Kapitel 18
Eine höchst willkommene Unterbrechung
Die Vampire unterschieden sich mit ihren dunklen Jacken, braunen Hosen, akkurat geknoteten Krawatten und Handschuhen durch nichts von all den anderen für die Oper herausgeputzten Gentlemen. »Bitte entschuldigen Sie unsere Verspätung«, sagte einer der beiden mit einer Verbeugung vor Graf Regalado, der sich erhoben hatte, um die Männer zu begrüßen.
Nein, nicht Männer.Vampire.
Victoria verharrte, den Blick von der Bühne abgewandt, auf ihrem Platz, wartete und beobachtete. Ihre Nerven kribbelten, und ihr Genick prickelte vor Kälte. Es juckte sie in den Fingern, den Pflock unter ihrem Kleid hervorzuziehen.
In der Luft lag eine erwartungsvolle Atmosphäre, und Victoria wusste nicht, wo sie hinsehen sollte. Max weigerte sich hartnäckig, sich zu ihr umzudrehen, als er aufstand und die Neuankömmlinge begrüßte. Regalado und Galliani wirkten entzückt, die beiden willkommen heißen zu dürfen.
Was hatte das alles zu bedeuten? Wusste Regalado, dass es Vampire waren? Als mächtiges Mitglied der Tutela war er sich dessen sicher bewusst.
»Mrs.Withers, darf ich Ihnen einen guten Bekannten vorstellen... Signore Partredi.«
Der Vampir verneigte sich, ergriff mit einer überraschend warmen Hand Victorias und führte sie an seine Lippen. »Ich bin sehr erfreut, Sie kennen zu lernen.« So vertraut, wie sie mit Vampiren war, las sie jedoch eine völlig andere Botschaft in seinen Augen. Eine ganz und gar nicht erfreuliche.
Zu ihrer Bestürzung nahm er den Platz neben ihr, auf dem zuvor Galliani gesessen hatte, in Beschlag. Regalado setzte sich wieder auf seinen Stuhl, und da war sie, eingeklemmt zwischen einem Vampir und einem Anführer der Tutela. Als der zweite Vampir sich hinter ihr auf Max’ Platz setzte, fühlte sie sich noch mehr umzingelt. Auf allen Seiten von Gefahr umgeben. Und sie konnte nichts dagegen unternehmen.
Victoria wusste nicht, wo Max abgeblieben war, und Sebastian war natürlich noch immer mit Placidia verschwunden. Sie wagte nicht, sich umzusehen. Sie musste so tun, als wäre ihr nichts Ungewöhnliches aufgefallen.
Während die Oper sich Akt für Akt weiter hinzog, dachte sie über die schreckliche Nacht der Tutela-Versammlung nach; sie erinnerte sich an das Grauen, das sie empfunden hatte, als sie bezwungen und von allen Seiten angegriffen worden war, an den warmen Strom ihres Blutes unter den Zähnen des Vampirs. Ihr Kopf fühlte sich leicht und leer an... Ihr Puls wurde langsamer; sie musste blinzeln, um klar zu sehen. In der Loge war es heiß und stickig.
Victoria ballte die Fäuste, grub die Fingernägel in ihre Handflächen und benutzte den Schmerz, um die sanfte Benommenheit, die sie empfand, zu vertreiben. Neben einem Vampir zu sitzen, zu spüren, wie sein Jackenärmel ihren nackten Arm streifte, seine Präsenz in ihr Bewusstsein dringen zu lassen... Es war eine andere Art, in Bann gezogen zu werden. Und für sie ungewohnt, denn meistens bestanden ihre Begegnungen mit Vampiren aus Kampfhandlungen.
Dies war eine andere Form von Kampf. Eine der Willenskraft.
Bis jetzt war alles ohne Probleme verlaufen. Die Vampire hatten keine Drohgebärden gemacht und nicht versucht, jemanden zu verletzen. Sie konnte einfach sitzen bleiben, so tun, als ob sie der Oper lauschte, und ihre Energie darauf verwenden, die subtilen Versuche, ihr Bewusstsein zu vereinnahmen, abzuwehren, und vielleicht würde weiter nichts geschehen.
