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»Was sollen wir machen?«
Es war Becks, die fragte, aber meine drei Mitarbeiter schauten mich alle mit nahezu identischen Mienen ungeduldiger Erwartung an. Ich schaffte es gerade so, mich nicht umzudrehen und die Flucht durch das Fenster zu ergreifen. Sie erwarteten, dass ich ihnen sagte, wo es langging; sie erwarteten, dass ich die Entscheidungen traf; sie erwarteten, dass ich George ersetzte.
»Was sollen wir machen?«, wiederholte ich, in der Hoffnung, dass sie es als rhetorische Frage auffassen würden.
Zum Glück antwortete mir die, an die ich die Frage eigentlich gerichtet hatte. Wir finden heraus, was vorgeht, und dann posaunen wir es in die Welt hinaus, sagte George. Ich wiederholte die Worte leicht zeitversetzt, was einen seltsamen Verzögerungseffekt erzeugte, den niemand außerhalb meines Kopfes hören konnte. Wir machen unsere Arbeit. Wir gehen da raus und holen uns die Schlagzeilen.
Als ich mit meiner – unserer – kleinen Ansprache fertig war, starrten alle Anwesenden mich an. Alaric wandte als Erster den Blick ab. Mit leicht eingezogenem Kopf drehte er sich wieder zu seinem Bildschirm um. Der Kerl wollte seit jeher, dass ich meine Schwester ersetze, wenn es um schnelle Entscheidungen geht, aber wenn ich tatsächlich mal eine treffe, gefällt sie ihm nie.
»Das ist ja wirklich alles toll, aber wir müssen erst noch ein paar Dinge klären«, sagte Dave. Er hielt einen Finger in die Höhe. »Was machen wir mit unserem Doc hier?« Ein zweiter Finger folgte. »Wenn wir nicht wissen, ob wir bedenkenlos mit der Seuchenschutzbehörde reden können, wo zum Teufel sollen wir anfangen?« Ein dritter Finger. »Was sagen wir den anderen Leuten von der Website? Es geht nicht mehr nur noch um dich, ein kleines Team und einen Sendewagen. Wir sind ein Unternehmen. Wir können nicht einfach irgendeiner Story hinterherjagen, über die wir nichts sagen können, vielleicht sogar verschwinden und erwarten, dass die anderen ruhig weitermachen.«
»Ruf Rick an, mal sehen, was er dazu meint«, sagte Becks.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten nicht anrufen können, um ihm zu sagen: ›He, wir haben hier eine tote Wissenschaftlerin vom Seuchenschutz, die sagt, dass man ihre Forschung unterdrücken will‹«, antwortete ich. »Wir rufen Rick an, aber vorher müssen wir mehr in der Hand haben.«
Becks wirkte beschwichtigt. Rick Cousins war einmal einer unserer Newsies gewesen. Nun hilft er dem Präsidenten beim Regieren. Dadurch hatten wir zwar auch einen Draht zum Präsidenten, aber wenn wir verkünden wollten, dass uns der Himmel auf den Kopf fallen würde, dann brauchten wir Beweise.
»Und der Rest?«
»Um mit deiner dritten Frage anzufangen, wir erzählen es Mahir, weil er es ohnehin schon weiß, und wir erzählen es Maggie«, sagte ich. »Den Rest überlegen wir uns dann später.«
Dave runzelte die Stirn. »Warum ziehen wir Maggie mit rein?«
»Weil sie für die Fiktiven verantwortlich ist. Wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass das eine wirklich große Sache wird und wir die gesamte Mannschaft mit ins Boot holen müssen, will ich ihr genug Zeit geben, es ihren Leuten beizubringen«, erwiderte ich.
Und außerdem ist es einfach nur anständig, sie vorzuwarnen, fügte George hinzu.
»Tja, stimmt«, brummte ich. »Das hab ich gewusst.«
Meine Truppe hatte gelernt, auf Kommentare zu meinen Unterhaltungen mit George zu verzichten. Kelly nicht. Stirnrunzelnd fragte sie: »Hast du einen Kopfhörer im Ohr?«
»Wie bitte?« Scheiße! »Äh … nicht direkt.«
»Mit wem redest du dann?«
Es gab keinen Fluchtweg außer den nach vorne. Schulterzuckend sagte ich: »Mit Georgia.«
Kelly zögerte, und die Gefühle jagten nacheinander über ihr Gesicht wie eine Bande Zombies, die hinter einem Jagdtrupp der Regierung her ist. Schließlich gab sie sich mit der denkbar einfachsten Antwort zufrieden: »Ich verstehe.«
Der Drang, die Sache offen auszutragen, war fast unbezwingbar. Normalerweise ließ ich die Sache nicht auf sich beruhen, wenn Leute mich mit diesem Ausdruck im Gesicht ansahen, dieser schrecklichen Mischung aus Überraschung, Entsetzen und Mitleid. Vor sechs Monaten hätte ich mich wahrscheinlich nicht beherrschen können. Vor sechs Monaten habe ich noch sehr viel weniger klar gedacht. Vielleicht bin ich verrückt. Aber ich habe vor, die Sorte Verrückter zu sein, die sich so lange zusammenreißt, bis sie schließlich völlig durchdreht und alles zum Teufel schickt.
