Prolog
Eine Witwe trauert
Einen Monat, nachdem sie ihren Ehemann verloren hatte, streifte Victoria ziellos durch die Straßen Londons.
Im dunkelsten Teil der Nacht, während die Stadt tief und fest schlief und sich beinahe alle Angehörigen der Oberschicht für die Jagdsaison aufs Land zurückgezogen hatten, strich Victoria Gardella Grantworth de Lacy, die Marquise von Rockley, allein durch das als Seven Dials bekannte Armenviertel.
Trägheit durchdrang ihre Knochen. Ihre innere Taubheit und Abgestumpftheit, zu der sich tiefer, quälender Seelenschmerz und Zorn gesellten, ließen sie die Glieder wie die eines Soldaten bewegen, immer einen Fuß vor den anderen. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet; allerdings nicht nur, weil sie in Trauer war, sondern auch, um mit den Schatten zu verschmelzen, hinein- und hinauszuhuschen, gesehen zu werden, wenn sie es wünschte, und eins mit der Dunkelheit zu werden, wenn nicht. Sie trug Männerkleidung, weil sie ihr mehr Bewegungsfreiheit gab und weil sie nach ihrem Ehemann duftete. Aber sie trug sie auch als stillen Protest gegen eine Gesellschaft, die von ihr verlangte, dass sie in ihrem dunkel verhangenen Haus saß und zwölf Monate lang gar nichts tat. Ihr Mund verzog sich zu einem humorlosen Lächeln, als sie daran dachte, was die feinen Damen wohl sagen würden, wenn sie sie jetzt sähen.
Auch der Biberhut, der so hoch war, dass sie ihren dicken Zopf darunter verstecken konnte, hatte Phillip gehört. Sie hatte seine mit Rosmarin parfümierte Pomade gerochen, als sie ihn aufgesetzt hatte. Nun verlor sich dieser tröstliche, vertraute, schmerzvolle Duft in dem Gestank von Pferdeäpfeln, menschlichen Ausscheidungen und anderem Unrat, der die Straßen eines der schlimmsten Viertel Londons verpestete.
Es waren enge, bedrückende Straßen, die Gebäude kauerten mit kaum mannsbreitem Abstand nebeneinander. Fensterscheiben gab es so gut wie keine, und an jedem zweiten Haus waren die Läden oder die Türen oder beides aus den Angeln gerissen. Kutschen und selbst Droschken waren eine Seltenheit, besonders in den frühen Morgenstunden, wenn noch immer Dunkelheit herrschte und Strolche und Ganoven auf der Suche nach wehrlosen Opfern die Gegend unsicher machten.
Victoria wusste, dass sie heute auf keine Vampire treffen würde, die sie jagen konnte. Sie waren alle vor einem Monat aus der Stadt geflohen, zusammen mit ihrer Königin. Lilith.
Nein, Victoria rechnete nicht damit, in dieser Nacht einen Untoten zu pfählen, aber sie sehnte sich trotzdem danach.
Es war an der Zeit, wieder zu spüren, wie das Blut in ihrem Körper pulsierte, ihr Blut, das sich anfühlte, als würde es nur noch im Schneckentempo fließen und einem schaumbedeckten Tümpel gleich vor sich hin brodeln. Sie musste sich bewegen, etwas tun, wieder fühlen. Sie brauchte Rache.
Sie brauchte Absolution.
Victoria bog um die Ecke eines alten Backsteinhauses, dann versteckte sie sich sofort in seinem Schatten, als sie auf der anderen Seite dessen, was in diesem Teil Londons als Straße galt, zwei Gestalten entdeckte.
Die eine war ein großer, korpulenter Mann. Die andere eine schlanke junge Frau; eigentlich mehr ein Mädchen, denn es reichte dem Mann kaum bis zu den Achseln. Der Vollmond tüpfelte Licht auf die Straße, sodass die beiden recht gut zu sehen waren.Victoria erkannte, dass das Mädchen verängstigt war, es flehte und wehrte sich... während der Mann, der sich seine Größe und Kraft zunutze machte, sie grob gegen die Mauer drängte. Er hielt sie am Hals fest, betatschte ihre Brüste und riss ihr das Mieder vom Körper. Mit ihren kleinen Händen zog und kratzte sie an seinen haarigen Armen, wobei sie gleichzeitig versuchte, sich zu bedecken, seine eine Hand von ihrem Hals zu lösen und die andere abzuwehren.
