Kapitel 15
Lady Rockley erhält eine
Abfuhr
Victoria sah George an
und lächelte, als wäre nichts Ungewöhnliches daran, unter falschem
Namen vorgestellt zu werden.
Zu seiner Ehre musste gesagt werden, dass er
nichts weiter tat, als sich zu verbeugen und ihr einen knappen
Handkuss zu geben, aber wenige Augenblicke später, nachdem man
einander gebührend vorgestellt worden war und Victoria sich
entschuldigte, bevor er etwas Unüberlegtes sagen konnte, löste auch
er sich von der Gruppe, um ihr zu folgen.
»Vielleicht erlauben Sie mir, Sie mit einem
Getränk zu versorgen«, sagte George und legte die Hand auf ihren
Arm.
Doch sobald sie außer Hörweite des Grafen und
seiner Gefährten waren, zog er Victoria beiseite und sah sie an.
»Ich weiß zwar nicht, welch glücklicher Zufall uns so kurz nach
meiner Ankunft in Italien zusammengeführt hat, aber was auch immer
es war, ich bin höchst dankbar dafür.«
»Sie erwähnten gar nicht, dass Sie nach Italien
reisen wollten, als wir uns voneinander verabschiedeten«, bemerkte
Victoria, die sich wunderte, dass er sie nicht wegen ihres falschen
Namens be fragte.Vielleicht verhielt er sich einfach so höflich und
zurückhaltend wie damals, als er sie dabei ertappt hatte, wie sie
auf der Suche nach Vampiren durch die mitternächtlichen Straßen
Londons
gepirscht war. Möglicherweise war er schlichtweg ein argloser
Mensch.
Aber könnte es noch einen anderen Grund geben?
Trotz seiner offenkundigen Überraschung hatte er nicht ganz so
fassungslos reagiert wie sie, als Regalado sich umgedreht hatte, um
sie einander vorzustellen.
»Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht
geplant gehabt, nach Italien zu fahren... Aber ich muss gestehen,
ich fand es außerordentlich bedauerlich, dass Sie England just in
dem Moment verlassen mussten, als wir anfingen, uns anzufreunden.«
Er drückte ihren Ellbogen, so als wollte er seiner Bemerkung noch
eine tiefere Bedeutung verleihen. »Ich habe also ein wenig
nachgedacht und dabei festgestellt, dass es ein guter Zeitpunkt
wäre, nach Rom zurückzukehren und mich um ein paar geschäftliche
Interessen zu kümmern, die ich hier verfolge. Ich war mir sicher,
dass ich einen Weg finden würde, Sie ausfindig zu machen und Ihnen
einen Besuch abzustatten. Allerdings hatte ich keine Ahnung, dass
der Zufall uns nur zwei Tage nach meinem Eintreffen bei einem
gesellschaftlichen Ereignis zusammenführen würde.« Sein Lächeln war
breit und jungenhaft, und die beiden tiefen, sichelförmigen
Grübchen, die es umspielten, ließen ihn zusammen mit seinem
gespaltenen Kinn sogar noch jugendlicher aussehen.
»Wirklich ein außerordentliches Glück.« Ihre
Lüge wurde von einem ebenso falschen Lächeln begleitet. Sie musste
eine Möglichkeit finden, George loszuwerden, um Regalado aushorchen
zu können. Aber dann kam ihr ein anderer, unschöner Gedanke.
»Verraten Sie mir doch, wieso Sie heute Abend hier sind.«
Bestimmt nicht, weil er sich für die Tutela
interessierte. Sicher war es nur ein Zufall.
Aber es waren Vampire auf Claythorne gewesen und
außerdem Polidori - ein Mitglied der Tutela. Und sie war sich noch
nicht einmal sicher, ob nicht auch Sebastian der Tutela angehörte,
denn möglicherweise traf das auf seinen Vater zu.
Dann breitete ein anderer schwarzer Gedanke in
ihrem Kopf seine Schwingen aus. Sebastian hatte behauptet, dass es
nicht ratsam wäre, wenn er diese Veranstaltung in der Villa der
Regalados besuchte.Weil er wusste, dass Starcasset hier sein würde?
Und er aus irgendeinem Grund nicht von ihm erkannt werden
wollte?