»Jeder hat seine eigene Art, mit so etwas umzugehen«, sagte ich kurz angebunden. »Dave, ist Maggie online? Wir können sie hier und jetzt zuschalten.«
»Negativ«, sagte er, ohne zu zögern. Ich bedachte ihn mit einem neugierigen Blick. Er zuckte mit den Schultern. »Sie hatte gestern Abend eine Filmparty. Sie dürfte erst in ein paar Stunden auf sein.«
»Ist sie wirklich rein nachtaktiv, oder versucht sie nur, sich ein entsprechendes Verhalten anzutrainieren?«, fragte Becks. Mit einem Blick in meine Richtung fügte sie hinzu: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich damit wohlfühle.«
»Damit, dass wir es Maggie sagen?«
»Damit, dass wir es nicht auch allen anderen sagen.«
»Wie viele Leute arbeiten für unsere Website?«
Becks zögerte. »Äh … ich bin mir nicht sicher.«
»Deshalb müssen wir es so machen, weil ich es nämlich ganz spontan auch nicht weiß.« Ich zeigte auf den Servercomputer. »Wie Dave meinte, wir sind nicht mehr nur ich und eine Truppe, die in einen Sendewagen passt; wir sind ein Unternehmen. Weißt du, warum es immer wieder Fälle von Industriespionage gibt, egal, wie schwer sie bestraft wird?«
»Weil die Leute gierig sind?«, riet Alaric.
»Weil sie aufgrund unzureichender Daten zu Fehleinschätzungen gelangen?«, sagte Kelly.
»Weil es ihnen irgendwann egal ist«, sagte Dave.
Ich zeigte auf ihn. »Gebt dem Mann eine Medaille! Irgendwann ist es einem egal. Wenn man erst einmal den Punkt erreicht, an dem man mit so vielen Leuten zusammenarbeitet, dass man mit ihnen nicht mehr gemütlich einen trinken gehen kann, dann scheißt man irgendwann auf alles. Und dann sickert die Politik unweigerlich rein. Vertraue ich allen, die täglich für uns arbeiten? Ja. Ich vertraue darauf, dass jeder unserer Irwins mir in einem Feuergefecht den Rücken deckt, und darauf, dass jeder unserer Newsies unter Berücksichtigung seiner registrierten Standpunkte die Wahrheit sagt. Aber wenn wir mit einem Leckerbissen von einer Story vor ihrer Nase herumwedeln, wie zum Beispiel: ›Die Seuchenschutzbehörde hat illegale Klone, und ihre tote Wissenschaftlerin ist überhaupt nicht tot, ach ja, vielleicht gibt es da eine Verschwörung, die die Forschung in eine bestimmte Richtung unterbindet‹, dann wird jemand die Sache durchsickern lassen. Um des Profits willen oder weil er sich damit eine bessere Position bei einer anderen Website verschaffen kann oder weil es einfach zu gut ist, um es für sich zu behalten. Jeder, den wir mit ins Boot holen, vergrößert die Gefahr, dass die Sache rauskommt, bevor wir so weit sind, und dann sind wir alle am Arsch.«
»Einige mehr, andere weniger«, brummte Kelly halblaut.
»Du hast uns die Sache mit Tate anvertraut«, sagte Becks.
»Bei Tate hatten wir keine andere Wahl, und damals ist uns nicht so klar gewesen, was auf dem Spiel stand, wie heute«, erwiderte ich. »Wir erzählen Mahir davon, und wir erzählen Maggie davon und niemandem sonst, solange wir nicht wissen, was vorgeht. Möchte mir wirklich jemand widersprechen?«
Niemand wollte es.
»Gut«, sagte ich nach einem weiteren Blick in die Runde. »Doc? Aus dem, was du gesagt hast, schließe ich, dass der Seuchenschutz für uns nicht infrage kommt. Ich nehme an, dass die WHO ebenfalls nicht sauber ist.«
Sie deutete ein Nicken an. »Weder WHO noch USAMRIID. Wir können uns unmöglich an sie wenden, ohne dass die Seuchenschutzbehörde herausfindet, was wir treiben. Aber …« Sie zögerte.
»Was aber?«, fragte Becks. »Tut mir leid, Doc, aber du kannst hier nicht einfach mit deinen Leichen und deinen Verschwörungen und deinem verrückten Zeug auftauchen und uns dann nicht mal einen Ansatzpunkt liefern.«
Kelly gelang es, sich die Augen zu reiben, ohne dabei ihren Mascara zu verschmieren. Sie sagte: »Wie gesagt stand eigentlich kein Geld zur Verfügung, um Reservoirkrankheiten zu untersuchen. Mein Team hatte den Segen des Direktors, aber wir arbeiteten trotzdem mit einem Minimalbudget. Dauernd wurden unsere Praktikanten versetzt, unsere Labore neu belegt … wie dem auch sei. Das spielt jetzt keine Rolle. Wichtig ist, dass beinahe alle Spezialisten in den Privatsektor gegangen sind, um ihre eigenen Forschungsprojekte zu verfolgen. Ich habe hier eine Liste.«
»Danke, Gott«, sagte Dave theatralisch und verdrehte die Augen zur Decke.