Sich nach allen Seiten umblickend, huschte Victoria aus den Schatten. Niemand sonst war in der Nähe; ob das Mädchen nun von dem Mann hergebracht worden war oder ob es sich einfach verlaufen hatte, wusste sie nicht, aber es schien außer ihr niemanden zu geben, der ihm helfen konnte. Victoria riss sich Phillips Hut vom Kopf, sodass ihr der lange Zopf über den Rücken fiel. Er sollte wissen, dass es eine Frau war, die ihn in die Knie zwang.
Sie kümmerte sich weder um den Pflock in ihrer Manteltasche noch um das Messer, das sie an ihrem Oberschenkel befestigt hatte, sondern schlich sich lautlos wie eine Katze an den Mann heran und versetzte ihm einen kräftigen Tritt ins Kreuz.
Mit einem Wutschrei wirbelte er, die fleischige Hand noch immer um den Hals des Mädchens gelegt, zu ihr herum... und sah, wer ihn da belästigt hatte. Langsam ließ er das Mädchen los, das zu Boden sackte, und streckte den Arm nach Victoria aus.
Sie war bereit. Ihr Blut pulsierte; sie brachte die Hände in Position und ging, so wie Kritanu es ihr beigebracht hatte, in die Knie, um einen festen Stand zu haben. Der Zorn, der seit Wochen in ihr schwärte, brodelte an die Oberfläche. Ihr Atem ging schneller.
Mit einem bösartigen Grinsen musterte sie der Mann, dann stürzte er sich auf sie.Victoria wartete bis zum allerletzten Moment, dann machte sie einen geschmeidigen Ausfallschritt, packte seinen ausgestreckten Arm und nutzte die Kraft seines Gewichts, um ihn von sich zu schleudern. Die winzige vis bulla, die sie trug, verlieh ihr übermenschliche Stärke und machte sie so flink wie die Untoten, gegen die zu kämpfen sie gewöhnt war; die vis bulla versetzte sie in die Lage, diesen Mann, der dreimal so schwer war wie sie, mit dem Gesicht voran gegen die Ziegelmauer zu schleudern. Er prallte mit einem befriedigenden Hmpf dagegen, aber Victoria war noch nicht fertig mit ihm; sie war nicht bereit, ihre explodierenden Gefühle jetzt schon zu kontrollieren. Ohne sich um den fassungslosen Blick des jungen Mädchens zu kümmern, das sich ein Stück von dem Geschehen entfernt hatte, erteilte sie dem Möchtegern-Vergewaltiger eine Lektion. Ihre Nerven surrten vor Energie, ihr Atem ging in kurzen, abgehackten Stößen, und der Rand ihres Blickfelds färbte sich rot, als sie ihm die Faust gegen die Wange drosch. Er taumelte, fing sich jedoch ab, dann schwang er mit einem gutturalen Wutschrei seinen Arm, der dicker war als ihr Oberschenkel, auf sie zu.Victoria blockte ihn mit ihrer starken, schlanken Hand ab, dann versetzte sie ihm mit der anderen Faust einen weiteren Hieb ins Gesicht. In seiner Miene spiegelten sich Überraschung und Erschütterung, aber er duckte sich unter ihrem Schlag weg, machte eine blitzschnelle Bewegung, und als er sich wieder aufrichtete, funkelte ein Messer in seiner Hand.
Plötzlich drehte sich die Welt ganz langsam, und rasend schnell zugleich.
Victoria erinnerte sich später daran, dass sie lächelte, während sich ganz langsam ein Gefühl der Befriedigung in ihr breit machte, als sie nach ihrem eigenen Messer griff. Sie erinnerte sich an die Leichtigkeit, mit der sie es aus dem Strumpfband an der Außenseite ihrer Hosen zog, daran, wie es sich in ihrer Handfläche anfühlte... gar nicht so anders als das Gewicht und der Umfang eines Pflocks. Eines Eschenholzpflocks.
Es war, als würde sie nach Hause zurückkehren. Es war, als wäre sie aus einem tiefen, dunklen Kerker geflohen. Sie stürzte in die Freiheit.
Sie stieß zu und stach und schlitzte. Bilder blitzten in ihrem Kopf auf, als sie, wie Kritanu es sie gelehrt hatte, von einer Position in die nächste glitt, all jene Bewegungsabläufe durchspielte, die ihr in den letzten Monaten zur zweiten Natur geworden waren. Ihre Erinnerungen - an Phillip, an Lilith, an die unzähligen rotäugigen Vampire, gegen die sie gekämpft hatte - verschmolzen und vermischten sich allesamt mit dem Gesicht dieses Angreifers, das noch immer wie erstarrt war vor Entsetzen, dann vor Schmerz... und schließlich Leere.
