Kapitel 7
Eine beunruhigende Frage bleibt unbeantwortet
Der Gestank von Tod weckte sie.
Victoria schlug die Augen auf und wappnete sich für eine Fortsetzung des Kampfes gegen den Imperialvampir; sie stieß Sebastian beiseite, der inzwischen die Hand auf ihrer Brust hatte und mit flachen, goldenen Augen zu ihr hinunterblickte.
»Er ist fort«, erklärte er und nahm die Hand weg. »Der Vampir.«
»Und Polidori?« Sie stemmte sich erst auf die Ellbogen, dann auf die Handflächen hoch und sah, dass ihr zerknittertes, weißes Nachthemd dunkelrote Flecken aufwies.
»Tot.«
»Nein!« Sie mühte sich auf die Füße und ließ sich von Sebastian helfen, sobald sie stand. Ihr rechter Oberschenkel stach und schmerzte, als würde er gerade von einem Stein zertrümmert, und sie fühlte ein warmes Rinnsal nach unten und um ihren Knöchel fließen. Sie drehte sich um und sah das Bett.
Darin lag Polidori, oder das, was noch von ihm übrig war. Sie hatte Massaker wie dieses schon früher gesehen, doch das machte den Anblick nicht erträglicher. Seine ehemals wirren, dunklen Locken waren durch verkrustetes braunes Blut flach an eine Seite seines Gesichts geklebt, seine Hüfte und sein Torso waren in entgegengesetzte Richtungen verdreht.Was einmal ein grau-braun gestreiftes Nachthemd gewesen sein musste, war nun durch dunkelrote Spritzer verunziert. Seine Kehle klaffte wie der Eingang einer weiten Höhle, und in seine Brust waren drei X geritzt - als Erinnerung an die dreißig Silberlinge, die Judas für den Verrat an Jesus erhalten hatte.
»Der Imperialvampir ist weg? Ich weiß nicht mehr, was geschehen ist.«
»Ich bin mir selbst nicht ganz sicher... Aber als ich hereinkam, war er nicht mehr da. Du warst nicht sehr lange bewusstlos, und als ich selbst zu mir kam, hörte ich einen lauten Knall. Ich nehme an, das warst du, als er dich gegen die Wand geschmettert hat. Er muss durch das Fenster geflüchtet sein, weil ich nämlich ins Zimmer sah, direkt nachdem ich den Schlag gehört hatte.«
Dann dämmerte Victoria plötzlich die Erinnerung. »Du wolltest, dass ich Polidori rette - du hast gegen den Imperialen gekämpft und wolltest, dass ich dich allein lasse. Du hättest sterben können.«
»Eine recht überraschende Wendung der Dinge, nicht wahr, mein tapferes Mädchen? Nun ja, vielleicht hat es sich aber auch nur so ergeben - schließlich musste ich einschreiten, als der Wächter von deinem hübschen Hals trinken wollte, und der Imperialvampir stand direkt hinter ihm. Wenn ich ihn nicht mit dem Schwert herausgefordert hätte, wäre das dein Ende gewesen... Und was wäre dann aus uns geworden?«
Spott funkelte in seinen Augen. »Auch wenn es auf reiner Mutmaßung basierte, dachte ich mir, dass selbst ich ihn für ein paar kurze Momente würde aufhalten können. Und es war sicher nicht mehr als ein Zufall, dass es mir gelang, den Imperialen lange genug abzulenken, damit du ihm den Hals abtrennen konntest.Trotzdem muss ich zugeben« - er neigte bedächtig den Kopf -, »dass es eine Erleichterung war, als du den Bann des Wächters abschütteln konntest. Für ein paar Minuten war ich nämlich recht besorgt. Du sahst mit deinen geöffneten Lippen und den verträumten Augen aus, als wärst du bereit, alles zu tun, was er verlangte.«
Victoria stakste zum Bett und zog ein Laken über den toten Mann. »Niemand darf hier herein. Wir müssen das, was heute Nacht geschehen ist, unbedingt geheim halten.« Sie sah Sebastian an.
