrecht zittrig, so sehr verlangte es ihr nach der Sicherheit freundlicher Hauswände.
Das fünfte Tor stand offen, genau wie bei unserem letzten Besuch, als wir als Flüchtlinge aus der Asche von Oakland hier eingetroffen waren. Ein beiläufiger Beobachter hätte vielleicht vermutet, dass Maggie das verdammte Ding nie zumachte. Er wäre sofort eines Besseren belehrt worden, denn sobald ich zum Stehen kam, glitt es lautlos zu. Das Geräusch des zuschnappenden Schlosses war das Süßeste, was ich je vernommen hatte.
Becks wartete kaum, bis das Motorrad stand. Ich hatte den Fuß noch am Ständer, als sie absprang. Ein paar Sekunden lang lief sie auf der Stelle auf und ab, um wieder Gefühl in die Beine zu bekommen. Dann nahm sie ihre Tasche vom Motorrad, erklärte: »Ich gehe duschen«, und machte sich auf den Weg Richtung Hintertür. Kommentarlos sah ich ihr nach. Sie wollte nicht selbst Bericht darüber erstatten, was in der Seuchenschutzbehörde vorgefallen war, und da ich der Chef war, überließ sie dieses kleine Vergnügen mir.
»Sie ist ja so ein Schatz«, sagte ich trocken.
Sei vorsichtig! George klang besorgt. Ich zuckte zusammen, nicht nur aufgrund ihres Tonfalls. Sie hatte so lange geschwiegen, dass ich ihre Anwesenheit beinahe vergessen hatte, wie wenn man mit jemandem im Raum sitzt, der schon seit Stunden nichts gesagt hat und dann plötzlich aufsteht und geht. Ich glaube, du begreifst nicht wirklich, was mit ihr vorgeht.
»Wie, willst du damit etwa sagen, dass sie vielleicht für den Seuchenschutz arbeitet? Ich glaube kaum. Normalerweise bin ich nicht so schlecht darin, Menschen einzuschätzen.«
Shaun … Ich konnte Georges entnervtes Kopfschütteln beinahe vor mir sehen, die Art, wie sie mich hinter ihrer Sonnenbrille böse anstarrte. Ich halte Becks nicht für eine Verräterin, aber du musst vorsichtiger mit ihr sein. In Ordnung? Kriegst du das für mich hin?
»Klar doch, George.« Ich rutschte vom Motorrad und streckte mich. Meine Waden- und Oberschenkelmuskeln protestierten gegen die Bewegung, aber mein Hintern, der vom Fahren so wund war, dass ich bezweifelte, ob ich mich jemals wieder hinsetzen konnte, war wichtiger. »Wenn du es sagst.«
Es hat schon was für sich, dass meine Kollegen wissen, dass ich verrückt bin. Maggie, Alaric und Kelly befanden sich in der Küche, als ich eintrat. Sie hatten alle drei einen guten Blick aufs Fenster, und nicht einer von ihnen machte eine Bemerkung darüber, dass ich innegehalten hatte, um Selbstgespräche zu führen, ehe ich Becks ins Haus gefolgt war.
»Becks ist auf dem Weg zur Dusche hier durchgerast«, sagte Maggie. Sie stand an der Spüle und trocknete gerade die letzten Teller ab. Die Küche roch nach leckeren Pasteten und frisch gekochtem Hühnchen. Mein Magen rumorte und erinnerte mich daran, dass ich seit unserer Abfahrt aus Portland nichts außer ein bisschen Trockenfleisch, einer halben Tüte Kartoffelchips und einem Schokoriegel gegessen hatte. Maggies Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. »Eine Fleischpastete steht für dich im Ofen. Wir haben sie dringelassen, damit sie warm bleibt.«
»Großartig. Danke!« George blieb weiter abwartend in meinem Hinterkopf, doch die Anspannung, die von ihr ausging, war spürbar. Ich ging an den Kühlschrank. Während meiner und Becks’ Abwesenheit war jemand einkaufen gewesen: Im untersten Fach stand ein Zwölferpack Cola, und dazu gab es genug frische Vorräte, damit wir eine Belagerung überstehen konnten, solange uns niemand den Strom abdrehte.
Ich nahm mir eine Cola, knallte die Tür zu und drehte mich zum Tisch um, während ich die Dose öffnete. »He, Leute«, sagte ich so liebenswürdig wie möglich. »Wie lief’s hier, während Becks und ich unterwegs waren?«
»Mahir hat bekannt gegeben, dass wir ›Barbara Tinney‹ eingestellt haben, und Kelly dabei geholfen, ihren ersten Beitrag online zu stellen, während ich das Videomaterial überwacht habe, dass ihr vom Seuchenschutz rübergeschickt habt«, erklärte Alaric.
»Wirklich? Cool. Worum ging es in ihrem Beitrag?«
»Um die psychologischen Auswirkungen des Isolationismus auf die Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen«, antwortete Kelly. Ich sah sie verständnislos an. Sie fügte hinzu: »Menschen mit Lagerkoller sind verdammt schlechte Zimmergenossen.«
»Ich wette, das war ein richtiger Quotenhit«, sagte ich nach einer angemessenen Pause. »Alaric?«
Er nahm das Stichwort elegant auf und fuhr fort: »Ich hatte ein Dutzend Beiträge online, nachdem die Sache bei euch losging, noch bevor irgendjemand sonst von dem Ausbruch berichtet hat. Mahir hat nun jeden Newsie, der am Platz ist, und etwa die Hälfte der Irwins auf die Sache angesetzt. Der einzige Kommentar der Seuchenschutzbehörde bislang bezeichnet den Vorfall als ›eine vermeidbare Tragödie‹, deren Ursachen nun untersucht würden. Sie erwähnen ein mögliches Versagen der Luftschleusen zwischen den Behandlungs- und den Mitarbeiterbereichen.«
»Was Schwachsinn ist«, sagte Kelly. »Diese Luftschleusen sind darauf ausgelegt, selbst einen Atomkrieg zu überstehen. Auf gar keinen Fall versagen sie einfach.«
»Gut zu wissen«, erwiderte ich und nahm einen Schluck Cola.