»Dave, spar dir das!« Ich konzentrierte mich auf Kelly. Sie hielt sich besser, als ich es erwartet hätte. Reine Wissenschaftler kommen normalerweise nicht so gut klar, wenn man sie aus ihren Laboren zerrt und in die wirkliche Welt hinausschickt. »Ist das alles, Doc?«
Kelly holte tief Luft. »Niemand außerhalb der Seuchenschutzbehörde weiß, wonach mein Team geforscht hat.«
Totenstille erfüllte den Raum, als Dave und Alaric zu tippen aufhörten und Becks und ich sie schweigend anstarrten. Einen Moment lang befürchtete ich, die Beherrschung zu verlieren – einen Moment lang waren ihre letzten Worte einfach ein Punkt zu viel auf der Liste von »Dingen, die du uns auch früher hättest erzählen können«. War das ihre Schuld? Nein. Aber mit einem Mal war es unser Problem.
Beruhig dich, hielt George mich zurück. Sie soll schließlich weiterreden.
»Sagst du«, blaffte ich. Kelly blinzelte und schaute zu Becks, die den Kopf schüttelte. Meine Truppe hatte genug Zeit gehabt zu lernen, wie man unterscheidet, ob ich mit ihnen oder mit George rede. Dankenswerterweise.
Es ist nicht ihre Schuld.
»Ich weiß.« Ich wirbelte herum und schlug gegen die Wand. Kelly zuckte zusammen und gab ein kleines, quiekendes Geräusch von sich. Das war eine gewisse Genugtuung, obwohl ich nun ein noch schlechteres Gewissen wegen der ganzen Situation hatte. War sie nicht schon verängstigt genug? »Tut mir leid, Doc. Es ist nur … tut mir leid. Ich war nur ein wenig überrumpelt, weiter nichts.«
»Schon in Ordnung«, sagte sie. Zwar war es das nicht – wenn man danach ging, wie sie mich anschaute –, aber das musste reichen.
Ich schüttelte den Kopf, um den Schmerz zu vertreiben, und zählte bis zehn, während ich darüber nachdachte, was Kellys Worte bedeuteten. Wir hatten schon die ganze Zeit gewusst, dass jemand innerhalb der Seuchenschutzbehörde mit Gouverneur Tates missglücktem Versuch zu tun gehabt hatte, sich die Präsidentschaft durch den Einsatz von Kellis-Amberlee als Waffe zu sichern. Kellys Informationen hatten das nur bestätigt. Was uns immer gefehlt hatte, waren die nötigen Beweise, um bei einer der mächtigsten Organisationen der Welt ernsthafte Nachforschungen anzustellen. »Besorg mir Fakten, dann überzeuge ich den Präsidenten davon«, hatte Rick gesagt. Aber die Fakten trudelten nur sehr langsam ein.
Was mich betraf … ich hätte mir, wenn nötig, die Seuchenschutzbehörde auch eigenhändig vorgenommen. Mahir und Alaric hatten mich dann zur Vernunft gebracht. Es würde George nicht zurückbringen, wenn ich mich umbringen ließ. Wenn wir wollten, dass die für ihren Tod Verantwortlichen ihre Strafe erhielten, dann mussten wir uns Zeit lassen, auf der Hut sein und handfeste Beweise liefern. An alldem änderten Kellys Informationen nichts, und zugleich änderten sie alles, weil offensichtlich die Verschwörung nach wie vor quicklebendig war. Wenn jemand innerhalb der Seuchenschutzbehörde beschlossen hatte, dass Schluss mit Kellys Studie sein musste, dann hatte derjenige auch mit den erhöhten Sterberaten bei Personen mit Reservoirkrankheiten zu tun.
Jemand hatte es gewusst. Jemand hatte gewusst, dass George in Gefahr gewesen war – noch vor der Wahlkampftour, denn sie hatte schon viele Jahre zuvor an retinalem KA gelitten – und hatte nichts unternommen. Jemand hatte es gewusst …
Shaun!
Ihr schneidender Tonfall drang durch einen Schleier aus Wut zu mir durch. Einmal mehr holte ich tief Luft und zählte bis zehn, ehe ich mich straffte und die verletzte Hand hinter den Rücken nahm. »Doc, gib Dave die Liste!« Ich hielt inne. »Bitte!«
»Klar doch.« Kelly holte ein Flashlaufwerk aus ihrer Aktentasche und beugte sich nach hinten über das Sofa, um es Dave zu reichen. Er nahm es ohne auch nur ein gemurmeltes Dankeschön entgegen, steckte es sofort in einen USB-Anschluss und fing an zu tippen.
»Danke! Und jetzt zieh dich aus.«
»Wie bitte?«, rief Kelly mit aufgerissenen Augen. »Shaun, geht’s dir noch ganz gut?«
»Mir geht es bestens. Du musst dich ausziehen.«
»Ich zieh doch nicht meine Sachen aus!«
»Allerdings machst du das, Prinzessin«, sagte Becks, erhob sich und trat neben mich. »Wir müssen nachsehen, ob du verwanzt bist. Mach dir keine Sorgen. An dir ist nichts, was wir nicht schon gesehen hätten.«
Offenbar genügte es ihr, von einer Frau darum gebeten zu werden, obwohl man schon sehr wohlwollend sein musste, um Becks Formulierung als Bitte auszulegen. Kelly seufzte schwer und begann, ihre Kleider abzustreifen, wobei sie jedes einzelne Teil vor uns in die Höhe hielt, ehe sie es zu Boden fallen ließ. Schließlich, als sie splitternackt mitten im Wohnzimmer stand, breitete sie die Arme aus und fragte: »Zufrieden?«
»Hin und weg.« Ich warf Becks einen Blick zu. »Nimm ihre Kleider mit!« Becks nickte, schnappte sich einen Wäschesack und begann, Kellys Sachen hineinzustopfen.