»Ich kümmere mich um Polidori. Und um das Zimmer hier. Wir könnten alles verbrennen.«
»Meine Zofe wird uns helfen. Und vielleicht kann ich nach meiner Tante in London schicken. Sie versteht es... Menschen in Situationen wie dieser von ihren Erinnerungen zu erlösen.«
»Ihre goldene Scheibe - natürlich. Ich habe von ihrem Pendel gehört, das die Erinnerung von Menschen... äh... ins Reine bringen kann. Das wäre äußerst hilfreich.Wenn du sie jetzt gleich verständigst, könnte sie morgen Nachmittag hier sein. Gewiss können wir sämtliche Anwesenden bis dahin hier festhalten. Es wäre nicht klug zuzulassen, dass sich Geschichten über die Geschehnisse von heute Nacht in ganz London verbreiten. Eine Massenpanik könnte die Folge sein -«
»Ganz zu schweigen von all den Möchtegern-Vampirjägern. Ein sehr gefährlicher Zeitvertreib für ungeübte Leute.«
Er musterte sie, als versuchte er auszuloten, ob die Bemerkung auf ihn gemünzt war. »Jeder kann einen Vampir pfählen«, lautete seine gelassene Antwort.
»Nur, wenn er nahe genug herankommt.« Victoria drehte sich wieder zu dem Gemetzel auf dem Bett um. »Nach allem, was er über Vampire wusste, sollte man annehmen, dass er sich irgendwie geschützt hätte. Dass er ein Kruzifix bei sich gehabt hätte, einen Pflock... oder sonst irgendetwas.«
»Ein Kruzifix hätte ihm nicht helfen können - Polidori war Atheist. Deshalb hätten heilige Reliquien, die keine Bedeutung für ihn hatten, ihm keinen Schutz bieten können.«
»Wie kann jemand an das unsterblich Böse und die Verdammung glauben, ohne gleichzeitig an das göttliche Gute zu glauben? Das eine kann nicht ohne das andere bestehen.«
Sebastian zuckte die Achseln. »Du und ich, wir wissen es besser, da wir diesen Aspekt unserer Welt schon seit einiger Zeit begreifen und erfahren. Ich denke, Polidori hatte immer noch Probleme damit, zu akzeptieren, dass es das wahrhaft Böse wirklich gibt: das übersinnliche, unsterbliche, allem anhaftende Böse.«
»Möglich. Aber weshalb hatten sie es überhaupt auf ihn abgesehen? Du wolltest, dass er es mir erzählt... Aber sicherlich kennst du den Grund auch.«
»Mir ist nur bekannt, dass sich die Tutela in Italien erhebt, und Polidori wusste etwas über sie und über ihren Anführer, Nedas. Etwas, von dem die Vampire verhindern mussten, dass es bekannt würde, vermutlich irgendeine geheime Schwäche. Oder aber ein Detail ihrer Pläne. Doch er hat mir weiter nichts verraten. Er traute mir nicht. Er erlaubte mir, in seiner Nähe zu bleiben, weil er keine andere Wahl hatte, aber sein Vertrauen in mich reichte nicht weit genug, als dass er mir alles erzählt hätte.«
Victoria zog die Brauen hoch. »Aber mir hätte er vertraut?«
»Du bist ein Venator. Eustacia Gardellas Großnichte. Ja, ich denke, das hätte er. Aber jetzt... werden wir es nie mehr erfahren.«
»Nedas. Du hast ihn vorhin erwähnt und gesagt, dass er sich schnell bewegt. Ich nehme an, er ist ein Vampir und kein Dämon. Was meintest du damit?«
»Ja, natürlich ist er ein Vampir. Tatsächlich sogar einer von Liliths Söhnen. Und ich meinte lediglich, dass er Polidori so schnell aufgespürt und so viele seiner Gefolgsleute auf ihn angesetzt hat - einschließlich des Dämons und des Vampirs, die du im Silberkelch getroffen hast.« Seine Lippen zuckten. »Ich kann nicht fassen, dass du so lange gebraucht hast, mich danach zu fragen.«