Leere.
Aber erst als sie den Arm hob, um erneut zuzustechen, und dabei den mattroten Streifen Blut auf den Sehnen ihrer Hand bemerkte, kam Victoria wieder zu sich.
Fassungslos starrte sie auf ihre Hand. Da sollte kein Blut sein. Vampire bluteten nicht, wenn man sie pfählte.
Sie stellte fest, dass sie keine Luft mehr bekam, dass sie aus ihren Lungen entwichen war und ihr Körper bei jedem ihrer Versuche, einzuatmen, erbebte. Ihre Schultern zuckten auf und ab; ihr Brustkorb brannte, Arme und Beine zitterten.
Victoria sah nach unten. Sie hielt ein Messer, keinen Pflock. Ein Messer, von dem Blut tropfte. Ihre Hand war nicht nur befleckt, sondern in einem grauenhaften Muster aus Blutspritzern besprenkelt. Sie kniete... kniete über einem massigen Körper, der sich nicht mehr rührte.
Seine Augen standen offen, waren blicklos und glasig; Blut verfärbte sein Kinn und seine Wangen, ja, sogar seine Lippen, in demselben Muster wie ihre Hände. Seine Brust hob und senkte sich kaum noch.
Victoria starrte auf ihn herunter, dann kam sie behutsam auf die Füße.
Sie betrachtete ihr Messer. Sie hätte es fallen lassen, aber ihre Hände wollten den Griff einfach nicht loslassen. Also schob sie es in ihre Tasche, um es dort weiter festzuhalten, und blickte sich um.
Das Mädchen. Sie erinnerte sich vage an ein Mädchen.
Aber da war keines. Es war niemand da, der sehen konnte, was ihre Wut und Mordlust angerichtet hatten, nachdem sie aus ihr hervorgebrochen waren.
Victoria musterte wieder ihre Hände. Sie hatte schon früher getötet... aber nie zuvor hatte sie Blut an den Händen gehabt.

Eustacia Gardella hörte das Geräusch noch vor dem Mann, der neben ihr schlief. Unwillkürlich fasste sie nach dem Pflock, den sie neben dem Bett aufbewahrte, dann rollte sie sich mit einer Behändigkeit, die ihre einundachtzig Jahre Lügen strafte, von der Matratze. Kritanu, dessen schwarzes Haar im Mondlicht glänzte, regte sich leise, als er durch ihre Bewegung geweckt wurde.
Sein Blick fiel auf den Pflock in ihrer Hand, dann sah er sie mit schwarzen Augen wortlos an, bevor auch er seinen drahtigen Körper unter den Laken hervorgleiten ließ. Er griff nach dem Messer, und Eustacia spürte ihn hinter sich, als sie sich umdrehte und aus dem Zimmer schlüpfte.
Das Geräusch war schwach gewesen, aber ihre Sensitivität als Venator befähigte sie, drohende Gefahren wesentlich besser zu erkennen als ein Durchschnittsmensch. Sie hatte den Laut nur einmal gehört, dann war es still geworden.
Ungeachtet der Tatsache, dass Eustacia nicht die Präsenz eines Untoten spürte, umfasste sie den Pflock wie die Hand eines Geliebten, dann schlich sie flink und lautlos die Treppe hinunter. Es gab nur einen einzigen weiteren Diener, Charley, aber der war mit Sicherheit nicht aufgewacht.
Sie hatte gerade die Hälfte der Stufen zurückgelegt, als sie in dem großen Eingangsbereich ihres Hauses eine Gestalt stehen sah. Sie erkannte sie, und ihr krampfte sich die Brust zusammen.
»Victoria!« Eustacia hob den Saum ihres Nachtgewands an und umklammerte das weiche Leinen mit derselben Hand wie den Pflock. »Was ist geschehen?«
Ihre Großnichte stand im Foyer und starrte sie im Licht der goldenen Lampe neben der Treppe an, welches immer die ganze Nacht hindurch brannte. Die dunklen Spuren auf Victorias Gesicht und Händen, die geweiteten, entsetzten Augen erzählten Eustacia bereits einen Teil der Geschichte.