Frag, ob in einem der Berichte das Konferenzzimmer erwähnt wird, sagte George plötzlich seltsam drängend.
»In Ordnung«, brummte ich und fragte dann lauter: »Äh, Alaric? Taucht in irgendeinem der von Mahir zusammengestellten Berichte Videomaterial von mir und Becks auf, wie wir im Konferenzzimmer sitzen und auf den Direktor warten?«
Alaric blinzelte und nickte. »Woher wusstest du das? Das war das Zweite, was er hochgeladen hat. Er meinte, dass der Zeitstempel darauf wichtig wäre, damit es allgemein zur Kenntnis genommen wird.«
George setzte zu einer Erklärung an, doch ich schnitt ihr das Wort ab. »Der Zeitstempel auf dem Video aus dem Konferenzraum bedeutet, dass sie nicht versuchen können, uns den Ausbruch anzuhängen. Wir können unmöglich so viel Zeit damit verbracht haben, dort herumzusitzen und zu warten, und gleichzeitig diejenigen sein, die die Luftschleusen beschädigt haben.«
Du lernst dazu, sagte George anerkennend.
»Zeitstempel kann man fälschen«, bemerkte Maggie. Alaric, Kelly und ich drehten uns zu ihr um. Sie zuckte mit den Schultern. »Ihr solltet euch nicht allzu sehr auf einen Zeitstempel verlassen. Der allein wird euch nicht retten. Für so etwas hat meine Familie Anwälte.«
»Danke für diesen kleinen Lichtblick, Maggie!« Ich wandte mich Kelly zu. »Also, Doc, hätten wir vorhersehen können, dass wir in eine Todesfalle gelaufen sind? Ich meine, in diesem Punkt vertraue ich dem Seuchenschutz etwa so weit, wie George dich werfen kann, aber es kommt mir trotzdem ein bisschen extrem vor, eine ganze Anlage auszuräuchern, nur um zwei Reporter zu erledigen.«
Kelly runzelte die Stirn. »Aber Georgia ist … oh!« Sie hielt mitten in ihrer Widerrede inne, als sie begriff. »Nein. Ich hatte keine Ahnung. Langsam wird mir klar, dass … meine ehemaligen Arbeitgeber« – sie spie das Wort »ehemaligen« aus, als ob es schlecht schmeckte – »zu einigen ziemlich grausigen Sachen fähig sind, aber ich hätte niemals erwartet, dass sie etwas Derartiges tun würden. Dann hätte ich euch nicht gehen lassen.«
»Das Traurige daran: Ich wette, sie haben noch mehr hässliche Überraschungen für uns parat. Wart’s ab!« Ich trank von meiner Cola und musterte Kellys Gesicht auf der Suche nach Anzeichen dafür, dass sie die Nerven verlor. Der Doc hielt sich besser als erwartet: Das Einzige, was ich in ihren Augen sah, war Erschöpfung, sowohl körperliche als auch geistige. Wir alle waren müde, aber wir anderen waren auch auf solchen Scheiß vorbereitet – zumindest so vorbereitet, wie man auf etwas sein konnte, das eigentlich niemals hätte passieren dürfen. »Tja, wir haben es lebend rausgeschafft. Das ist doch schon mal was. Alaric, wie stehen wir da?«
»Das letzte Mal, als ich nachgesehen habe, sind die Quoten gerade vier Punkte raufgegangen, und wie zu erwarten profitieren auch unsere engsten Konkurrenten von der Sache«, antwortete Alaric, ohne zu zögern. »Drei von ihnen behaupten, das Ganze wäre eine Ente, und zwei weitere sind der Meinung, dass wir durch unser draufgängerisches Verhalten unsere Lizenzen gefährden, in der Hoffnung, dadurch unsere Quoten hochzutreiben.«
Ich schnaubte. »Als ob ›draufgängerisches Verhalten‹ nicht sowieso ein fester Bestandteil unserer Arbeit wäre. Amateure. Sollen sie sich doch ihre eigenen lebensgefährlichen Regierungsverschwörungen suchen.«
»Können wir das bitte lassen?« Maggie nahm einen Stapel Teller und sortierte sie in den Geschirrschrank ein. »Ich glaube, eine auf einmal reicht, und da die Dinger dazu neigen, sich auszubreiten, bin ich mir nicht sicher, ob wir uns mit einer zweiten nicht übernehmen würden.«
»Stimmt schon.« Ich warf meine leere Dose in die Recyclingtonne. »Meintest du nicht, es gäbe Fleischpastete?«
»Ja, und du meintest, du würdest uns erzählen, was passiert ist.« Maggie verstaute die letzten Teller, nahm die Ofenhandschuhe vom Haken und öffnete den Backofen. Sie holte eine Keramikform mit Deckel heraus, aus der es nach etwas roch, das geradewegs aus dem Himmel zu kommen schien. Sie stellte die Form auf dem Tisch ab.
»Koffein, dann Essen, dann erzählen.« Ich schnappte mir eine Gabel aus dem Abtropfgitter und setzte mich. Aus der Nähe duftete die Pastete sogar noch intensiver. Die Bulldoggen waren der gleichen Meinung: Zwei von ihnen kamen sofort aus dem Nachbarzimmer herbei und ließen sich in vollendeter und unerbittlicher Bettelhaltung vor mir nieder. »Kannst du mir noch mal sagen, warum wir nicht schon vor Jahren bei dir eingezogen sind?«
»Weil ich mitten im Nirgendwo wohne, was für jemanden, der nicht nur Fiktives schreibt, nicht gerade ein Vorteil ist.« Maggie machte sich wieder daran, Teller wegzuräumen. »Jetzt rede, sonst nehme ich dir dein Abendessen wieder weg.«
»Alles, nur das nicht.« Ich bohrte die Gabel in die Kruste. »Wie viel von den Aufnahmen habt ihr gesehen, Leute?«
»Genug«, antwortete Alaric grimmig.