Aber während eines seltenen, kurzen Moments der Stille auf der Bühne lösten sich Victorias Hoffnungen in Wohlgefallen auf. Ein leises, keuchendes Seufzen drang ihr ans Ohr, und sie spürte, wie sich die Härchen an ihren Armen aufrichteten, begleitet von einem scharfen Ziehen in ihrem Bauch.
Sie drehte sich um. Hinter ihr hatte der Vampir mit Max’ Stuhl auch den Platz an Saras Seite eingenommen. Der Anblick, der sich ihr bot, erfasste all ihre Sinne im selben Moment: der Geruch frischen Blutes, ein leises, fast unhörbares Sauggeräusch, der dumpfe Schimmer von Saras weißem Hals und halb entblößtem Dekolleté, über die ein dünnes Rinnsal ihres Blutes lief, und der wiederbelebte Empfindungsrausch, der von Victorias eigenem Körper Besitz ergriff.
Sie sah wieder nach vorn, weg von der Szene, die eher erotisch als schrecklich wirkte, und traf auf Max’. Er stand neben der Tür im hinteren Teil der Loge in einer Pose, die auf sie zutiefst ungerührt wirkte. Sie suchte in seinen Augen nach irgendeinem Signal oder Zeichen... Aber er zog lediglich auf seine sardonische Art die Brauen hoch, dann sah er gleichgültig weg.
Offensichtlich kümmerte es ihn nicht, dass seine Verlobte gerade von einem Untoten attackiert wurde.
Auf der anderen Seite des Vampirs namens Partredi verfolgte Portiera die Oper, scheinbar völlig ahnungslos, was gerade hinter ihr passierte.
Victoria richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne. Ihr Herz klopfte wie wild. Sie zwang sich, genau zu durchdenken, was gerade geschah, obwohl ihre Instinkte geradezu danach schrien, den Pflock zu ergreifen und ihn der Kreatur, die sich an Sara verging, in die Brust zu rammen.
Doch Sara leistete keinen Widerstand. Sie wurde nicht gezwungen. Sie gab keinen Laut von sich außer einem leisen Stöhnen, das eher danach klang, als würde es einem Liebhaber und nicht einem Angreifer gelten. Sie brauchte Victorias Hilfe nicht. Sie wurde nicht verletzt oder in Stücke gerissen. Ein Vampir konnte trinken, ohne der Person bleibenden Schaden zuzufügen, wie Victoria sehr gut wusste.
Also könnte sie es auf sich beruhen lassen. Sie konnte guten Gewissens darauf verzichten, einzugreifen.
Sie leckte sich die Lippen und versuchte, der Darbietung zu folgen, versuchte, nicht auf die Geräusche hinter ihr zu achten. Versuchte, nicht den Sog zu spüren, diesen unnachgiebigen Sog des Vampirs neben ihr.
Sie spürte es, als der Untote hinter ihr fertig war, und wappnete sich für das, was als Nächstes folgen mochte.
Partredi umfasste ihr Handgelenk und hielt es auf der Armlehne des Stuhls fest.Victoria erstarrte. Sie war stark; sie könnte den Arm wegziehen... Aber sollte sie das tun?
Dann schloss Regalado rechts von ihr die Finger um ihr anderes Handgelenk. »Entspannen Sie sich, meine Liebe«, murmelte er ihr ins Ohr. »Sie werden es bestimmt ebenso genießen wie meine Tochter.«
Victorias Herz hämmerte. Ihr stockte der Atem, als vor ihr etwas geschah, um die Bühne unter ihnen zu verhüllen... jemand zog die Logenvorhänge zu.
Max.
Sie versteifte sich auf ihrem Stuhl, unfähig, sich zu bewegen, während ihr Puls sich beschleunigte und ihre Atmung abgehackt wurde. Der Vampir neben ihr bewegte sich, zeigte ihr seine roten Augen, und sie merkte, wie sie schwächer wurde, als sie sich in ihnen verlor.
Atme tief ein. Mach die Augen zu.
Sie versuchte es, aber es war unmöglich, die Verbindung zu unterbrechen. Sie versuchte, ihre Handgelenke aus Partredis und Regalados Griff zu befreien, doch sie drückten sie weiter nach unten. Ihre Kraft ließ nach, aber sie war noch immer ein Venator. Sie wusste, wie man kämpfte.
Doch sie musste das hier geschehen lassen. Sie musste Eustacias Befehl gehorchen. Falls sie sich wehrte, würden ihre übermächtige Stärke und ihr kämpferisches Können sie unweigerlich verraten. Sie war schon früher gebissen worden; die Wunde würde rasch verheilen.