Sie hob trotzig das Kinn. »Ich ziehe es vor, nicht berechenbar zu sein. Abgesehen davon wusste ich, dass du mich ködern wolltest, danach zu fragen... und dass du - oder Polidori - es mir zu gegebener Zeit sagen würdet. Immerhin hast du einige Mühe auf dich genommen, um mich aus meinem Zimmer zu locken.«
Ihre Augen wurden schmal. »Und da wir gerade beim Thema sind... Warum warst du nicht bei Polidori, als die Vampire eintrafen? Ich dachte, du würdest bei ihm bleiben.«
»Ich war gerade auf dem Rückweg zu ihm, als ich auf deinen liebestrunkenen Viscount stieß, der durch das Haus torkelte, also nahm ich mir einen Moment Zeit, ihn zu seinem eigenen Zimmer zu geleiten und zu warten, bis er in seinem Bett schnarchte, bevor ich ihn verließ. Zu diesem Zeitpunkt waren die Vampire jedoch schon durch den Korridor und zu Polidoris Zimmer gestürmt. Er hatte meinen Rat befolgt und sich in einem anderen zur Ruhe begeben - nicht, dass das am Ende einen Unterschied gemacht hätte.«
»Ich verstehe. Du bist wirklich einfallsreich, wenn es darum geht, Gefahren zu umgehen.«
»Und damit meine kostbare Haut zu retten.« Er sagte die Worte leichthin, doch in seinen Augen lag leise Verärgerung. »Ich werde mich nun um diesen Schlamassel hier kümmern, und vielleicht kann deine Zofe die Wunde an deinem Bein versorgen … Es sei denn, du würdest sie lieber geheim halten und gestatten, dass ich mich ihrer annehme.«
»Meine Zofe schafft das schon, vielen Dank.« Victoria hörte die Heiserkeit in ihrer Stimme und erkannte, dass es vernünftiger wäre, sich ein Stück von Sebastian zu entfernen. Er hatte auf sie die unselige Wirkung, dass ihr Herzschlag sich beschleunigte und ihre Nerven vibrierten. Besonders, nachdem sie gesehen hatte, wie er im Kampf gegen den Imperialvampir mit dem Schwert umgegangen war. Sie war zwar abgelenkt gewesen, aber trotzdem war ihr die Kraft und Anmut seiner Bewegungen nicht entgangen.
»Siehst du... jetzt benehme ich mich selbst berechenbar. In deiner Nähe scheine ich einfach nicht dagegen anzukommen, Victoria.«
Der Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er darüber alles andere als glücklich war.

»Wann«, ächzte Victoria, während sie ihr Bein kreisen ließ und es gegen den dick gepolsterten Schild ihres Ausbilders schmetterte, »werden Sie mich endlich im qinggong unterrichten?« Ihr Kraftmoment ließ nicht nach, als sie auf ihn zustürzte und einen Fausthieb auf Brusthöhe folgen ließ.
Kritanu war jedoch viel zu behände, und so duckte er sich weg, bevor er ihren Angriff anschließend mit einem mächtigen Tritt parierte. »Sie müssen zuerst dieses kalaripayattu mit dem Schwert beherrschen, bevor ich Ihnen beibringe, durch die Luft zu gleiten und im Kampf zu springen«, erwiderte er. »Das war übrigens gerade ein sehr durchsichtiges Manöver.«
Kritanu war einer der Komitatoren: Ein Kampfkunstexperte, der als Beschützer, Assistent und nicht zuletzt als Trainer des jeweiligen Venators, dem sie zur Seite gestellt waren, diente. Er begleitete Eustacia schon seit Jahrzehnten und fungierte inzwischen auch als Victorias Mentor.
Victoria, die blitzschnell zur Seite ausgewichen war, um dem Schlag zu entgehen, war mehr als nur ein bisschen ungehalten, dass er es schaffte, mühelos einen ganzen, langen Satz zu sprechen, während sie selbst heftig keuchte und ächzte. Der Mann war über siebzig, sie selbst erst zwanzig. Und sie trug noch nicht einmal ein Korsett, wenngleich ihre Brüste flach an den Körper gebunden waren.
Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie nicht für berechenbar gehalten werden wollte... weder von einem Kampfgegner noch von diversen geheimnisvollen, faszinierenden Männern.
»Und wann werden wir dann endlich anfangen, mit dem Schwert zu üben?«, fragte sie und hämmerte dabei in schnellem Stakkato mit den Fäusten gegen seine Brust.
Eustacia und sie waren am Vortag von Claythorne zurückgekehrt, und Victoria hatte auf einer dringend erforderlichen Trainingseinheit mit Kritanu gleich am nächsten Tag bestanden. Wäre sie schneller, stärker, besser vorbereitet gewesen, hätte ihr das vielleicht die vier dünnen Kratzer am Hals, wo der Wächter begonnen hatte, seine Fangzähne in ihrem Fleisch zu vergraben, erspart... ebenso wie das schmerzende Handgelenk und den tiefen Schnitt an Hüfte und Oberschenkel, die sie dem Imperialvampir verdankte.
Natürlich hatten die Verletzungen schon zu heilen begonnen. In einer Woche würden sie nichts weiter sein als verblasste Narben. Aber ganz allein einem Imperialen gegenüberzutreten - trotz Sebastians Anwesenheit war sie im Grunde völlig auf sich allein gestellt gewesen -, hatte ihr bewusst gemacht, wie viel sie noch zu lernen hatte. Und wie viel sie das Jahr Pause gekostet hatte.
»Wir werden morgen mit dem Schwertkampf beginnen«, versprach er. Erfreut stellte sie fest, dass seine Worte dieses Mal etwas abgehackter klangen.
»Gut.« Sie unterstrich ihre Befriedigung mit einem gezielten Kick, gefolgt von einem niedrigen Schlag gegen seinen Solarplexus.
Kritanu ließ hinter dem Schild ein leises Hmpf hören und beugte sich vornüber. Doch als er anschließend wieder hochsah, lächelte er. »Das war nicht vorhersehbar.« Dann wandte er den Blick zur Tür und verstummte.
Victoria drehte sich nun ebenfalls um und sah ihre Tante dort stehen.
»Sehr gut, cara«, lobte Eustacia mit einem Nicken. »Es ist schwierig, Kritanu zu überrumpeln, so wie du es eben getan hast. Vero, ich versuche das schon seit Jahren. Also, ihr beiden, Wayren ist gerade eingetroffen. Werdet ihr uns im Salon Gesellschaft leisten?«
Wayren war eine hochgewachsene, schlanke Frau, die Victoria stets an eine Dame aus dem Mittelalter erinnerte. Sie trug ihr blondes Haar offen, sodass es ihr in sanften Wellen über die Schultern fast bis zur Taille fiel. Die beiden Male, als Victoria ihr bisher begegnet war, hatte sie dasselbe unmoderne Kleid getragen: ein langes, mit einer kompliziert geflochtenen Hanfkordel lose gegürtetes Gewand, dessen Schleppenärmel ihr beinahe bis zu den Knien reichten. Das Leinen war cremefarben, so als wäre es nach dem Weben weder gefärbt noch gebleicht worden.
Sie stand auf, als Victoria in den Raum trat, und schloss sie zu deren Überraschung sanft und doch fest in die Arme. »Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen, meine Liebe. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem großartigen Erfolg in Bezug auf das Buch des Antwartha. Max ließ mich wissen, dass der Ausgang der Geschichte Ihnen zu verdanken ist.« Wayren, deren Alter nicht bestimmbar war, die jedoch älter als Victoria und jünger als Eustacia zu sein schien, war von derart grazilem Körperbau, dass Victoria die Kraft ihrer Umarmung erstaunte. »Vor allem aber möchte ich Ihnen sagen, wie unendlich leid mir die Sache mit Phillip tut.«
Victoria wusste wenig mehr über Wayren, als dass sie und Eustacia sich seit langer Zeit kannten und vertrauten. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, dass es sie nicht überraschen würde zu erfahren, dass Wayren einer Nymphe gleich in irgendeinem tiefen Wald lebte.