Ich nickte. »Also gut!« Ich nahm einen Bissen Pastete, schluckte und begann zu erzählen. Ich fing damit man, wie Becks und ich beim Motel losgefahren waren. Der Großteil der Zeit, die wir in der Seuchenschutzbehörde verbracht hatten, war ziemlich genau von den Kameras dokumentiert worden, die wir dabeigehabt hatten, aber das waren einfache Aufzeichnungsgeräte gewesen und keine voll ausgestatten Feldgeräte. Es gab Dinge, die ihnen entgangen waren, wie zum Beispiel der Großteil von Direktor Swensons Reaktionen und alles, was sich auf der Flucht durch den geheimen Tunnel ereignet hatte.
»Die Übertragung ist in dem Moment abgerissen, als ihr durch die zweite Tür gegangen seid«, sagte Alaric. »Draußen war das Signal dann wieder da.«
»Tatsächlich?« Ich warf Kelly einen Blick zu. »Wusstest du, dass das passieren würde?«
»Nein, aber es ergibt Sinn. Diese Tunnel sind stark abgeschirmt, damit es im Ernstfall nicht zu einer Kontamination kommt. Wir sollen uns nicht mal bei Übungen länger in ihnen aufhalten, wenn es sich vermeiden lässt.«
»Strahlung?«, fragte Alaric.
Kelly zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es wirklich nicht. Tut mir leid.«
Ich nutzte die kurze Abschweifung, um mir ein paar weitere Bissen in den Mund zu stopfen, wobei ich mir kaum die Zeit zum Kauen nahm. Schließlich sagte ich: »Na schön, davon habt ihr also kein Videomaterial gekriegt. Es war ohnehin zu dunkel, um viel Interessantes aufzunehmen, aber wenn die Abschirmung uns nicht die Elektronik gegrillt hat …« Ich schaute zu Kelly. Mit einem Kopfschütteln bedeutete sie mir, dass damit nicht zu rechnen war. Nur logisch, da die Seuchenschutzbehörde wahrscheinlich selbst Aufzeichnungsgeräte in ihren Tunneln hatte. Falls es jemals zu einer Notsäuberung kam, mussten sie schließlich wissen, was schiefgelaufen war. »Du solltest dazu in der Lage sein, die Tonspur auszulesen.«
»Vergiss nicht die hübschen gelben Lichter. Die sind wahrscheinlich auch den einen oder anderen Screenshot wert.« Wir drehten uns um, als wir Becks Stimme hörten. Sie trug einen von Maggies Bademänteln, den Gürtel locker um die Hüften gebunden, und ihr Haar war noch etwas nass und zerzaust vom Abtrocknen. »Gibt es noch eine Fleischpastete, Maggie? Ich habe solchen Hunger, dass ich einen Hund verspeisen könnte.«
»Bitte nicht«, erwiderte Maggie. »Es ist schwer genug, sie zu sozialisieren, ohne sie glauben zu machen, dass Menschen sie nach Lust und Laune auffressen. Deine Pastete steht im Backofen.«
»Du bist ein Engel.« Becks hielt schnurstracks auf den Ofen zu und beachtete uns nicht weiter.
Ich stach mit der Gabel in meine Pastete, um ein Stück Hühnchen aufzuspießen, und richtete meine Aufmerksamkeit dann wieder auf Kelly. »Also, Doc, du hast gute Arbeit geleistet, als du uns zu diesem Tunnel gelotst hast. Und du hast gut mitgedacht.«
»Wir führen einmal monatlich Evakuierungsübungen und Infektionssimulationen durch, um im Falle eines Ausbruchs die Verluste zu minimieren«, sagte Kelly. »Es gibt Unterschiede zwischen den verschiedenen Außenstellen, aber die sind eher gering, und der Grundriss bleibt sich im Kern gleich. Außerdem werden wir einmal im Jahr zu anderen Niederlassungen gefahren, um dort an Evakuierungsübungen teilzunehmen. So will man sichergehen, dass wir uns nicht von vertrauten Orientierungspunkten abhängig machen.«
»Wie, du meinst von der weißen Tür, der weißen Tür und, ach ja, der beliebten weißen Tür?«
Kelly lächelte ein leises, kurzlebiges Lächeln. »So in der Art. Es ist erstaunlich, wie sehr sich zwei identische Flure unterscheiden können, wenn man in ihnen ein Jahr lang oder länger täglich seiner Arbeit nachgeht. Wir müssen lernen, sie auf nichts als ihren Grundriss zu reduzieren.«
»Soll das heißen, dass du ganze Gebäudeanlagen auswendig kennst?«, fragte Alaric mit einem Mal interessiert. Kelly nickte. »Könntest du mir mithilfe eines einfachen Zeichenprogramms eine Karte anfertigen?«
»Ich denke schon. Wieso?«
»Weil das vielleicht nicht unser letzter Ausflug zur Seuchenschutzbehörde war, und es wäre mir lieber, wenn wir uns beim nächsten Mal nicht darauf verlassen müssten, mit dem Telefon durchzukommen«, erklärte ich. Kellys Aufmerksamkeit wandte sich wieder mir zu. »Alaric, besorg ihr dieses Zeichenprogramm und versuch, öffentliches Datenmaterial zu finden, das du mit ihrer Arbeit abgleichen kannst.«
»In den öffentlichen Datenbanken dürfte nichts von den Nottunneln stehen«, sagte Kelly.