»Ich wollte so, wie ich aussehe, nicht nach Hause gehen.« Victorias Stimme klang erstaunlich ruhig. »Was soll die Dienerschaft von mir denken?«
»Cara, was ist passiert?« Eustacia schlang ihre verkrümmten Finger um Victorias kalte, blutbefleckte Hand und zog sie sanft in Richtung Salon.
Kritanu, Gott segne ihn, hatte bereits eine Decke aus einer Truhe geholt und legte sie Victoria nun um die Schultern. »Ich werde Tee machen«, sagte er in einem Tonfall, der so tröstlich war wie der Darjeeling, den er ihnen ohne Zweifel servieren würde.
»Ich hätte ihn beinahe umgebracht.« Victorias Augen hatten die Farbe von Olivenkernen, als sie ihre Großtante ansah. »Da war so viel Blut. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«
Die Worte waren schlicht, gelassen, logisch. Sie stand mit geradem Rücken da und schien sich zu entspannen. Aber der Ausdruck in diesen Augen ließ Eustacia die Brauen zusammenziehen. Sie führte ihre Nichte zum Sofa und setzte sich neben sie. »Sag mir, was geschehen ist,Victoria.«
»Heute Abend war ich auf Patrouille. Ich rechnete nicht wirklich damit, auf irgendwelche Vampire zu stoßen - ich weiß, dass Lilith sie alle mit sich genommen hat - aber trotzdem bin ich raus auf die Straße. Ich musste es tun.«
»Du musstest irgendetwas tun.« Eustacia wiederholte die Worte absichtlich, in der Hoffnung, dass sie helfen würden, das Entsetzen aus den Augen ihrer Großnichte zu vertreiben. »Natürlich musstest du das. Du bist ein Venator.«
Ein kurzes Lächeln flackerte über Victorias Gesicht. »Max sagte das auch. In jener Nacht, als Phillip... starb. Er sagte, ich sei wahrhaftig ein Venator.«
»Tatsächlich?« Eustacias Protegé Maximilian Pesaro war im Anschluss an die Tragödie nach Italien zurückgekehrt, und sie hatte seither nichts mehr von ihm gehört. Die Spannung zwischen ihm, einem erfahrenen Venator, und Victoria war mit Händen greifbar gewesen. Deshalb überraschte es sie, dass Max ihrer Nichte ein derartiges Kompliment gemacht hatte; immerhin war er zuvor der festen Überzeugung gewesen, dass sie sich mehr für Bälle und Verehrer interessierte als für Vampire und Pflöcke. »Also bist du auf Streifzug gegangen. Erzähl mir, was dann geschah. Wessen Blut ist das?«
»Ich hätte um ein Haar einen Mann getötet. Er wollte eine junge Frau vergewaltigen, eigentlich noch ein Mädchen, und ich hielt ihn davon ab. Er war sehr groß, viel größer als ich. Wir kämpften miteinander, und als er plötzlich ein Messer zückte, habe ich meines auch gezogen... und dann weiß ich nur noch, dass er sich irgendwann nicht mehr gewehrt hat. Überall war Blut. Es ist noch nie zuvor Blut geflossen.« In ihren Augen war wieder diese Leere, und Eustacia zog sich das Herz zusammen, als sie das wunderschöne Gesicht ihrer Nichte betrachtete. Ihre tapfere, kluge, starke, verlorene Nichte.
Wie viele Male hatte sie es schon bereut, sie zu einem Venator gemacht und in diese Welt eingeführt zu haben? In diese Welt der Gewalt und des Bösen?
Aber es war geschehen, und sie brauchten sie. Sie, Max und die anderen Venatoren brauchten Victoria, falls sie Lilith, die Königin der Vampire, je vernichten wollten. Die Zerstörung dieses Übels, das ihre Erde bedrohte, war jedes Opfer wert, ob nun klein oder groß. Eustacia lebte schon seit mehr als sechzig Jahren in diesem Bewusstsein.
Victoria würde ebenfalls in ihm leben. Eustacia wünschte nur, es wäre ihr nicht ein derart großes Opfer abverlangt worden, und das so grausam früh.
»Nein, es fließt niemals Blut dabei«, erwiderte sie, sich auf Victorias letzte Bemerkung beziehend.