»Polidori erwähnte mir gegenüber, als wir an
jenem Abend auf Claythorne beim Essen saßen, dass ich, sollte ich
je nach Rom reisen, unbedingt die Bekanntschaft seines Freundes
Conte Regalado machen müsse. Er schien zu glauben, dass der Graf
und ich einander äußerst sympathisch finden würden.« Er drückte
wieder ihren Ellbogen. »Und ich habe festgestellt, dass er Recht
hatte. Regalado und ich haben viel zu besprechen.«
Victoria beschloss, es zu riskieren. »Hat er
Ihnen gegenüber die Tutela erwähnt?«
»Die Tutela? Hm... nicht, dass ich wüsste.Was
ist das?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher«, erwiderte sie
freundlich und ließ den Blick dabei über den Saal wandern. »Ich
habe nur zufällig gehört, wie jemand das Wort sagte, und wurde
neugierig.« Genau in dieser Sekunde erspähte sie Max.
»Nun, ich werde mich mit großem Vergnügen für
Sie danach erkundigen, falls Sie nicht... Lady Rock - äh,
Mrs.Withers, stimmt etwas nicht?«
Er - Max - stand ihnen gegenüber auf der anderen
Seite des Ballsaals und begrüßte, so als wäre er gerade
eingetroffen, eine kleine Gruppe von Leuten.Tatsächlich war er
genauso groß, genauso dunkelhaarig, und wirkte genauso arrogant wie
im Jahr
zuvor. Er lächelte, während er den Männern die Hände
schüttelte.
»Nein, nein«, wiegelte sie einen kurzen Moment,
nachdem George die Frage gestellt und sie in ihr Bewusstsein
vorgedrungen war, ab. »Allerdings bin ich etwas durstig, offen
gestanden. Wären Sie vielleicht so freundlich...?« Sie ließ ihre
Stimme verklingen und bedachte ihn mit jenem zweckdienlichen Blick,
der sie als hilflose Frau brandmarkte.
»Aber gewiss doch, Madam.« Er wirkte leicht
verlegen. »Ich habe Sie bei Ihrer Suche nach einer Erfrischung
aufgehalten, wofür ich mich entschuldigen muss. Ich werde Ihnen Tee
holen - oder würden Sie ein Glas von diesem Wein, den sie Chianti
nennen, vorziehen?«
»Tee wäre ganz wunderbar, oder eine Limonade.«
Victoria konnte sich nur mit Mühe beherrschen, ihre Aufmerksamkeit
nicht wieder auf Max zu richten.
Kaum dass George sich in Richtung der Tische
davongemacht hatte, wo die Getränke ausgeschenkt wurden, drehte sie
sich um und schlenderte zwischen den Menschentrauben, die den
Ballsaal bevölkerten, hindurch. Sie hatte etwa den halben Weg
zurückgelegt, als Max sie entdeckte.
Er hatte nicht mit ihr gerechnet; das verriet
der fassungslose Ausdruck, der über sein Gesicht zuckte, bevor er
dann so schnell wieder verschwand, wie er gekommen war. Er hielt
keinen Augenkontakt zu ihr, sondern wandte sich wieder den Leuten
zu, die ihn umringten. Jemand sagte etwas Amüsantes, und alle,
einschließlich Max, lachten.
Er sah entspannt und gesund aus. Attraktiv und
aristokratisch, mit seiner olivfarbenen Haut, den hohen
Wangenknochen, der langen, geraden Nase und der kantigen
Kinnpartie.
Sein dunkles Haar war so lang geworden, dass er es hinten hätte
zusammennehmen können; aber das hatte er heute nicht getan, und so
reichte es ihm fast bis zu den Schultern. Auf keinen Fall erweckte
er den Eindruck, eine schwere Krankheit oder harte Zeiten durchlebt
zu haben. Nichts an seinem Äußeren erklärte, weshalb er sich seit
fast einem Jahr nicht mehr gemeldet hatte.
Victoria wusste, dass sie nicht einfach in die
Gruppe hineinplatzen und Max ansprechen oder sich auch nur an der
Unterhaltung, die er mit den vier oder fünf Männern führte,
beteiligen konnte. Als er dann noch einmal in ihre Richtung
blickte, sah sie selbst von ihrem Standpunkt aus den Ausdruck in
seinen Augen: finster, kalt, leer.