»Trotzdem ist es nie schlecht, einen zweiten Plan zu haben.« Ich warf ihr ein zahnreiches Lächeln zu. »Außerdem gibt es im öffentlichen Datenmaterial sicher komplette Grundrisse der frei zugänglichen Bereiche, was reichen dürfte, um deinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Ich vertraue zwar durchaus darauf, dass du uns die Wahrheit sagst, soweit du sie kennst, Doc. Aber nach dem, was wir von Dr. Abbey erfahren haben, könnte ich mir vorstellen, dass es ein paar delikate Dinge gibt, die du vielleicht lieber auslässt.«
Ihre Miene verhärtete sich. Einen Moment lang erwartete ich, dass sie meine Autorität infrage stellen würde. Die anderen sahen es auch. Alaric rückte mit seinem Stuhl ein paar Zentimeter vom Tisch ab, während Maggie und Becks beide aufhörten, in der Küche herumzulaufen, und ihre ganze Aufmerksamkeit auf Kelly richteten. Das Haus schien den Atem anzuhalten. Schließlich schüttelte Kelly widerstrebend den Kopf.
»Schon in Ordnung. Wir sitzen alle in einem Boot, ob es uns nun gefällt oder nicht. Ich schätze, wir müssen alle lernen, einander zu vertrauen.«
»Das ist die richtige Einstellung«, sagte ich.
»Ich habe bloß eine Frage«, sagte Alaric. »Woher wissen wir, dass der Seuchenschutz keinen Stimmabgleich bei deinem Anruf durchführt und herausfindet, dass Kelly noch lebt? Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist noch eine Großrazzia.«
»Nein, das Letzte, was wir brauchen können, ist dass sie herausfinden, wo wir sind. Dass der Doc noch lebt, ist höchstens das Zweitletzte, das sie herausfinden dürfen.« Ich schob meine halb aufgegessene Fleischpastete von mir und stand auf. »Ich schätze, wir sollten die Nachrichtenmeldungen im Auge behalten, um zu sehen, ob man uns des Identitätsdiebstahls bezichtigt.«
»Kann man seine eigene Identität stehlen?«, fragte Kelly.
»Ich schätze, wir werden es herausfinden.« Becks schickte sich an, meinen Platz einzunehmen. »Becks, sobald du mit Essen fertig bist, musst du deinen Blog auf den neusten Stand bringen. Ich gehe jetzt und lade das Videomaterial auf den Server, das nicht übertragen wurde. Alaric, ich will, dass du dich innerhalb einer Stunde an die Bildaufbereitung und an die Screenshots machst.«
»Alles klar«, sagte Alaric.
»Ich habe noch ein paar Gedichte und einen Haufen Gartenbilder hochzuladen«, sagte Maggie. »Offiziell trauere ich immer noch um Dave, weshalb ich hier ganz allein in meinem großen, alten Spukhaus sitze.«
»Gut«, sagte ich. »Doc, du verfasst in Zusammenarbeit mit Mahir einen neuen Post über diesen Psychokram, von dem du schreibst, was auch immer das war. Versuch, dir eine plausible Erklärung dafür einfallen zu lassen, dass wir kein Bild von dir haben. Ich will nicht, dass irgendjemand übereifrig wird und dich in den frei zugänglichen Aufnahmen sucht.«
»Alles klar.«
Ich holte mir noch eine Cola aus dem Kühlschrank und ging zurück ins Wohnzimmer, wo der Computer stand, der mir nicht widersprechen und mir keine Fragen stellen oder irgendetwas anderes tun würde, als mir dabei zu helfen, einen klaren Kopf zu kriegen. George blieb noch immer schweigsam, ihre ständige Gegenwart war auf ein dumpfes Bohren in meinem Hinterkopf zusammengeschrumpft. Genau genommen tat es nicht weh. Es fühlte sich nur verdammt komisch an.
Der Computer erwachte auf eine Berührung meines Fingers hin. Ich klickte mich durch die Anmeldemenüs bis zu meiner Mailbox, die auf beruhigende Weise randvoll mit Spam, weiblicher Fanpost, Nacktbildern und Themenvorschlägen war sowie mit den scheinbar unvermeidlichen Ideen, wo ich irgendwelche Toten aufstöbern sollte. Manchmal kommt es mir vor, als hätte die ganze Welt es darauf abgesehen, dass ich wieder ins Feld ziehe. Was niemand versteht – und was ich ihnen nicht sagen kann – ist, dass ich das Wichtigste verloren habe, was einen guten Irwin ausmacht: Ich habe keinen Spaß mehr. Wenn es mich mal ins Feld verschlägt, dann ist das nur noch etwas Lästiges, was ich überleben muss, und kein spannendes Abenteuer. Ohne diesen kleinen Funken Übermut bin ich im Grunde genommen ein wandelnder Toter. Glaubt bloß nicht, dass mir die Ironie dabei entginge. George ist diejenige, die mit dem Atmen aufgehört hat, aber ich bin derjenige, der das Leben aufgegeben hat.
In den Foren herrschte genau so ein Schlamassel, wie ich es nach Alarics Bericht erwartet hatte. Die Moderatoren versuchten, an zehn Orten gleichzeitig zu sein, und scheiterten dabei ziemlich spektakulär. Ich lehnte mich ein paar Minuten lang zurück, trank Cola und sah zu, wie beständig Nachrichten neben den verschiedenen Threads aufploppten. Das Team, das derzeit im Einsatz war, bestand ausschließlich aus Beta-Bloggern, die versuchten, sich bei der Sorte von Drecksarbeit zu beweisen, die George und ich früher gemacht hatten, als wir noch unter ferner liefen bei der Seite Bridge Supporters mitgemacht hatten. Damals hatten wir uns nichts mehr gewünscht, als selbstständig zu sein, um die Nachrichten so machen zu können, wie wir es für richtig hielten.