»Moment mal, wie bitte?« Kelly ließ die Arme sinken. »Wo will sie mit meinen Kleidern hin?«
»Keine Bange, du gehst mit. Becks, hol das Wanzen-Kit aus der Abstellkammer und bring sie ins Schlafzimmer! Ich will, dass alles an ihr nach Peilsendern, Wanzen oder sonstigem Zeug abgesucht wird. Bring sie erst wieder her, wenn du dir sicher bist, dass sie sauber ist!« Ich bedachte Kelly mit einem beruhigenden Blick. »Nichts Persönliches, Doc. Wir müssen nur sichergehen.«
Kelly überraschte mich, indem sie keine Widerworte gab. Sie seufzte bloß und sagte mit einem resignierten Blick: »Ich weiß, wie Dekontaminierungprozeduren ablaufen«, nahm dann ihre Aktentasche und drehte sich zu Becks um. »Wo geht’s lang?«
»Hier entlang.« Becks warf sich den Wäschesack über die Schulter und führte Kelly aus dem Zimmer. Hinter ihnen fiel die Tür schnappend ins Schloss. Das würde ein Weilchen dauern.
Ich drehte mich zu Alaric und Dave um, die mich wachsam beäugten. Ich lächelte leise. »Ein spaßiger Tag, was? Alaric, schalt auf Lautsprecher. Ich will, dass ihr beiden mithört.«
»Was mithört?«, fragte er, während er erneut zu tippen begann.
»Ich werde den besorgten Bürger spielen und bei der Seuchenschutzbehörde in Memphis anrufen. Weil ich meinem guten Freund Joseph Wynne mein herzliches Beileid aussprechen möchte«, sagte ich ausdruckslos und holte mein Telefon hervor. »Dave, nimm das Gespräch auf dem Server auf!«
»Ist eingeschaltet«, sagte er.
»Gut.« Nachdem nun alle Vorkehrungen getroffen waren, klappte ich mein Telefon auf. Die meisten Leute in meinem Alter haben ihre Freundinnen oder Saufkumpane auf die Kurzwahltasten gelegt. Bei mir ist es die Seuchenschutzbehörde Memphis. Manchmal kommt es mir vor, als hätte man mir nie auch nur die geringste Chance gegeben, ein normales Leben zu führen.
»Büro von Dr. Joseph Wynne, mit wem darf ich Sie verbinden?« Der Typ an der Rezeption klang hell, aufgeweckt, eine Stimme wie tausend andere. Vielleicht hatte ich schon mit ihm gesprochen, vielleicht auch nicht. Die Bürokräfte bei der Seuchenschutzbehörde schienen dazu ausgebildet zu werden, so austauschbar wie möglich zu sein.
»Ist Dr. Wynne zu sprechen?«
»Dr. Wynne hat darum gebeten, heute nicht gestört zu werden.«
»Und warum das?«
»Es gab kürzlich einen Personalwechsel, und er versucht gerade, die Aufgaben in seiner Abteilung neu zu verteilen«, sagte der Rezeptionist keck.
Das war die gefühlloseste Art, über einen Todesfall zu sprechen, die ich je gehört hatte. Ich verdrehte die Augen. »Sagen Sie ihm, dass Shaun Mason dran ist, um ihm sein Beileid zu seinem Verlust auszusprechen.«
»Einen Moment bitte.« Es klickte in der Leitung, und mit einem Mal drang die Fahrstuhlmusikversion von irgendeinem blutarmen Pop-Hit aus der alten Zeit aus dem Hörer. Dadurch, dass der Text und ein Großteil der Bässe fehlten, wurde der Song sogar besser.
Dave und Alaric stellten sich neben mich, ein psychologischer Beistand und wohl auch, um mithören zu können. Der Lautsprecher sandte die angestrengte, blecherne Musik durch den Raum, und anschließend, als die Musik abbrach, die erschöpfte Stimme von Dr. Joseph Wynne mit ihrem Südstaatenakzent. »Shaun. Ich habe mich schon gefragt, wann Sie anrufen würden.«
»Ich bin noch dabei, die Neuigkeiten zu verarbeiten. Wie kommen Sie zurecht?«
»Ach, so gut wie man es wohl erwarten darf, schätze ich.« Wer Kelly für tot hielt, hätte seinen angespannten Tonfall wohl als Zeichen von Kummer gedeutet. Doch da Kelly sich derzeit in der Nachbarwohnung aufhielt und Becks Bereiche ihres Körpers zeigte, die normalerweise nur ihre Gynäkologin zu Gesicht bekam, erkannte ich seinen Unmut als das, was er war: als Angst.