»Mrs.Withers! Ich habe Sie schon überall
gesucht. Ich konnte mir gar nicht erklären, wo Sie abgeblieben
sind. Darf ich Sie Emmaline nennen?«
»Ich habe Sie ebenfalls gesucht, Sara, und
natürlich dürfen Sie mich Emmaline nennen.« Wie könnte ihr das
Mädchen nutzen, um zu erreichen, was sie vorhatte?
»Splendido! Aber jetzt
muss ich Ihnen meinen amore vorstellen. Er
ist gerade eingetroffen.«
Natürlich.Victoria war nicht im Geringsten
überrascht. Warum sollte sie es auch sein? Mit den Vampiren war ihr
Leben zu einem Füllhorn von Zufällen und unerwarteten Begegnungen
geworden. Sebastian tauchte regelmäßig wie aus dem Nichts auf.
George Starcasset erschien ausgerechnet bei ihrem ersten
gesellschaftlichen Ereignis in Rom.Warum sollte Max dann also nicht
der Galan ihrer neuen Bekannten, der Tochter eines der
einflussreichsten Mitglieder der Tutela sein?
»Caro, darf ich dich mit
meiner neuen Freundin, Mrs. Emmaline Withers bekannt machen?«,
verkündete Sara und hakte
sich Besitz ergreifend bei Max unter. »Sie ist erst vor kurzem aus
London eingetroffen. Emmaline, dies ist il
fidanzato mio, Maximilian Pesaro.«
Ihr Verlobter?
Er verbeugte sich so knapp, dass es eher
beleidigend als höflich war, dann warf er Victoria einen
unpersönlichen Blick zu und fragte auf Italienisch: »Aus London?
Was konnte Sie bloß dazu verleiten, eine solch charmante Stadt zu
verlassen?«
»Bitte nehmen Sie ihm das nicht übel, Emmaline,
aber Max verabscheut London zutiefst«, erklärte Sara. »Er musste
letztes Jahr mehrere Monate dort verbringen und konnte es gar nicht
erwarten, wieder heimzukommen.«
»Wirklich? Nun, ich bin sicher, dass es für ihn
keinen Grund geben wird, jemals dorthin zurückzukehren, wenn er die
Stadt so sehr verachtet. Aber Sie haben ihn doch gewiss
begleitet.Wie hat Ihnen London gefallen?«
»Leider hatte ich damals noch nicht das
Vergnügen, die Bekanntschaft meiner Verlobten gemacht zu haben«,
erwiderte Max mit seiner tiefen, geschmeidigen Stimme. Sehr, sehr
gelassen. Nonchalant. »Das geschah erst kurz nach meiner
Rückkehr.«
»Darf ich Ihnen beiden dann meine Glückwünsche
zu Ihrer bevorstehenden Hochzeit aussprechen. Wann soll das frohe
Ereignis denn stattfinden?«
»Es kann gar nicht bald genug sein.« Max sah
Sara an, die zu ihm emporstrahlte, als wäre er ein Hut, den sie
unbedingt haben musste. Sie reichte ihm noch nicht einmal bis zur
Schulter, so klein war sie, dabei aber weich und kurvig. Ihr
blondes Haar, ungewöhnlich für eine Italienerin, musste ihn
angezogen haben; das und vielleicht auch die lang bewimperten
braunen Augen in ihrem süßen, herzförmigen Gesicht. »Es ist
wirklich schade, dass
Sie nicht daran teilnehmen können, Mrs. Withers, aber ich vermute,
dass Ihre Reisepläne Sie schon bald aus unserer schönen Stadt
führen werden.«
Die Botschaft hätte nicht deutlicher sein
können, wenn er sie ihr schriftlich gegeben hätte.
Victoria merkte, dass ihre Finger zitterten.
»Ah, Mr. Starcasset ist gerade mit meiner Erfrischung
zurückgekehrt«, sagte sie zu Sara. Sie vermied es, Max anzusehen,
aus Angst, jemand könnte den mörderischen Ausdruck, den ihr Gesicht
zweifellos zeigte, bemerken. »Außerdem muss ich unbedingt noch
einmal einen Blick auf das Porträt werfen. Bitte entschuldigen Sie
mich.«
»Aber mit Vergnügen.« Max’ gemurmelte Erwiderung
drang ihr gerade noch ans Ohr, als sie davoneilte.