Max war hier. Bestimmt... bestimmt würde er nicht zulassen, dass sie sie wirklich verletzten.
Etwas umfasste ihren Kopf von hinten, und sie spürte, wie Finger sich in ihr Haar gruben, ihren Hals nach hinten und zur Seite bogen. Der blutgetränkte Atem des anderen Vampirs strich über ihr Gesicht.
Ihr Hals war nackt, und sie spürte, wie Partredi sich auf dem Stuhl neben ihrem bewegte, spürte, wie sein Knie gegen ihr Bein stieß. Er lehnte sich gegen ihren gefangenen Arm und senkte die glänzenden Fangzähne zu ihrem verletzlichen Hals hinunter.
Ihr Puls raste immer schneller; sie wollte sich ihnen entwinden, blieb jedoch reglos - ob nun willentlich oder nicht, wusste sie nicht.
Sie schloss die Augen. Die glatten Zähne flüsterten an ihrer Haut. Victoria konnte den Drang, sich zu wehren, nicht länger bezwingen; sie bäumte sich auf, versuchte freizukommen und stellte fest, dass sie es nicht konnte. Die Klänge des Orchesters, das Geraschel in der Loge, alles wurde schwächer, bis sie schließlich nur noch den Atem des Vampirs, der ihrem eigenen entsprach, hörte. Seinen Puls, der im Gleichtakt mit ihrem schlug.
Ihr Kopf war gefangen, ihre Arme, ihre Beine, alles festgehalten von unerbittlichen Händen.
Sein Atem war kalt an ihrer Haut, er überzog ihren Hals und Nacken mit einer Eisschicht. Mit einem Seufzen vergrub er die Fangzähne in ihrem Fleisch.
»Nein!« Irgendwie durchdrang diese einzelne Silbe ihre Benebelung.
Es folgte eine Pause, dann eine ruckartige Bewegung des Vampirs... Und plötzlich war sie frei; der Bann war gebrochen. Das drückende Gewicht auf ihr verschwand. Sie bekam wieder Luft und konnte den Blick fokussieren.
»Sie gehört mir«, sprach die Stimme weiter.
Victoria erkannte die Stimme, erkannte das Gesicht, als es in ihr Sichtfeld kam. Sebastian war zurückgekehrt.
Die Vampire hatten auf seinen Befehl hin von ihr abgelassen?
Er schien ruhig und vollkommen Herr der Lage zu sein, während die Vampire einen höchst betretenen Eindruck machten, als sie sich von ihr zurückzogen. »Vioget! Das wussten wir nicht«, sagte Partredi.
Regalado war aufgestanden. »Was? Was ist hier los?«
»Sie ist nicht für sie bestimmt«, teilte Sebastian ihm kalt mit. »Sie werden sie nicht anfassen. Sie ist mein.«
Regalados dunkle Augen blitzten vor Wut. »Sie haben hier keine Autorität!«
Sebastian hob eine Braue. »Wenn das der Fall ist, warum ziehen sie sich dann auf meinen Befehl hin zurück? Glauben Sie mir, Regalado, Sie wollen mich nicht erzürnen. Die Tutela möchte doch nicht Beauregards Zorn auf sich ziehen. Oder etwa doch?«
»Beauregard?« Regalado wich zurück. »Was haben Sie -«
»Verschwindet«, forderte Sebastian die Vampire auf und ignorierte dabei Regalados gestammelte Frage, als wäre es die eines zweijährigen Kindes.
Die Vampire verneigten sich vor ihm, als sie gingen, und Victoria bemerkte absurderweise, dass jemand - Max? - die Vorhänge wieder aufgezogen hatte. Das Orchester spielte; der Chor sang weiter.
Sie wusste nicht, was sie denken sollte.Wo sie hinsehen sollte. Wen ansehen.
Was sie dabei empfinden sollte, von Sebastian als mein bezeichnet zu werden.
Natürlich war das vermutlich nur der Wirkung wegen geschehen. Trotzdem hallte es in ihrem Bewusstsein wider, zusammen mit der Tatsache, dass sie ein weiteres Mal gebissen worden war. Zum Glück war es nur eine oberflächliche Wunde; kaum der Rede wert. Ein kleines, blutiges Mal, das an ihrem Hals brannte.