Ich redete mit einem Mann, der außer sich vor Furcht war.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Das wissen wir leider noch nicht so recht. Hier sind ein paar Leute von der Außenstelle in Atlanta, die die Aufzeichnungen unserer Überwachungskameras durchgehen und die gesamte Anlage überprüfen. Eigentlich hätte niemand dazu in der Lage sein sollen, so weit ins Gebäude vorzudringen, aber irgendwie ist es ihnen trotzdem gelungen.«
»Es tut mir so leid«, sagte ich, während Dave und ich einander zunickten. Es war taktisch klug gewesen, einen reichlich verwickelten Einbruch zu inszenieren und die Sicherheitsleute damit zu beschäftigen, den Hergang auseinanderzunehmen, damit sie sich »Kelly« nicht zu genau ansahen, solange sie noch in der Leichenhalle lag. Ihre Leiche würde praktisch umgehend eingeäschert werden – vielleicht hatte man sie sogar schon verbrannt, je nachdem, was ihre Familie sich wünschte –, womit jede Chance, sie als Klon zu identifizieren, dahin sein würde. Natürlich würde Dr. Wynne geliefert sein, falls herauskam, dass es ein inszenierter Einbruch gewesen war, aber Kelly wäre in Sicherheit.
»Ich stehe immer noch ein bisschen unter Schock«, sagte er. »Ich sage es nicht gerne, Shaun, weil ich weiß, dass das für Sie nach wie vor eine offene Wunde ist, aber es ist wie damals bei Georgia.«
Scheiße!, zischte George.
»George?«, erwiderte ich automatisch.
Zu meinem Glück gehörte Dr. Wynne zu den wenigen Menschen in meinem Bekanntenkreis, bei denen die Nachricht, dass ich nicht mehr alle beisammenhatte, noch nicht angekommen war. Das hatte er mit meinen Eltern gemeinsam. »Es kam so verdammt plötzlich, als wir sie verloren haben.« Ohne zu stocken, setzte er das Gespräch fort.
Er teilt dir gerade mit, dass es eine Notevakuierung war, du Volltrottel, sagte George. Sie weiß es vielleicht nicht, aber er hat sie da rausgebracht, um ihr das Leben zu retten. Himmel, ich wünschte, du könntest ihn irgendwie fragen, ob er sicher ist, dass niemand sie verwanzt hat.
»Äh, ja«, sagte ich. »Das war es wirklich. Hätte man irgendwie vorausahnen können, dass so etwas passieren würde?«
»Ich glaube nicht«, sagte Dr. Wynne schnell. Nicht schnell genug. Ich hörte sein Zögern, diesen Sekundenbruchteil der Unsicherheit, der mir all das sagte, wovon ich gehofft hatte, dass ich es nicht würde erfahren müssen. Nahm er an, dass er Kelly sauber da rausgebracht hatte? Ja, denn wenn nicht, dann hätte er es nicht riskiert, sie zu uns zu schicken. Aber war er sich seines Erfolgs dabei absolut und hundertprozentig sicher?
Nein, das war er nicht.
»Lassen Sie es uns wissen, falls wir hier irgendetwas tun können. Kann aber sein, dass Sie ein bisschen auf eine Antwort von uns warten müssen«, sagte ich. »Mein Team und ich sind eine Weile aus dem Haus. Ich bin mir nicht sicher, wann wir zurückkommen.«
»Tatsächlich?« Mit deutlich hörbarem Widerstreben stellte er die Frage, die natürlicherweise darauf folgen musste: »Wo geht es denn hin?«
Sein Unbehagen war der letzte nötige Hinweis darauf, dass Kelly vielleicht nicht so sauber aus der Sache rausgekommen war, wie sie glaubte. Dr. Wynne stellte die Frage deshalb nur ungern, weil ich es mit unserem Ausflug vielleicht ernst meinte. Er wollte nicht, dass ich ihm die Wahrheit über unser Ziel sagte. »Santa Cruz«, log ich. »Alaric macht bald die Prüfung für seine Feldlizenz, und wir wollen ein paar Aufnahmen von ihm während seiner Probezeit machen, für einen begleitenden Bericht. Wir versuchen, unsere Merchandising-Verkäufe bei der weiblichen Zuschauerschaft auszubauen, und unsere Marktforschung ist einstimmig der Meinung, dass Alaric mit nacktem Oberkörper dafür ideal wäre. Eine Portion Adrenalin ist dann nur das Sahnehäubchen.« Alaric warf mir einen verwirrten Blick zu. Mit einem Wink bedeutete ich ihm, still zu sein.
»Ihr seid mir ein paar Jungs«, sagte Dr. Wynne mit einem gequälten Lachen. »Seien Sie vorsichtig da draußen, ja?«
»So vorsichtig, wie es eben möglich ist, wenn man nach den lebenden Toten Ausschau hält«, antwortete ich. »Passen Sie gut auf sich auf, Dr. Wynne!«
»Sie auch, Shaun«, sagte er und legte auf.
Einen Moment lang stand ich einfach nur mit meinem Telefon in der Hand und geschlossenen Augen da, während ich George zuhörte, die in meinem Hinterkopf herumfluchte. »Geht das wieder los«, sagte ich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
»Was?«, fragte Dave.
»Nichts.« Ich öffnete die Augen, steckte mein Telefon ein und kehrte steifbeinig in die Küche zurück, um mir noch eine Cola zu holen. In einem langen, kohlensäuresprudelnden Zug leerte ich die halbe Dose. Von der eiskalten Süße taten mir die Backenzähne weh, wodurch die Welt um mich herum wieder scharfe Konturen annahm. »Ihr müsst eure Arbeitsplätze zusammenpacken, und dann die der anderen«, erklärte ich, als ich ins Wohnzimmer zurückkam. »Dave, wie weit bist du mit der Liste?«
»Sie ist verschlüsselt. Ich brauche …«
»Vergiss was du brauchst! Speichere das Ganze auf dem Hauptserver und den Spiegelservern; und pack das Laufwerk ein!«
»Boss?«, fragte Alaric unsicher.