»Und sieh dir an, was es uns eingebracht hat«, brummte ich, beugte mich vor und griff nach der Maus. »Bleibt, wo ihr seid, Leute! Auf die Dauer werdet ihr damit sehr viel glücklicher.«
George sagte nichts, und sie schwieg auch weiterhin, als ich erneut auf meinen Posteingang klickte und die Nachrichten zu überfliegen begann, auf der Suche nach welchen, die tatsächlich meine Aufmerksamkeit verlangten. Ich musste mich langsam daranmachen, das Videomaterial zu schneiden. Ich musste etwas veröffentlichen, um die Leute wissen zu lassen, dass ich noch lebte, aber vor allem und zuallererst musste ich mich ein bisschen beruhigen. Mein Herzschlag beschleunigte sich, als meinem Körper klar wurde, dass wir nun nicht mehr auf der Flucht waren – wir hatten unser Ziel erreicht, und nun konnte ich endlich austicken, ohne mich in Gefahr zu bringen.
Meine Hand zitterte. Ich saß absolut reglos da und wartete darauf, dass das Zittern nachließ. Ich hatte keine Zeit für einen weiteren Nervenzusammenbruch. Einmal im Monat ist in etwa mein Limit, und da der nächste wahrscheinlich nicht eine vollständige visuelle Halluzination meiner toten Schwester als Dreingabe umfassen würde, sah ich keinen Sinn darin, die Sache zu wiederholen. Schließlich hörte das Zittern auf, und ich machte mich wieder an die Arbeit.
Etwa auf halbem Weg durch meinen Posteingang traf ich auf etwas Wichtiges. Es steckte mitten in den Thread-Updates, den privaten Mitteilungen von den Moderatoren und wild durcheinandergewürfelten Nachrichten von meinen Mailverteilern, und beinahe hätte ich es nicht angeklickt, weil ich den Absender nicht kannte. »Wer zum Teufel benutzt auch ›GenervterOktopus‹ als Name in der E-Mail-Adresse?«, fragte ich mich. Das war keine rein rhetorische Frage. Ich hoffte, dass diese schiere Blödheit George zum Sprechen bringen würde.
Immerhin genügte sie, um mich innehalten zu lassen und die Nachricht mit einem Fluch zu öffnen. Wer »GenervterOktopus« als Name verwendet? Wahrscheinlich eine Frau, die T-Shirts trägt, auf denen steht, dass man Oktopusse eben nicht nerven soll. Dr. Abbey.
Absender: GenervterOktopus@redacted.cn.com
Empfänger: Shaun.Mason@nachdemjuengstentag.com
Betreff: Du bist aber ganz schön beschäftigt
Ich muss zugeben, dass ich überrascht war, als ich gehört habe, dass die Seuchenschutzbehörde von Portland in weniger als vierundzwanzig Stunden nach deiner Abreise von Infizierten überrannt worden ist. Du verplemperst keine Zeit, das muss ich dir lassen. Andererseits hattest du auch nicht viel Zeit zum Verplempern. Du bist nicht der Einzige, der weiß, wie man eine Kamera bedient, und ich würde gutes Geld darauf wetten, dass jemand Aufnahmen von dir und deiner kleinen Bande von Gesetzlosen auf dem Weg nach hier draußen hat. Es ist nur eine Frage der Zeit, bevor jemand herausfindet, dass wir Kontakt hatten, und dann steckst du so tief in der Scheiße, dass die derzeitige Scheiße dagegen wie Schokoladenpudding aussieht. Komm nicht wieder! Wir haben angefangen, dass Labor abzubauen, sobald du weg warst, und wenn du diese Nachricht erhältst (vorausgesetzt, du bleibst lange genug am Leben, um sie zu erhalten, was wirklich fraglich ist), sind wir bereits auf dem Weg zu unserem neuen Standort. Die kleine »Abmachung«, die ich mit dem Seuchenschutz habe, hängt von einem gewissen Status Quo ab, und du bist derzeit in derart gefährlichen Gewässern unterwegs, dass ich mich nicht darauf verlassen kann, dass dieser Status Quo Bestand hat. Also beeil dich bitte damit, entweder Antworten zu finden oder dich umbringen zu lassen, ja?
Die Anhänge enthalten alles über meine Arbeit, um die Struktur von Kellis-Amberlee mit den ungewöhnlichen Autoimmunerscheinungen in Beziehung zu setzen, die zur Ausbildung stabiler Reservoirkrankheiten führen. Ich verfüge über keine Möglichkeit, sie zu heilen oder sie bei erwachsenen Testpersonen zuverlässig herbeizuführen, aber es gibt mehr als genug Beweismaterial dafür, dass Reservoirkrankheiten die Folge davon sind, dass das Immunsystem lernt, sich unter angeblich unmöglichen Bedingungen zu verteidigen. Der Großteil der Forschungsergebnisse wird dir wahrscheinlich nichts sagen, aber für die kleine Hofschranze, die uns miteinander bekannt gemacht hat, dürften sie absolut nachvollziehbar sein. Sorg dafür, dass sie sich die Daten ansieht! Sag ihr, dass du alles öffentlich machst, wenn du den Eindruck hast, dass sie etwas vor dir zurückhält! Mal sehen, was sie dir danach erzählt.
Du bist ein mutiger Dummkopf, Shaun Mason, und es tut mir leid, dass ich deine Schwester nie kennengelernt habe. Fast so leid wie dass du meinen Mann nie kennengelernt hast. Grüß den Rest der Bande und sag ihnen, dass sie mit einem offenen Auge schlafen sollen, denn du bist derzeit voll dabei, ein paar verdammt wichtige Leute zu verärgern. Schön für dich. Mach weiter so! Irgendjemand muss es tun.
Alles Gute, und halt dich verdammt noch mal fern von mir,
Dr. Shannon L. Abbey
Ein kurzer Anflug von Schuldgefühlen flackerte in mir auf, als ich darüber nachdachte, dass das Gespräch mit uns Dr. Abbey ihr Labor gekostet hatte. Aber sie hatte gewusst, was sie tat, als sie uns reingelassen hatte. Sie mochte uns nicht eingeladen haben, aber sie war sehr gesprächig und mitteilsam gewesen, als wir erst einmal da gewesen waren. Wenn sie uns keinen Vorwurf daraus machte, dass wir zu ihr gekommen waren, dann würde ich auch kein schlechtes Gewissen deshalb haben.