Verstohlen öffnete Victoria die kleine Phiole mit Weihwasser in ihrem Pompadour und befeuchtete damit ihr Taschentuch. Mit einem raschen Blick zu den anderen Anwesenden drückte sie es auf ihren Biss, wobei sie das Brennen des Salzes kaum spürte.
Sara saß mit glasigen Augen auf ihrem Stuhl und hielt einen weißen Schal an ihren Hals. Sie schien Victoria nicht zu bemerken oder es war ihr einfach egal.
Galliani und Max standen im Halbdunkel des hinteren Logenbereichs. Regalado starrte Sebastian an, sagte jedoch nichts mehr. Er wirkte gar nicht wie jemand, der Vampire beschützte; eher wie ein schmollendes Kind, dessen Spiel ein zu frühes Ende gefunden hatte. Placidia stand hinter Sebastian, so als wären sie gerade erst hereingekommen und er hätte sich dann vor sie gestellt. Portiera war neben ihrer Zwillingsschwester.
Victoria sah zu Sebastian, und er bedachte sie mit einem Blick, der besagte, dass er es gar nicht erwarten konnte, all die Fragen zu hören, die ihr durch den Sinn gingen, weil er sie nämlich nicht beantworten würde.
Sie konnte sich gut vorstellen, welche Art von Belohnung er ihr entlocken wollte.
Was konnte sie anderes tun, als sich wieder auf ihren Stuhl zu setzen, erleichtert, der Situation entronnen zu sein, ohne dass jemand von ihrem Venatoren-Status erfahren hatte.
Doch dann bemerkte sie verspätet, dass die Kälte in ihrem Nacken nicht nachgelassen hatte. Seine Intensität verriet ihr, dass die Vampire noch immer in der Nähe waren.
Wie zur Bestätigung schrie wenige Sekunden später jemand auf. Es war ein furchtbarer, entsetzter Schrei.
Victoria sprang auf. Zum Glück war sie nicht die einzige Person in der Loge, die auf diese Weise reagierte, und Sebastian, der direkt neben ihr stand, schob die Hand unter ihren Arm, so als wollte er sie stützen. Oder aufhalten.
Wieder ertönte ein Schrei, dieses Mal ein wenig näher, aus dem Flur hinter ihrer Loge. Dann ein paar Rufe. Die Diva sang weiter, das Orchester spielte. Die Kälte in Victorias Genick war nicht abgeflaut.
»Wer ist das?«, rief Portiera, die sich an Galliani festklammerte. »Jemand tut ihr weh!«
»Jemandem wird wehgetan«, echote Placidia und zerrte an Sebastians anderem Arm.
Mit Portiera im Schlepptau öffnete Galliani die Tür und spähte nach draußen. »Ich sehe nichts!«
Ein weiterer Schrei gellte durch den Korridor, lauter jetzt, da die Tür offen stand. Alle Gedanken an Eustacias Warnung waren plötzlich in Vergessenheit geraten, und Victoria riss sich von Sebastian los. Sie lief um die Stühle herum in Richtung Tür, als Max’ düstere Miene sie innehalten ließ.
Sie klammerte sich an die Lehne des samtbezogenen Stuhles neben ihr und überlegte, was sie tun sollte, da streifte ihr Blick Regalado. Er lehnte nicht weit entfernt an der Seitenwand der Loge und beobachtete sie. Mit unbesorgter Miene.
Victoria holte tief Luft und grub die Finger tiefer in die Samtpolsterung, verankerte sich selbst dort.
Doch sie schwankte in ihrer Entschlossenheit. Sie musste diesen Raum verlassen. Die Vampire waren von Sebastian fortgeschickt worden - nur um anderswo Unheil anzurichten.
Der Tumult aus Schreien und rennenden Füßen war größer geworden; trotzdem ging die Oper weiter.Vielleicht hörten die da unten wegen der Entfernung und der Lautstärke des Orchesters nichts. Aber es war eine eigenartige Erfahrung - von einer Seite der Loge erklang Musik, von der anderen Laute der Panik und des Entsetzens.
»Irgendjemand muss etwas tun!«, kreischte Placidia. »Und ich möchte hier nicht bleiben. Was, wenn es ein Feuer ist? Oder Banditen! Ich will nicht in der Falle stecken!« Ihre Stimme schraubte sich vor Hysterie spiralartig nach oben, während sie zu Sebastian hochsah. Offensichtlich hatte sie keine Angst vor Vampiren.