Tiefe Atemzüge. Victoria zwang sich, tief
einzuatmen und langsamer zu laufen. Er sollte nicht sehen, dass er
sie aus der Fassung gebracht hatte; die Genugtuung würde sie ihm
nicht geben.
Was selbstverständlich der Fall war. Er war vor
fast einem Jahr verschwunden, und nun fand sie ihn hier, zusammen
mit seiner Verlobten glücklich in den Eingeweiden der Tutela
versteckt! Ganz bestimmt war er nicht ahnungslos, was die
Verwicklungen seines zukünftigen Schwiegervaters anbelangte; Max
war immerhin ein Venator.
Als sie George erreichte, der glücklicherweise
genau in diesem Moment mit ihrem Getränk zurückkam, erkannte
Victoria, dass es zwei Erklärungen für Max’Verbindung mit Sara
Regalado und sein Verhalten heute Abend gab.
Entweder spielte er, genau wie sie selbst, eine
Rolle, in dem Versuch, die Tutela auszuspionieren, oder aber er
hatte die Seiten gewechselt und aus diesem Grund jegliche
Kommunikation mit
Tante Eustacia und Wayren abgebrochen. Falls es Ersteres war,
verstand Victoria nicht, weshalb er keinen Kontakt zu ihnen
aufgenommen hatte. Es gab diskrete Wege, dies zu tun, und Max würde
sie bestimmt kennen. Falls er sich der Tutela, den Beschützern der
Vampire, angeschlossen hatte, musste er seine Stellung als Venator
aufgegeben haben.
Das konnte sie nicht glauben. Nicht für eine
Sekunde.
Aber da war noch eine dritte Möglichkeit.
Alles konnte genau so sein, wie es schien, nicht
mehr und nicht weniger: Er hatte sich in Sara Regalado verliebt und
wollte sie heiraten.
Victoria musste während der Kutschfahrt zurück zu
ihrer Villa George Starcassets linkische Versuche, sie zu küssen,
über sich ergehen lassen. Sie hatte gute Lust, ihn mit einem
gezielten Fausthieb, der ihm ein Schleudertrauma bescheren würde,
zurück auf seine Sitzbank zu katapultieren, aber am Ende unterließ
sie es, ihre körperliche Überlegenheit so unverhohlen zu zeigen.
Stattdessen trat sie ihm ›versehentlich‹ mit ihrem spitzen Absatz
so wuchtig auf die Zehen, dass jede weitere amouröse Idee, die ihm
vorschweben mochte, im Keim erstickt wurde. Damit erlosch nicht nur
seine Glut, vermutlich würde er auch eine Woche lang nicht tanzen
können.
Was sie wirklich wollte, war, jemanden zu
schlagen.Vorzugsweise Max.
Nachdem sie die Chance gehabt hatte, die
Situation genau zu durchdenken, war sie zu der einzigen, ihr
möglichen Schlussfolgerung gelangt: Nämlich, dass Max tatsächlich
eine Rolle spielte und er sie einweihen würde, sobald sie die
Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen bekamen.
Es war die einzige Erklärung, die Sinn ergab.
Max war ein Venator, nach Eustacia der mächtigste von allen. Er
würde sie niemals verraten.
Aber was war mit Sara Regalado? Victoria konnte
sich einfach nicht vorstellen, dass er sich tatsächlich in diese
blonde Göre verliebt hatte. Falls er es sich je gestatten würde,
sich von einer Frau ablenken zu lassen, würde es jemand... anders
sein.
Angesichts dieser Schlussfolgerungen nahm
Victoria an, dass Max genauso begierig darauf war, ihr die Wahrheit
zu sagen, wie sie, diese zu hören, deshalb positionierte sie sich
neben einer der Eingangstüren, in der Hoffnung, seinen Blick
erhaschen und ihm ein Zeichen geben zu können, dass er sich
verabschieden solle. Aber er sah nicht ein einziges Mal in ihre
Richtung und schien völlig zufrieden damit, sich unter die Gäste zu
mischen, ob Sara nun gerade an seinem Arm hing oder nicht.