»Es hat mich krank gemacht. Er... ich habe ihn dort zurückgelassen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«
»Victoria, hör mir zu. Der Mann hat ein Mädchen überfallen, und du hast diesem Mädchen geholfen, es gerettet. Und wenn du nicht ihn verletzt hättest, hätte er dich verletzt. Du musstest dich verteidigen.«
»Das habe ich. Aber ich hätte ihn dabei nicht in Streifen schneiden müssen!« Nun, endlich, begannen die Tränen zu strömen.
Eustacia hielt sie in den Armen und spürte das Beben und Zittern ihrer zarten Schultern, als wäre es ihr eigenes Schluchzen. Das alles hatte lange auf sich warten lassen, genau genommen seit Phillips Tod, und sie war erleichtert, dass Victoria endlich der Trauer und dem Zorn, die sich in ihr aufgestaut hatten, freien Lauf ließ. Dass sie ihren Ehemann einen Monat nach der Hochzeit auf solch dramatische Weise verlieren musste, hatte Victoria dazu gebracht, sich in sich selbst zurückzuziehen und sich von der Welt abzukapseln. Zumindest hatte sie an diesem Abend einen Weg gefunden, sich einem Teil ihrer Gefühle zu stellen.
Wenngleich sie einen schrecklichen Weg gewählt hatte.
Als Victorias verzweifeltes Schluchzen nach einer sehr langen Weile schließlich verebbte, löste sie sich aus den Armen ihrer Tante. Ihre Augen waren verschwollen, die Wangen fleckig.Winzige, braune Ovale besprenkelten ihr Gesicht, und ein einzelner Streifen zog sich an ihrem Kinn entlang. Einige ihrer dunklen Locken hatten sich aus dem Zopf gelöst und kringelten sich nun ungebändigt an ihren Schläfen.
Victoria machte sich an dem Hemd zu schaffen, das sie in ihre Männerhose gesteckt hatte, und zerrte es heraus. Eustacia sah sich rasch um, aber Kritanu war noch nicht zurückgekehrt.
»Ich kann sie nicht tragen. Ich darf ihr nicht die Kontrolle überlassen.«
Eustacia wusste, wovon sie sprach. Als Victoria das Hemd über ihren Bauch nach oben schob, kam in ihrer Nabelgrube die vis bulla, das geweihte Amulett der Venatoren zum Vorschein, welches den Vampirjägern besondere Stärke verlieh. Gefertigt aus dem Silber des Heiligen Landes, war das kleine Kreuz anschlie ßend in Weihwasser aus Rom getaucht worden, bevor man den zierlichen Ring, an dem es hing, durch Victorias oberen Nabelrand gestochen hatte - genauso wie bei Eustacia und ihrer eigenen vis bulla, als sie sich einst verpflichtet hatte, das Vermächtnis der Gardellas anzunehmen. Sie trug ihre selbstverständlich noch immer. Ein Venator legte seine vis bulla niemals ab.
Sie und Victoria waren Vampirjäger, sie waren dazu geboren und ausgebildet worden. Nur wenige wurden zu dieser Aufgabe berufen und noch weniger akzeptiert. Es gab etwa einhundert Venatoren auf der Welt, die den Test tatsächlich bestanden und eine vis bulla erhalten hatten.
Und nun wollte Victoria ihre zurückgeben. Eustacia öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ihre Nichte kam ihr zuvor.
»Mach dir keine Sorgen, Tante. Ich werde sie wieder zurücknehmen - sobald ich sicher sein kann, dass ich sie nicht missbrauchen werde. Heute Abend habe ich mir selbst Angst eingejagt, aber zumindest weiß ich nun, dass ich noch nicht bereit bin, wieder zu kämpfen. Es ist eine Sache, einen Untoten zu liquidieren, eine unsterbliche Kreatur des Bösen... aber ich möchte nie wieder menschliches Blut an meinen Händen haben.«
Eustacia ergriff die blutbefleckten Finger ihrer Nichte. Es schmerzte sie, und auf einer tieferen Ebene flößte es ihr Furcht ein... aber sie verstand. »In London droht im Moment keine Gefahr. Lilith hat ihr Gefolge mitgenommen, und obwohl sie eines Tages zurückkehren wird, stellt sie derzeit keine direkte Bedrohung dar.«
Victorias Blick wurde klar; ihr Mund nahm einen grimmigen Zug an. »Nur keine Angst,Tante. Ich werde mich für das, was Lilith Phillip angetan hat, an ihr rächen. Das schwöre ich. Was zuvor reine Pflichterfüllung war, ist nun zu meiner ganz persönlichen Verantwortung geworden.«