Victoria ergriff die Gelegenheit und legte den Handrücken an die Stirn, wie sie es ihre Mutter hatte tun sehen, wenn diese über Hitzewallungen klagte. »Mir ist schrecklich warm«, jammerte sie mit gespielt weinerlicher Stimme. »Mr. Vioget, ich fürchte, Sie müssen mich aus diesem engen Raum geleiten. Sie werden mich doch beschützen, nicht wahr?«
Noch bevor er antworten konnte, hakte sie sich mit dem anderen Arm bei ihm unter und begann, ihn sanft in Richtung Tür zu dirigieren.Victoria hörte die anderen Frauen etwas sagen, aber da war sie schon mit Sebastian und Placidia aus der Loge heraus und in dem schmalen Gang, der hinter den unteren Theaterrängen entlangführte. Andere Türen gingen auf, Menschen strömten heraus, sahen sich ängstlich und besorgt um, und der Korridor füllte sich zusehends.
In der Ferne vernahm Victoria tumultartigen Lärm - - eilige Schritte, Schreie und Gebrüll, sowie lautes Krachen, bei dem es sich um zuschlagende Türen oder große Gegenstände, die zu Boden stürzten, handeln konnte. Sobald sie außer Sichtweite der Loge und der anderen waren, löste Victoria sich von Sebastian, lief den Gang hinunter und tauchte in die Menge der anderen Opernbesucher unter.
Sie hörte ihn nach ihr rufen, reagierte jedoch nicht darauf... Sie achtete nur auf die Kälte in ihrem Nacken, auf das Barometer, das ihr verraten würde, wo die Vampire waren.
Immer weiter den Flur hinunter, an den Türen der anderen Logen vorbei, zu der Treppe, die nach unten zum Haupteingang führte... oder nach oben zu den höher gelegenen Logen.
Victoria zog ihren Pflock nicht hervor, während sie sich zwischen den Menschen hindurchdrängte. Ihr wurde klar, dass mehr als zwei Vampire hier waren, und sie fragte sich, was sie wohl taten - ob sie wahllos Leute angriffen, ihr Blut tranken und sie dann freiließen, oder ob sie sie als Gefangene verschleppten, um sich später an ihnen gütlich zu tun.
Dann hörte sie die Warnung: »Feuer!«
Ein Pandämonium von Schreien schallte durch den engen Gang, während die Leute zu schubsen und zu drängeln begannen, um durchzukommen.
»Feuer!«, hallte es in ihren Ohren und im ganzen Theater wider. Das Orchester hatte zu spielen aufgehört, jetzt waren nur noch Rufe und Schreie zu hören.
Die Menschen strömten in Scharen aus dem Gebäude, was gut war. Draußen hatten sie allein aufgrund der Tatsache, dass sie sich zerstreuen würden, mehr Chancen, einer Vampirattacke zu entgehen. Doch Victorias Nacken war noch immer eisig, die Vampire befanden sich also in der Nähe.
Ihrem Instinkt folgend und darum betend, dass es ihr gelingen würde, sie aufzuspüren, rannte sie eine der Freitreppen hinunter. Ein leichter Rauchgeruch sagte ihr, dass es wirklich irgendwo in dem Opernhaus brannte, aber Victoria war noch nicht bereit, zu gehen.
Sie wusste nicht, wie lange sie sich ihren Weg zwischen den flüchtenden Menschen hindurch bahnte oder wohin sie überhaupt wollte, während sie durch Gänge lief und verschiedene Treppen hinauf- und hinabstürmte. Doch mit der Zeit wurde der Qualm dichter, sie hörte das Krachen einstürzender Gebäudeteile und das gedämpfte Tosen eines Feuers.
Als sie schließlich durch eine Tür stürzte, fand sie sich auf einem Balkon wieder, der der Loge der Regalados genau gegen überlag. Victoria wusste, dass ein Vampir in der Nähe war; sie blickte sich nach allen Seiten um, und da entdeckte sie ihn drei Etagen tiefer.
Er hob das Gesicht von dem Mann, dessen Blut er gerade trank, und sah sie an.