Die Anhänge ihrer Nachricht wurden beim Runterladen als sauber ausgewiesen, und als ich sie öffnete, sah ich endlose Tabellen und Grafiken mit medizinischen Daten, die in meinen Augen etwa so viel Sinn ergaben wie abstrakte Kunst. Ich erkannte ein paar Beschriftungen, aber das war auch alles. Nicht weiter schlimm, denn Dr. Abbey hatte recht: Es kam nicht darauf an, ob ich ihre Forschungsergebnisse verstand. Es kam darauf an, ob Kelly ihre Forschungsergebnisse verstand, und wenn sie sie erst einmal gesehen hatte, würde sie vielleicht wissen, wo wir weitersuchen mussten. In unserer Lage mussten wir über jede Kleinigkeit froh sein.
Ich leitete Dr. Abbeys Nachricht als dringend an Alaric und Mahir weiter, druckte die Anhänge aus und fuhr dann damit fort, mein Postfach aufzuräumen. Von dem Rest war nichts auch nur annähernd so interessant wie diese Nachricht, was keine große Überraschung war. Nach »hier sind meine Forschungsergebnisse über Kellis-Amberlee, viel Spaß damit« konnte nicht mehr viel kommen.
Laut der Log-in-Daten unserer Website war Mahir derzeit angemeldet, also war er wohl wach. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, holte mein Telefon heraus und klappte es auf.
Das Glück war mir hold: Mahir und nicht seine Frau ging ran. »Shaun. Gott sei Dank!«
»He, Mahir. Gibt es einen Grund, warum du jedes Mal, wenn ich mich bei dir melde, himmlische Mächte anrufst? Sagt man heutzutage in London so Hallo?«
»Verdammt noch mal, es ist vier Uhr morgens, Shaun, und ich bin wach und nehme deinen Anruf entgegen. Daran kannst du sehen, was für Sorgen ich mir gemacht habe.« Im Hintergrund schlug eine Tür zu, und entfernte Verkehrsgeräusche drangen durch den Hörer. »Versuch daran zu denken, dass ich acht Stunden hinter deiner Zeitzone bin, und gib mir das nächste Mal ein bisschen eher Bescheid, wie es dir so geht, ja?«
»He, tut mir leid, Mann. Ich dachte, Alaric würde dich auf dem Laufenden halten.« Ein Londoner Magazin hatte nach Rymans Wahl ein Profil von Mahir gebracht – immerhin kam er aus London und war in einen großen politischen Skandal in Amerika verwickelt gewesen. Das Bild zum Artikel zeigte ihn auf dem breiten Balkon vor seiner Wohnung, von wo aus er mit diesem ernsten, intellektuellen Künstlerblick, über den George und ich uns immer lustig gemacht hatten, auf die Themse sah. Das war das Bild, das ich jetzt vor Augen hatte, als ich die Verkehrsgeräusche hinter ihm hörte: Mahir auf dem Balkon, umgeben von der schweren Londoner Nacht, während unten Autos voller paranoider Pendler vorbeisausten.
»Das hat er. Magdalene auch. Aber wenn es um die Frage geht, in welcher Verfassung du bist, vertraue ich letztlich nur dir selbst, Shaun.«
»Ich würde mich geschmeichelt fühlen, wenn ich nicht wüsste, dass du mit meinem Ableben gerechnet hast.«
»Ist das nicht auch deine Absicht?«
Ich hielt einen Moment lang inne, und mit einem Mal wurde mir Georges schweigsame Anwesenheit in meinem Hinterkopf deutlich bewusst. Mahir anzulügen grenzte an ein Ding der Unmöglichkeit, selbst wenn George es zulassen würde, und letztlich wollte ich es gar nicht erst versuchen. »Früher oder später ja. Aber erst wenn wir Georges Mörder gefunden haben. Hast du die Dateien bekommen, die ich dir geschickt habe?«
»Ja«, gab Mahir zu. »Wie viel davon hast du verstanden?«
»Nicht genug. Ich schätze, dass du ein bisschen mehr kapiert hast.«
»Genug, um zu befürchten, dass ich nie wieder ein Auge zutun werde.«
»Das ist gut – es bedeutet, dass die Dateien das enthalten, was Dr. Abbey von ihnen behauptet. Du musst etwas für mich tun.«
»Und das wäre?«
»Du musst einen Virologen finden, der nichts zu verlieren hat, damit er ihre Arbeit überprüft.«
Jetzt war es an Mahir, für einen Moment in Schweigen zu verfallen. Schließlich fragte er vorsichtig: »Ist dir klar, worum du mich da bittest?«
»Ja, durchaus. Ich komme mir dabei wie ein Riesenarschloch vor, aber ich bitte dich trotzdem darum.«
Mahir verstummte erneut. Ehrlich gesagt konnte ich ihm keinen Vorwurf daraus machen.
Nordamerika hatte im Laufe des Erwachens eine Menge Land verloren. Große Teile von Kanada und die südlichen Gebiete von Mexiko sind niemals zurückerobert worden. In Alaska haben wir so lange wie möglich die Stellung gehalten, aber letztlich war das Virus zu übermächtig, und wir mussten den ganzen Bundesstaat aufgeben. Fast überall in den Vereinigten Staaten gibt es kleine Todeszonen, Orte, die einfach zu gefährlich sind, um sie sich zurückzuholen. Doch nichts von alledem ist vergleichbar mit dem, was Indien verloren hat. Denn Indien … hat Indien verloren.