»Packt, als würdet ihr damit rechnen, diesen Ort hier nie wiederzusehen. Alaric, sobald Becks bestätigt, dass der Doc nichts Handelsübliches am Leib trägt, musst du übernehmen. Such noch einmal alles ab, was sie mitgebracht hat! Wenn du irgendetwas findest, was auch nur entfernt an eine Wanze erinnert, mach es tot!« Ich hob die Hand, ehe er widersprechen konnte. »Untersuch es nicht, nimm es nicht auseinander, versuch nicht, es für unsere Zwecke einzusetzen, mach es einfach tot! Wir haben nicht die Zeit für das, was ihr vielleicht auf den Fersen ist.«
»Aber …«
Ich kehrte ihm den Rücken zu und öffnete den Wandschrank. Das Regal zur Rechten war voller Munitionsschachteln. Ich fing an, immer drei auf einmal herauszuholen. »Er hat gesagt, dass es wie bei George gewesen wäre, Alaric. Nicht wie bei Buffy, deren Tod wirklich unerwartet kam; nicht wie bei Rebecca Ryman oder bei irgendeinem anderen gemeinsamen Bekannten von uns.«
»Na und?«
Ganz locker, sagte George. Er war nicht dabei. Er begreift es nicht wirklich.
»Ich weiß«, brummte ich düster. Laut sagte ich: »Also, Leute beim Seuchenschutz waren in das verwickelt, was ihr zugestoßen ist, und wir haben sie nie geschnappt. George hatte eine Reservoirkrankheit. Ich dachte, du wärst der Newsie hier. Muss ich es dir erst aufmalen?«
Mein Lieblingsjagdgewehr lehnte im Schrank an der Wand. Ich griff es mir und entspannte mich ein wenig, als ich sein beruhigendes Gewicht in der Hand spürte. Ich legte es mir über die Schulter und holte weitere Munition aus dem Schrank.
»Scheiße«, murmelte Dave.
»Genau das dachte ich mir auch«, sagte ich. »Geh Becks sagen, dass sie sich beeilen soll! Wir verschwinden hier. Wanzen, die sie ohne einen Subdermalscanner nicht findet, findet sie auch zehn Minuten später nicht.«
»Bin schon unterwegs«, sagte Dave und verließ das Zimmer.
Wir machten uns an die Arbeit. Alaric zerlegte all die Ausrüstung, die wir nicht für die letzen Uploads brauchten, während ich den Inhalt des Wandschranks einpackte. Dave kehrte zurück und half Alaric beim Auseinandernehmen. Ich füllte gerade einen Rucksack mit Proteinriegeln und Ersatzakkus für Laptops, als sich die Schlafzimmertür öffnete und Becks hereinkam, gefolgt von einer zerknittert aussehenden Kelly.
»Sie ist sauber«, verkündete Becks und warf Alaric Kellys Aktentasche zu. Er fing sie, wandte sich den Resten seines Arbeitsplatzes zu und griff nach einem Scanner.
»Gut. In zwanzig Minuten düsen wir los. Schnapp dir alles, was du brauchst, und pack, als gäbe es kein Zurück für uns!«
»Wo fahren wir hin?«, fragte Becks.
»Zu Maggie«, antwortete ich. Mit erleichterter Miene nickte sie. Selbst Dave und Alaric entspannten sich etwas. Bei Maggie waren wir zumindest in Sicherheit.
Maggie lebt irgendwo im Nirgendwo und hat die besten Sicherheitssysteme, die man für Geld kaufen kann. Buchstäblich. Einige der Systeme in ihrem Haus entsprechen militärischen Standards oder sind sogar besser, und ihre Eltern sorgen dafür, dass sie immer auf dem neuesten Stand sind. Zum Teufel auch, manchmal glaube ich, dass die neuesten Verbesserungen eigens für sie entwickelt werden und alle anderen nur an ihnen teilhaben dürfen. Sie hat bei uns angefangen, weil sie eine Freundin von Buffy war – und Buffy hatte interessante Freunde.
Die Wohnung brummte vor Geschäftigkeit, als Dave und Alaric ihre Bemühungen verdoppelten. Becks begann, verstreute Munitionsschachteln einzusammeln. Nur Kelly stand mit völlig verwirrter Miene da. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie.
»Wir verschwinden«, informierte ich sie. »Was die nächste Frage aufwirft: Hast du eine Geschichte parat, mit der wir dich hier rausbringen können, oder müssen wir dich heimlich aus dem Haus schmuggeln und dich anschließend in irgendein Amish-Dorf bringen, damit du in einer kamerafreien Umgebung leben kannst?«
»Die brauchen immer Ärzte, die nicht an einer ernsthaften Abhängigkeit von Elektrizität oder fließend Wasser leiden«, sagte Becks heiter. Kelly warf ihr einen erschrockenen Blick zu und schaute dann zu mir. Sie schien mich für den Zurechnungsfähigen hier zu halten. Unter anderen Umständen hätte ich das vielleicht lustig gefunden.