Das Erkennen erfolgte augenblicklich. Es war jener Imperialvampir, der nach dem Mord an Polidori entkommen war.
»Du!«, kreischte er, und ein Blutschwall ergoss sich aus seinem Mund. »Ich dachte, du wärst tot!« Er ließ sein Opfer fallen, sprang von dem kleinen Balkon zu dem daneben, kletterte auf die Brüstung und brachte sich in Position, um mit einem Satz zu ihr hinaufzugelangen.
Victoria sah, wie eine Armlänge von ihr entfernt die Flammen an den Vorhängen emporzüngelten, erkannte, dass es den Vampir bloß zwei weitere übermenschliche Sprünge kosten würde, ihre Loge zu erreichen, und da traf sie eine Entscheidung: Sie musste sich ihm stellen.
Er hatte sie erkannt; wenn er entkam, würde er sie an die Tutela verraten. Sie musste ihn unschädlich machen.
Da sie sich gerade nach unten beugte, um den Pflock unter ihrem Rock hervorzuholen, fühlte sie die Bewegung hinter sich nicht, bis sie plötzlich vom Geländer weggerissen wurde. Eine Hand wurde über ihren Mund geschlagen, und muskulöse Arme zerrten sie zurück in die Dunkelheit der Loge.
»Kämpfe nicht«, knurrte Max in ihr Ohr.
Sie hörte den Vampir näher kommen, versuchte, es Max zu sagen, aber er war zu stark, zu unerbittlich, und so zog er sie mit wenigen, geschmeidigen Bewegungen nach draußen.
Der Rauch war hier dichter, trotzdem lief Max, sie hinter sich her zerrend, den Gang hinunter. Der Qualm brannte ihr in den Augen und brachte sie zum Husten, aber er hatte noch kein gefährliches Stadium erreicht. Sie konnte noch immer atmen, noch immer sehen. Die Flammen waren weit weg.
Max drängte sie eine Treppe hinunter und in einen kleinen Raum, dann folgte er hintendrein und schloss lautlos die Tür. Er stieß sie mit dem Gesicht voran gegen eine Wand und legte ihr viel zu fest die Hand vor den Mund.Victoria versuchte mit aller Gewalt, ihn wegzuschubsen, aber er rührte sich, abgesehen von seiner keuchenden Atmung an ihrem Rücken, nicht.
»Kehr heim. Zurück nach London. Du kannst hier nichts ausrichten, Nedas ist zu mächtig. Er wird gewinnen.« Seine Lippen streiften ihr Ohr, als er sprach.
Sie kämpfte wieder gegen ihn an, versuchte es mit ihrer bevorzugten Verteidigungstaktik, indem sie ihm den Kopf nach hinten ins Gesicht schlug, aber er wich mühelos aus.
»Hast du verstanden? Nicke.«
Sie nickte, dann schüttelte sie den Kopf, soweit ihr das unter seiner Hand möglich war. Mit der anderen hatte er ihre beiden Handgelenke gepackt und hielt sie ihr im Nacken fest.
»Aber natürlich wirst du nicht auf mich hören, habe ich Recht? Du bist so verdammt naiv. Und starrsinnig. Sei still, oder ich werde dir wehtun«, befahl er grimmig, dann ließ er sie los. Victoria schoss herum und sah ihn an.
Es gab ein kleines Fenster in dem Raum, durch das genügend Mondlicht hereinfiel, um sein Gesicht zu erhellen. Sie sah nichts darin, das sie beruhigte. Es war verbittert, zornig und voller Entschlossenheit. Seine kaum erkennbaren Augen blickten stumpf.
»Vielleicht wird dich das hier überzeugen, dass ich meine, was ich sage.« Er zog sich sein am Kragen offenes Hemd von der Schulter und drehte sich von ihr weg, sodass sie das Zeichen sehen konnte.
Dunkel und markant schimmerte es direkt über dem Schulterblatt an seinem Rücken.Victoria erkannte es. Ein von Schlangen umwundenes T.