Als ihr schließlich keine Ausreden mehr
einfielen, um Portiera und Placidia zu erklären, warum sie sich
nicht von der Stelle rührte, erlaubte sie ihnen, sie zu einer
Traube von jungen Italienern zu führen - dieselbe Sorte von Filous
und Wüstlingen, die auch die englische Oberschicht bevölkerten -
und sie ihnen vorzustellen.
Für eine kurze Weile gönnte Victoria sich das
Vergnügen, nichts weiter zu sein als eine junge, hübsche Frau in
der Gesellschaft junger, hübscher Männer. Sie hatte ganz vergessen,
wie es war, sich auf nicht mehr konzentrieren zu müssen, als sich
charmant lächelnd geistreiche Bemerkungen auszudenken.
Dies war die Existenz, die sie aufgegeben hatte:
ein einfach gestricktes Leben, in dem sich alles darum drehte,
welches Kleid sie zu welcher Gelegenheit tragen sollte, ob ihre
Tanzkarte voll werden oder sie, sobald sie erst einmal verheiratet
wäre, einen Erben
und noch einen als Ersatz hervorbringen würde. Ein Leben, das aus
Klatsch, Festen und wenig mehr bestand.
Ach, welch gesegnete Ahnungslosigkeit.
Ja, das war definitiv ein Teil des Lebens, das
sie hinter sich gelassen hatte.
Portieras und Placidias gut aussehende Freunde
überhäuften Victoria mit charmanten Komplimenten und überschlugen
sich geradezu dabei, sich mit ihr zu unterhalten, ihr einen Drink,
ein biscotto, ein antipasto zu holen oder sie zu einem Spaziergang auf
der Terrasse zu verlocken, um ein wenig frische Luft zu schnappen.
Für eine englische Witwe wirkte sie ungewöhnlich anziehend auf sie,
besonders auf einen der Älteren der Gruppe - wenngleich er die
Dreißig kaum überschritten haben konnte -, den Baron Silvio
Galliani.
»Vielleicht kann ich Sie ja doch von einem
kleinen Ausflug nach draußen überzeugen, Mrs.Withers«, schlug er
vor, während er mit den Ellbogen einen anderen, weniger kühnen
Konkurrenten beiseitestieß. »Die Gärten der Villa Regalado sind im
Mondschein besonders reizvoll.«
Sein Englisch war mit einem schweren
italienischen Akzent gewürzt, seine dunklen Augen funkelten
bewundernd, und sein Lächeln war so verführerisch, dass ihr Bauch
zu kribbeln begann. Als sie einwilligte und er ihren Arm nahm,
fühlte sie das feine Tuch seiner Jacke und die Muskeln
darunter.
»Kennen Sie die Regalados schon lange?«,
erkundigte Victoria sich, während sie über die gepflasterte
Terrasse schlenderten.
»Seit vielen Jahren. Ich bin der Cousin der
Contessa. Habe ich übertrieben, als ich sagte, dass die Gärten im
Mondlicht unglaublich schön sind? Sehen Sie diese Rosen
dort?«
Sie betrachtete die cremig-weißen Blüten, die
der Mond in
ein milchiges Licht tauchte. »Sie sind zauberhaft, aber blühen sie
nicht recht spät im Jahr?«
»Und ob sie das tun! Ich versuche mich ein wenig
als Blumenzüchter, und dies ist eine meiner Kreationen. Ich gab ihr
den Namen Sara im Mondlicht - Sarà nella luce
della luna -, aber vielleicht habe ich sie ein wenig voreilig
getauft.« Er warf ihr einen bedeutungsschweren Blick zu. »Ihre
erlesene Farbe erinnert mich an Ihre schöne englische Haut, und der
silberne Glanz des Mondes ist derselbe wie der Schimmer auf Ihrem
dunklen Haar. La luce della luna di
Emmaline wäre vielleicht der passendere Name. Emmalines
Mondlicht.«
Victoria spürte die Wirkung seines Charmes. Aber
schließlich war sie auch noch nie mit einer Rose verglichen worden.