»Ich habe eine Geschichte parat«, sagte sie. »Sogar eine ganze Tarnidentität. Dr. Wynne hat mir für Geld eine konstruieren lassen. Die Daten sind auf der Karte, die ich euch gegeben habe.«
»Wen hat er dafür bezahlt?«, fragte Dave, der plötzlich misstrauisch klang. Alaric versteifte sich bloß, ohne etwas zu sagen. Die beiden drehten sich zu Kelly um. Sie sahen aus, als rechneten sie damit, dass gleich etwas in die Luft flog.
Ihre Reaktion war nicht so verwunderlich und übertrieben, wie es den Anschein haben mochte. Seit Buffys Tod kümmerten sich Dave und Alaric um den Großteil der Computertechnik, zumindest so lange, bis wir ein paar Leute einstellen konnten, die diese Aufgabe auf Dauer übernehmen würden. Ihre Fähigkeiten reichten nicht mal ansatzweise an die von Buffy heran – sie war eine Art verrückte Computervirtuosin gewesen, und die gibt es nicht so oft –, aber sie hatten viel gelernt und waren grundsätzlich nicht ganz dumm. Wenn jemand wusste, wie leicht es ist, eine billige Tarnidentität zu knacken, dann sie.
»Ich weiß nicht, wer das programmiert hat«, sagte Kelly zunehmend verärgert. »Dr. Wynne hat mal ›die Hirnschale‹ erwähnt, mehr nicht. Alles wurde elektronisch verschlüsselt übertragen. Ich habe nie ein Gesicht dazu gesehen.«
Dave und Alaric wechselten einen Blick und sagten fast gleichzeitig: »Der Affe.«
»Das ist gruselig, hört auf damit, ihr beiden.« Ich hob die Hand. »Möchte uns jemand vielleicht den Grund dafür mitteilen, nicht in Panik zu geraten?«
»Der Affe ist der vielleicht beste Identitätsfälscher im Land.« Dave schüttelte den Kopf. »Wenn man eine Identität will, mit der man überall durchkommt, dann sucht man sich jemanden, der jemanden kennt, der vielleicht dazu in der Lage ist, einem eine der Freundinnen des Affen zu vermitteln, vorausgesetzt, man ist dazu bereit, als Zeichen seines Vertrauens eine Vorauszahlung zu leisten.«
»Wie weit geht das mit dem ›Überall‹, wo man durchkommt?«, fragte ich.
»Der Volksmund sagt, dass einer der neuen Nachrichtensprecher bei NBC dreimal wegen Schwerstverbrechen verurteilt wurde und seine Tarnidentität vom Affen hat«, sagte Alaric.
»Zunächst einmal möchte ich, dass du bitte nie wieder das Wort ›Volksmund‹ benutzt«, erwiderte ich. »Zweitens, gut zu wissen. Alles klar, Kelly, du hast eine Tarnidentität. Wer genau bist du also?«
»Mary Preston«, antwortete sie sogleich. »Dr. Wynnes Nichte.«
»Schön. Alaric, kannst du …«
»Bin schon dabei«, sagte Alaric und wandte sich einem der noch nicht abgebauten Computer zu.
»Gut. Bedeutet das, dass es Spuren und Dokumente von dir gibt, ›Mary‹?« Kelly nickte langsam. »Wie weit geht das?«
»Mary gibt es wirklich, und sie ist wirklich Dr. Wynnes Nichte«, antwortete Kelly. »Sie wurde in Oregon geboren, ist gleich nach der Highschool zu Greenpeace, hat vor fünf Jahren ihren Naturschutz-Schein gemacht und ist über die Grenze nach Kanada gegangen. Das Letzte, was Dr. Wynne von ihr gehört hat, ist, dass sie auf einer Hundeschutzfarm arbeitet und nicht vorhat, wieder in die Vereinigten Staaten zurückzukehren.«
»Also ist ihr Ruf hinreichend schlecht, damit sie sich mit Journalisten rumtreiben könnte, und sie wird wahrscheinlich nicht auftauchen und ihre Identität zurückverlangen, solange du sie noch brauchst.« Ich schaute zu Alaric. »Und?«
»Oh Mann! Ich meine … Mann!« Er starrte voll unverhohlener Bewunderung auf seinen Monitor. Wir Übrigen betrachteten das als Aufforderung, alles stehen und liegen zu lassen, um uns um ihn zu drängen und ihm über die Schulter zu sehen, sodass Kelly alleine zurückblieb. Alaric schüttelte den Kopf. »Ich hatte noch nie Gelegenheit, mir etwas anzuschauen, bei dem es sich erwiesenermaßen um eine Arbeit des Affen handelt. Das ist … nicht bloß erstaunlich. Es ist elegant.«
Ich runzelte die Stirn. »Was genau ist das?«
Der gesamte Monitor war mit Bildern von Kelly angefüllt. Kelly in der Grundschule. Kelly beim Abschlussball. Kelly, die eine Seite eines Transparents hielt, auf dem in großen gelben handgemalten Buchstaben STOPPT DEN HAIFANG stand. Ganz gewöhnliche Schnappschüsse, wie man sie auf allen möglichen Websites findet, sei es privat oder zur Klärung des eigenen politischen Standpunkts.