Die Verhältnisse im alten Indien waren geradezu eine perfekte Versuchsanordnung für die pandemische Verbreitung von Kellis-Amberlee. In meiner Schulzeit war das Land ein Lehrbuchbeispiel in Epidemiologie: Man nehme eine hohe Bevölkerungsdichte, weite landwirtschaftlich genutzte Bereiche, eine verseuchte Wasserversorgung und große, frei herumlaufende Tiere, dann hat man alle Voraussetzungen für den Untergang. Laut der Berichte – zumindest derjenigen, die es aus Indien herausgeschafft haben; viele waren das nicht – ist das Virus zuerst in Mumbai aufgetreten, wo innerhalb von weniger als sechsunddreißig Stunden totales Chaos auf den Straßen herrschte. Während Indien all seine Ressourcen darauf verwendete, die Hauptstadt zu retten, setzte die Infektion sich auf dem Land fest und eroberte die Dörfer und Kleinstädte so schnell, dass niemand Zeit hatte, Alarm zu schlagen. Als den ersten Leuten klar wurde, dass die Quarantäne niemals halten würde, war es schon viel zu spät für alles außer einer vollständigen Evakuierung.
Das erste tragbare Bluttestgerät war von einem indischen Wissenschaftler namens Kirna Patel entwickelt worden. Dr. Patel hatte seine Familie bei den ersten Anzeichen von Problemen isoliert. Er zog rasch die richtigen Schlüsse und ging mit tödlicher Gewalt gegen die Infizierten vor, und so überlebte er gegen alle Wahrscheinlichkeit eine sechs Tage währende Belagerung und konnte das gesamte mehrstöckige Wohngebäude gegen die Infizierung verteidigen. Wenn Dr. Patel gerade nicht Wache stand, beschäftigte er sich damit, seine Diabetikerausrüstung zu modifizieren, damit sie etwas sehr viel Entscheidenderes ermittelte als den Blutzuckerspiegel. Als die UN-Soldaten sich schließlich in sein Viertel vorkämpften, hatte er bereits eine primitive, aber zuverlässige Möglichkeit entwickelt, innerhalb von Minuten zu überprüfen, ob jemand infiziert war. Alle im Gebäude erwiesen sich als sauber. Zwei der Soldaten, die zur Rettung gekommen waren, allerdings nicht. Das war ein vertretbarer Verlust für ein technisches Gerät, an dessen Konstruktion bis dahin niemand sonst auch nur einen Gedanken verschwendet hatte.
Dr. Patel fiel aufgrund seiner Diabetes-Erkrankung an Bord des Helikopters, der ihn und seine Familie aus der Stadt brachte, in ein Koma. Er kam nicht lebend aus Indien heraus. Seine Witwe ging zur UN und verlangte im Tausch für die Unterlagen ihres Mannes, dass den Überlebenden aus ihrem Land Asyl gewährt würde. Sie bekam, was sie wollte. Diejenigen, die es aus Indien rausgeschafft hatten, durften sich überall niederlassen, ungeachtet jeglicher Einwanderungsgesetze. Die indischen Konsulate blieben weiter bestehen und stellten den Kindern der Flüchtlinge Papiere aus. Soweit ich weiß, tun sie das bis heute. Wenn die Krankheit einmal besiegt wird, so heißt es, möchten sie nach Hause zurückkehren.
Ob das nun wahr ist oder nicht, jedenfalls gibt es in London eine der größten indischen Gemeinden der Welt, die nur von der in Silicon Valley übertroffen wird – obwohl Toronto ziemlich dichtauf an dritter Stelle kommt. Mahir wurde in London geboren. Er ist nie in Indien gewesen, und soweit ich weiß, wollte er auch nie dorthin. Das gilt nicht für alle Inder. Eine Menge Leute wollen ihre Heimat zurückerobern. Es mag ihnen dort, wo sie leben, gefallen, aber sie wollen aus ihrer eigenen, freien Entscheidung dort leben und nicht als Exilanten. Es gibt Ärzte und Wissenschaftler in den indischen Gemeinden, die nur die Regierung eines Landes anerkennen, das derzeit nicht existiert, und deren Forschung allein dem Zweck dient, »uns nach Hause zu bringen«. Aber Rassismus stirbt nicht aus, nur weil die Toten anfangen herumzulaufen, und es gibt Leute, die die Vertriebenengemeinden sorgfältig im Auge behalten, auf der Suche nach Anzeichen dafür, dass sie sich vielleicht »gegen uns wenden«. Wenn Mahir das tat, worum ich ihn bat – wenn er zu einem Virologen ging, der zu Hause arbeitete und nicht in einem Regierungslabor, und sich von ihm Dr. Abbeys Forschung erklären ließ –, dann ging er das Risiko ein, dass sie beide als Terroristen angesehen würden.
Schließlich sagte Mahir: »Ich werde dir jetzt eine Frage stellen, die absurd klingt, Shaun, und du wirst sie mir beantworten. Wenn du dich weigerst, lege ich auf, und wir tun beide so, als hätte es dieses Gespräch nie gegeben.«
So etwas funktioniert nie. Wenn man älter ist als fünf, dann kann man die Dinge nicht mehr ungeschehen machen, indem man sich weigert, über sie nachzudenken. »Klar«, sagte ich. »Wenn du meinst.«
»Alles klar.« Er lachte ein bisschen zittrig und fragte: »Was hält Georgia von diesem Plan?«
Mahir hat niemals infrage gestellt, dass George noch mit mir redet, aber er hat das Thema auch nie von sich aus angesprochen. Vielleicht färbte mein Wahnsinn langsam auf die Leute um mich herum ab. Ist Verrücktsein ansteckend? »Moment. Ich frage sie.« George, dachte ich, falls du nur deshalb nichts sagst, weil du sauer bist oder so, ich könnte jetzt wirklich deine Hilfe brauchen …
Entschuldigung, ich musste nachdenken. Sag ihm … Sie zögerte. Sag ihm, wenn diese Forschungsergebnisse das bedeuten, was ich denke, dann hat die Welt ein Recht, davon zu erfahren, und ohne seine Hilfe können wir es ihr vielleicht nicht mitteilen. Wir tun das für uns alle.