»Ich fühle mich zutiefst geehrt«, erwiderte sie, dann ging sie
weiter. »Sie müssen Sara und ihrer Familie sehr nahe stehen, um
eine Rose nach ihr zu benennen.«
»Si, ich kenne sie schon
seit ihrer Kindheit. Bisweilen ist sie ein wenig leichtsinnig,
trotzdem aber ein recht nettes junges Mädchen. Und hübsch auf ihre
ganz eigene Art.«
»Es scheint, als ob die Familie ziemlich erfreut
wäre über ihre bevorstehende Heirat. Sind Sie ihrem Verlobten schon
begegnet?«
»Viele Male. Pesaro ist ein echter Gentleman und
hat allem Anschein nach recht schnell Zuneigung zu Sara gefasst. Es
dauerte nur etwas mehr als einen Monat, bis sie ihre Verlobung
bekannt gaben. Aber natürlich hat Zeit keine Bedeutung, wenn man
die wahre Liebe findet.« Er sah sie wieder mit diesem
durchdringenden Blick an. Glaubte er wirklich, dass sie darauf
reinfallen würde?
»Ist der Conte denn mit dieser überstürzten
Entscheidung seiner Tochter, sich zu vermählen,
einverstanden?«
»Er ist entzückt. Regalado und Pesaro teilen
weitreichende Geschäftsinteressen, und soweit ich weiß, hat er Sara
auf diesem Weg kennen gelernt. So, meine liebe Mrs. Withers, nun
genug von Sara und ihrem Galan... Lassen Sie uns auf Ihren zu
sprechen kommen. Mir ist das Interesse dieses jungen Engländers
dort drinnen nicht entgangen. Sagen Sie ganz ehrlich, und machen
Sie mich nicht unglücklich... ist er von besonderer Bedeutung für
Sie, oder besteht vielleicht die Möglichkeit, dass ein anderer Ihr
Herz erobern könnte?«
»Mein Herz gehört derzeit niemandem,
Baron.«
»Dann betrachte ich mich als glücklichen Mann.«
Baron Galliani lächelte strahlend im Mondschein. »Es wäre mir eine
große Ehre, wenn Sie mich Silvio nennen würden. Hätten Sie Lust,
den Weg dort drüben entlangzuspazieren? Ich würde Ihnen gerne ein
paar meiner violetten Edelwicken zeigen.«
»Das wäre wundervoll, doch ich fürchte, dass ich
in den Ballsaal zurückkehren muss. Ich möchte nicht, dass Placidia
und Portiera sich wegen meines Verschwindens Sorgen machen.
Vielleicht wollen sie sich auch schon verabschieden.«
Er war unübersehbar enttäuscht, doch beugte er
sich ihrem Wunsch und brachte sie nach drinnen. Gerade als sie von
der Terrasse wieder in den Ballsaal traten, entdeckte Victoria Max’
hochgewachsene Gestalt, die auf die gegenüberliegende Tür
zuhielt.
Er wollte den Raum verlassen, und sie würde ihm
folgen. Das war ihre Chance, ihn allein zu sprechen.
Sie sagte Silvio, dass sie sich für einen Moment
entschuldigen müsse, dann bahnte sie sich, ohne den Eindruck von
Eile zu erwecken, ihren Weg durch die plaudernde, weinselige Menge.
Sie machte sogar kurz an dem Tisch mit den Erfrischungen Halt, um
einen undamenhaften Schluck Limonade hinunterzustürzen, bevor sie
weiterlief.Als sie den Ausgang schließlich erreichte, waren beinahe
zehn Minuten verstrichen.
Die Tür, durch welche Max verschwunden war, war
nicht dieselbe, durch die Victoria den Ballsaal ursprünglich
betreten hatte; statt in eine Eingangshalle führte sie in einen
geräumigen, von einer Bogendecke überspannten Flur, zwischen dessen
Türen und Alkoven schulterhohe Säulen standen, auf denen
Marmorbüsten thronten. Gemäß Regalados Neigungen stellten mehrere
von ihnen ihre Brustwarzen zur Schau.
Victoria blieb vor einer der Türen stehen und
rätselte für einen Moment darüber, ob Max diesen Weg wohl
eingeschlagen hatte, um jemanden zu treffen, ein wenig Ruhe von der
anstrengenden Festivität zu finden oder um sie zu suchen.