»Wie du siehst, bin ich Mitglied der Tutela, und ich folge ihren Gesetzen. Bist du nun überzeugt?« Sein Atem ging harsch, als er sich wieder zu ihr umdrehte und sie ansah. »Es ist meine Pflicht,Venatoren zu töten. Ich bin einer von ihnen.«
»Ich glaube dir nicht.« Aber etwas in ihr begann zu bröckeln. Sie waren allein. Niemand konnte sie hören.Warum sollte er lügen? »Aber falls es wahr ist, musst du mir sagen, warum.«
Er holte tief Luft und fasste sie an den Schultern. Seine Finger waren kräftig, aber nicht schmerzhaft, als er sie so vor sich positionierte, dass sein offenes Hemd ihren Oberkörper berührte, dann sah er sie an. »Ich habe einen Handel mit Lilith geschlossen. Sie versprach, ihre Fesseln von mir zu nehmen, wenn ich mich mit der Tutela verbünde.« Seine Finger bohrten sich in ihr Fleisch, und Victoria entwand sich ihnen. Zu ihrer Überraschung gab Max sie frei.
»Also ist Lilith hier in Rom? War es das - du warst bei ihr?« »Nein.« Seine Stimme klang gepresst, so als könne er sich das Wort nur mit Mühe abringen. »Sie ist noch immer in ihrem Versteck in den Bergen, weit weg von hier. Ich habe sie nur das eine Mal gesehen, als sie mir anbot, ihren Bann von mir zu nehmen, wenn ich der Tutela beitrete.«
»Warum bringst du mich dann nicht um, wenn du verpflichtet bist,Venatoren zu töten?«
»Ich gebe dir die Chance, zu entkommen. Aber es ist deine letzte. Sollte ich dich noch einmal sehen, werde ich dich Regalado und den anderen ans Messer liefern. Denn falls ich es nicht tue, haben sie keinen Grund, mir länger zu vertrauen.«
Victoria stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Dann hast du mich nicht beschützt. Der Vampir im Theater, der, von dem du mich weggeschleift hast, als ich gegen ihn kämpfen wollte, hat mich erkannt. Er weiß, dass ich ein Venator bin, und wird meine Identität verraten. Die Entscheidung liegt also nicht in deiner Hand.«
»Es hat ganz den Anschein.« Er trat einen Schritt zurück. »Ein Grund mehr für dich, nach London zurückzukehren. Du wirst gebraucht werden, sobald das alles vorüber ist.«
»Nachdem was alles vorüber ist?«
»Fahr nach Hause,Victoria.«
Dann streckte er den Arm aus und schlug das Fenster neben ihr ein. Noch bevor sie Widerstand leisten konnte, hatte er sie schon hochgehoben und nach draußen befördert. Sie stürzte, aber es war kein tiefer Fall, denn sie landete auf einem kleinen Busch.
Nachdem sie sich auf die Füße gekämpft hatte, blickte sie nach oben, doch Max folgte ihr nicht.

Als Max sich seinen Weg aus dem Opernhaus bahnte, ließ er hinter sich eine rauchgefüllte Ruine und wer weiß wie viele Opfer des Feuers und der Vampire zurück.
Er hatte an diesem Abend eine letzte Sache zu erledigen, und sie würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.
Tatsächlich entdeckte er Bertrand kurz darauf, als dieser gerade auf den Treffpunkt zuging, wo die Tutela und die Vampire zusammenkommen sollten. Fettuch’s Locanda - ein Lokal, das sich kaum von Viogets ehemaligem Silberkelch unterschied - lag nur einen Block entfernt in einer schmalen Seitengasse.
»Ein recht erfolgreicher Abend, nicht wahr?«, begrüßte Max den Vampir.
»Ja, durchaus«, erwiderte Bertrand. »Denn obwohl ich nicht zu Ende bringen konnte, was ich mir vorgenommen hatte, gibt es dennoch eine frohe Botschaft, die ich Nedas heute Nacht überbringen kann. Der weibliche Venator, den ich in England getötet zu haben glaubte, ist hier.«
»Tatsächlich? Er wird über alle Maßen erfreut sein.« Max blieb stehen, um mit übertriebener Pose in eine enge, dunkle Gasse zu spähen - es war die letzte vor der, in die sie einbiegen mussten. »Sieh mal einer an.Was haben wir denn da?«
Als Bertrand ihm in die Finsternis folgte, drehte Max sich blitzschnell herum und stieß dem Vampir, noch bevor dieser ein letztes Mal Luft holen konnte, den Pflock ins Herz.
Er steckte ihn wieder ein, klopfte sich ein paar Flocken Vampirstaub vom Ärmel, dann setzte er seinen Weg fort.