»In Ordnung.« Ich räusperte mich. »Sie sagt, wenn diese Forschungsergebnisse das bedeuten, was sie denkt, dann hat die Welt ein Recht, davon zu erfahren, und wenn du uns nicht hilfst, dann finden wir vielleicht nicht raus, was wir ihnen sagen müssen. Sie sagt, dass wir das für uns alle tun.« Ich hielt inne und fügte dann hinzu: »Und meiner Meinung nach sieht es ganz danach aus, dass sie dazu bereit waren, Oakland in die Luft zu jagen und eine komplette Anlage der Seuchenschutzbehörde zu infizieren, um die ganze Sache zu vertuschen. Ich möchte zumindest einen Teil der Forschung auf einem anderen Kontinent in Sicherheit bringen, damit jemand anders weitermachen kann, nachdem man Maggies Haus in die Luft gejagt hat.«
»Ich schwöre, ich ziehe nach San Francisco, bloß damit ihr aufhört, mich als auswärtigen Back-up-Speicher zu missbrauchen.« Mahir seufzte schwer. »Na schön!«
»Na schön? Heißt das, du tust es?«
»Ich bin ganz offensichtlich verrückt, und ich werde es für den Rest meines Lebens bereuen, und wahrscheinlich wird mich meine Frau verlassen, aber ja, ich tue es. Irgendjemand muss es tun. Ich muss allerdings meine örtlichen Beta-Blogger miteinbeziehen. Das ist ein ziemlich großes Projekt.«
»Tu, was nötig ist, aber beschränke dich auf Leute, die du kennst und denen du vertrauen kannst, okay? Wir können es nicht riskieren, dass die Sache vorzeitig bekannt wird.«
»Schweigen kostet Geld.«
»Das ist kein Problem. Ich bin mir sicher, dass die Merchandising-Abteilung genug abwirft, wenn wir ordentlich schütteln.« Wenn sonst nichts funktionierte, dann konnte ich jederzeit auf das Angebot zurückkommen, Georges Beiträge von der Wahlkampftour als Buch zu veröffentlichen. Bisher hatte ich abgelehnt – im Gegensatz dazu, ihren Blog fortzuführen, hätte sich das irgendwie nach Geldmacherei mit ihrem Tod angefühlt –, aber es würde eine gute Möglichkeit sein, halbwegs schnell an ein paar Kröten zu kommen. Und dann gab es auch noch Maggies Anlagefonds. Normalerweise wäre ich nicht auf die Idee gekommen, mich an sie zu wenden. Aber in diesem Fall waren die Umstände ziemlich außergewöhnlich.
»Oh, glaub mir, ich mache mir keine Sorgen über mein Budget, und falls ich noch verheiratet bin, wenn all das vorbei ist, dann bezahlst du mir die zweiten Flitterwochen, die nötig sind, damit das auch so bleibt.«
»Absolut fair. Danke! Wirklich, danke! Du bist ein guter Kerl.«
»Deine Schwester hatte eben einen hervorragenden Geschmack, was Männer anging. Und jetzt bring deinen verdammten Blog auf den neuesten Stand, Shaun! Die Hälfte deiner Leser hält dich für tot, und mir fehlt inzwischen die Leidenschaft, gegen Verschwörungstheorien anzukämpfen.« Die entfernten Verkehrsgeräusche rissen ab, als Mahir auflegte und mich allein mit dem Geräusch meines Atems zurückließ. Ich klappte das Telefon zu und steckte es zurück in die Tasche, während ich nachdenklich auf den Computermonitor starrte. Dr. Abbeys Forschungsergebnisse starrten zurück wie die tödlichste abstrakte Kunst der Welt. Als ich sie länger betrachtete, wirkten die Linien mit einem Mal seltsam beruhigend auf mich. Sie erinnerten mich an die blassen Spuren der Iris um Georges Pupillen herum, kleine braune Linien, die niemand zu sehen kriegte, der nicht nahe genug an sie herankam, um einen Blick hinter ihre Brillengläser zu werfen.
Ich griff nach der Tastatur, zog sie heran und fing an zu schreiben.
Ich halte mich für einen vernünftigen Menschen. Das geht wahrscheinlich jedem so. Selbst die ausgemachten Schurken und Bösewichte würden von sich selbst vermutlich behaupten, ganz vernünftige Kerle zu sein. Das ist ein Teil der menschlichen Psyche. Trotzdem. Ich habe keine großen Ansprüche. Meine Wohnung wird für mich bezahlt. Meine Arbeit macht mir Spaß, und ich mache sie halbwegs gut. Ich habe eine wunderschöne Frau, die meine seltsamen Arbeitszeiten und die noch seltsameren Leute, mit denen ich mich umgebe, toleriert. Ich liebe die Stadt, in der ich wohne, mit all ihren Sehenswürdigkeiten, mit ihrem Lärm und ihrem schillernden kulturellen Leben, das sich nicht nur wieder erholt hat, sondern angesichts zahlreicher Widrigkeiten sogar aufgeblüht ist. London ist der einzige Ort, an dem ich jemals wirklich leben wollte, und es ist mir eine unermessliche Ehre, es als meine Heimat bezeichnen zu dürfen.
Ich sehe mich gerne als einen vernünftigen Menschen. Aber ich habe in der jüngsten Vergangenheit zu viele Freunde zu Grabe getragen, und ich habe zu viele Lügen gehört, denen niemand widersprochen hat, und zu oft erlebt, dass Fragen unbeantwortet blieben. Manchmal muss man selbst als vernünftiger Mensch unvernünftige Dinge tun. Sonst ist man nicht mehr menschlich. Und denjenigen, die sich aus Angst vor der Gefahr lieber aus allem raushalten, kann ich nur eins sagen:
Ihr verdammten Feiglinge! Möget ihr die Welt bekommen, die ihr verdient!
Aus Fisch und Clips, dem Blog von Mahir Gowda, 20. April 2041.