In dem Flur herrschte Stille, dann ertönte aus
der Ferne das Grummeln einer tiefen Stimme, gefolgt von einem
leisen, entzückten weiblichen Kichern. Irgendjemand nutzte die
Gelegenheit für ein heimliches Stelldichein.
Victoria ging weiter, unsicher ob sie es wagen
sollte, eine der Türen zu öffnen. Max konnte überall sein; er
konnte sich in einem völlig anderen Bereich der Villa aufhalten.
Aber falls er sich davongeschlichen hatte, um mit ihr zu sprechen,
dann musste er irgendwo in der Nähe sein. Und auf sie warten. Er
musste sie gesehen haben, als sie von der Terrasse zurückkam, und
wissen, dass sie ihm folgen würde.
Als plötzlich ein Türknauf betätigt wurde,
huschte Victoria in den Schatten einer der Büsten und zwängte sich
dahinter, wobei sie sich wünschte, so zierlich wie Sara zu sein.
Mit einem leisen Knarzen ging die Tür auf, und das Rascheln von
Röcken verriet, dass eine Frau den Gang hinunterkam.
Victoria hielt den Atem an, aber die Frau
rauschte ohne auch nur einen flüchtigen Blick in ihre Richtung
zurück zum Ballsaal. Es war Sara Regalado.
Ein scheußliches Gefühl breitete sich in ihrem
Magen aus. Sie trat hinter der Säule hervor und wartete.
Die Tür wurde ein weiteres Mal geöffnet, und Max
schlenderte aus dem Zimmer. Sein dichtes Haar war zerzaust und sein
Hemdkragen zerknittert. Doch abgesehen davon ließen ihn seine
falkenartigen Gesichtszüge kühl und distanziert wirken, seine
eleganten Wangenknochen waren wie aus Stein gemeißelt. Er musterte
sie über seine lange, gerade Nase hinweg, dann sagte er: »Sie schon
wieder?«
Er wollte an ihr vorbeifegen, doch sie baute
sich in der Mitte des Korridors vor ihm auf. »Was ist los, Max?«,
fragte sie mit leiser Stimme.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Er wischte
sich einen imaginären Fussel vom Jackenärmel. »Nun ja, Sie mögen
mich in einer peinlichen Situation ertappt haben, aber immerhin ist
sie meine Verlobte.«
»Warum bist du nicht mit Tante Eustacia in
Kontakt getreten?«
Sein Blick war so ausdrucksvoll wie Haferbrei.
»Ich war beschäftigt. Mit Hochzeitsvorbereitungen und dergleichen.
Sie wissen ja, wie sehr einen das ablenken kann.«
Sie hatte das Gefühl, als hätte er ihr einen
Magenschwinger verpasst. »Ja«, wisperte sie.
Er wartete eine Sekunde, dann fragte er: »Gibt
es sonst noch etwas?«
»Nein.«
»Nun gut, also... äh, Mrs. Witters, richtig?
Würden Sie mir
jetzt erlauben, zu meiner Verlobten zurückzukehren? Ich wünsche
Ihnen eine angenehme und baldige Rückreise
nach London.« Als sie zur Seite trat, marschierte er, groß und
düster, an ihr vorbei, und ihr entging nicht, wie verärgert er
war.
Als sie jetzt, Stunden später, George in der
Kutsche gegen übersaß - nachdem die Tarruscelli-Schwestern noch
nicht gehen wollten, hatte er begeistert angeboten, sie nach Hause
zu bringen -, schäumte sie noch immer vor Wut.
Es brodelte und gärte in ihr, doch unter dem
Zorn empfand sie Leere, Unglauben, Angst. Max’ Arroganz und
Grobheit waren nichts Neues, aber seine gelangweilte Reaktion, als
sie ihn auf Eustacia angesprochen hatte, beunruhigte sie zutiefst.
Er liebte ihre Tante wie eine Mutter, einen Mentor, eine Lehrerin,
seine Königin. Dass er das nun einfach so abtat, konnte nichts
Gutes verheißen.
Aber bestimmt war das Ganze nicht so, wie es den
Anschein hatte. Bestimmt hatte er sich nicht wirklich verliebt und
der Welt der Venatoren und seiner Verpflichtung den Rücken
gekehrt.
Oder sich der Tutela angeschlossen.
Sie würde das nicht von ihm glauben.
Niemals.