Schau doch mal genauer hin, sagte George genervt.
Ich schaute genauer hin und sah das, wonach ich Ausschau gehalten hatte. »Heilige … sind das alles Fälschungen?«
»Ja und nein«, sagte Alaric und rief einen weiteren Datensatz auf, der unter anderem etwas enthielt, das wie ein Standbild von einer Geldautomaten-Überwachungskamera aussah, sowie ein Bild, auf dem sie eindeutig betrunken war und den Mittelfinger ins Objektiv hielt. »Eigentlich sind es keine Bilder vom Doc«, erklärte er mit einer Kopfbewegung in Kellys Richtung, »aber es sind echte Bilder. Der Affe hat anscheinend Kellys isometrische Daten über jedes einzelne Bild von Mary im gesamten Internet gelegt. Nahtlos verschmolzen. Dazu noch die ganzen Textdokumente, die man findet, und …«
»Niemand kann den Unterschied feststellen«, beendete Becks den Satz für ihn. »Gewieft.«
»Ich hoffe, ihr kapiert, was dieser ganze Scheiß bedeutet, ich nämlich nicht«, sagte ich mit schneidender Stimme.
»Zauberbilder aus dem Computer machen, dass alte Mary winke-winke, machen stattdessen schöne neue Mary hin. Jetzt wird schöne neue Mary nicht mehr von Seuchenschutz erschossen, weil sie nicht ihr eigener toter Klon ist«, trällerte Dave im Tonfall eines Bloglernprogramms für Kinder.
»Toll. Also hast du eine Identität, die unangreifbar ist, solange diese Schnitte in Kanada kein Heimweh kriegt, und dazu einen Haufen Zahlen, die ich nicht verstehe und einen Haufen toter Wissenschaftler. Ach ja, und Leute wie George sterben so schnell weg, dass es sich nur durch eine gewaltige Verschwörung erklären lässt. In Ordnung, Leute, fällt irgendjemandem etwas ein, um diesen Tag noch mehr zu versauen?«
Das war der Moment, in dem plötzlich alles auf einmal geschah.
Die Haussirenen schlugen fast im selben Augenblick plärrend Alarm, in dem mein Telefon sich mit Mahirs schrillem Notfallklingelton zu Wort meldete. Ich drückte drauf, ohne es aus der Tasche zu nehmen, sodass automatisch mein Kopfhörer ranging. »Wir haben hier ein Problem, Mahir«, blaffte ich. Aus dem Augenwinkel sah ich Dave und Alaric, die sich hektisch bemühten, unsere restliche Ausrüstung zu packen. »Hier sind gerade die Sirenen losgegangen. Wir wissen noch nicht, warum.«
»Ich weiß es verdammt noch mal sehr wohl!«, rief er. »Das Gebäude ist umstellt, euch bleibt kein Fluchtweg, und die Behörden rufen soeben einen allgemeinen Ausnahmezustand in den umliegenden Stadtgebieten aus! Ich habe keine Ahnung, wie ihr das anstellen sollt, aber ihr müsst da zum Teufel noch mal raus, und zwar jetzt gleich!«
»Scheiße noch mal, Mahir, was redest du da?« Becks wollte etwas sagen, doch ich brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Es war ohnehin schon schwer genug, Mahir bei dem Sirenengeheul zu verstehen.
»Lieber Himmel, Mann, heißt das, dass ihr nichts davon wisst?« Es gelang Mahir, zugleich entsetzt und wenig überrascht zu klingen. Ein netter Trick, aber mir blieb keine Zeit, ihn zu würdigen. Angesichts seiner nächsten Worte fragte ich mich, wofür mir in diesem Leben überhaupt noch Zeit bleiben würde:
»In Oakland gab es einen Ausbruch, Shaun. Und ihr seid mittendrin.«
Die Entstehung des modernen Gesundheitssystems war ein organischer Prozess, der fast ausschließlich durch die neuen Anforderungen, die das Erwachen mit sich brachte, und durch die allgemeine Panik in der Bevölkerung bestimmt wurde. Angesichts der Sterberaten in den Krankenhäusern während der schlimmsten Ausbrüche war es nicht verwunderlich, dass die Leute Angst davor hatten, sich dorthin zu begeben. Allerdings hatten die Menschen ärztlichen Beistand so nötig wie nie zuvor. Die Lösung für dieses Dilemma bestand in einer ganzen Reihe von Veränderungen – darunter die Rückbesinnung auf Hausärzte und Hausbesuche, mehr medizinische Geräte für den Privatgebrauch … und die plötzliche Quasi-Autonomie der Seuchenschutzbehörde und der Weltgesundheitsorganisation. Wenn diese Organisationen nicht dazu in der Lage gewesen wären, jederzeit die nötigen Maßnahmen einzuleiten, hätte womöglich keiner lange genug überlebt, um die Dinge anders zu organisieren.
Die amerikanische Seuchenschutzbehörde kann praktisch uneingeschränkt von jeglichen medizinisch-ethischen oder lokalen Vorschriften operieren, und die WHO hat in fast allen Ländern der Erde absolute Handlungsfreiheit. Vielleicht ist es an der Zeit, innezuhalten und etwas genauer über diese Tatsache nachzudenken.
Aus Auf die Kwong-Tour, dem Blog von Alaric Kwong, 15. April 2041.