»Dieses Leben, das wir teilen, ist schon schwer genug, auch ohne dass wir wegen ihm einen geliebten Menschen verlieren.« Wayren gab Victoria frei, ließ jedoch die Hände auf ihren Schultern und sah ihr für einen Moment prüfend ins Gesicht, als wollte sie Victorias Emotionen ausloten. Ihre Augen waren von einem hellen Blaugrau, und als ihr Blick Victoria gefangen nahm, fühlte diese sich ruhig und getröstet - sie spürte, dass Wayren sich wirklich um sie sorgte.
Schließlich ließ die Frau sie los und bedeutete ihr mit einem liebevollen Lächeln, auf dem Sofa Platz zu nehmen.Victoria wandte sich schüchtern ab, verblüfft darüber, wie sehr sie Wayrens warme Begrüßung bewegte, obwohl sie sie kaum kannte.
Eustacia, die ihren gewohnten Platz eingenommen hatte zwischen dem Chippendale-Tisch und dem Lehnsessel, in dem Kritanu saß, ergriff nun das Wort, als würde sie eine Ratssitzung eröffnen. »Ich habe Wayren von den Ereignissen auf Claythorne berichtet, und dass es uns mithilfe von Sebastian Vioget gelungen ist, die Umstände von Polidoris Tod vor den anderen Hausgästen zu verbergen. Einige werden sagen, er sei durch Gift gestorben, andere werden von einem Unfall sprechen. Die widersprüchlichen Versionen sowie das Auslöschen der Erinnerungen aller Anwesenden werden verhindern, dass irgendjemand Genaueres über die Tragödie erfährt.Victoria, würdest du Wayren bitte erklären, was Sebastian herausgefunden hat?« Eustacia hob ihre erlesene Teetasse und nippte daran. »Ich habe ihr bereits von dem Amulett erzählt und wie du im Silberkelch darauf gestoßen bist.«
»Als Sebastian sich um Polidoris Leichnam kümmerte, entdeckte er eine kleine Ledermappe voller Papiere. Es waren Notizen über die Tutela und ihren Anführer Nedas. Sebastian hatte mir zu diesem Zeitpunkt bereits gesagt, dass das Amulett ein neues Symbol für die Wiedergeburt der Tutela sei, was vermutlich der Grund war, weshalb Tante Eustacia es nicht erkannte.«
Wayren sah Kritanu an. »Wie immer hatten Sie den richtigen Instinkt. Ich erhielt von Eustacia die Nachricht, dass Sie den Hund auf dem Amulett mit den hantu saburos in Zusammenhang gebracht hatten, wenn auch nicht mit der Tutela selbst. Aber natürlich sind die hantu saburos Vampire, die Hunde darauf trainieren, dass sie ihnen Menschen bringen, von denen sie sich dann ernähren können... Und was ist die Tutela anderes als ein Rudel Sterblicher, die von Nedas und seinen Anhängern wie Hunde abgerichtet wurden?«, erklärte sie angewidert. »Ein überaus passendes Symbol, dessen Bedeutung den Mitgliedern, die es tragen, vermutlich nicht mehr bekannt sein dürfte... wohingegen wir alle es nun ohne jeden Zweifel identifizieren können.«
Kritanu neigte zum Dank für ihr Kompliment den Kopf, dann wandte er sich Victoria zu, um die Aufmerksamkeit zurück zum Thema und weg von sich selbst zu lenken. »Die Notizen?«
»Offensichtlich geschieht diese Wiederbelebung der Tutela unter der Führung des Vampirs Nedas, bei dem es sich Sebastian zufolge um Liliths Sohn handelt.«
»Aber ja!« Eustacia warf die Hände in die Luft. »Selbstverständlich. Liliths Sohn Nedas. Ich wusste, dass ich den Namen schon einmal gehört habe.«
»Wie kann sie einen Sohn haben?«, erkundigte sich Victoria. »Hat sie... sich fortgepflanzt?« Hitze stieg ihr ins Gesicht, aber sie hatte die Frage einfach stellen müssen. Es war wichtig, dass sie verstand.
»Nicht in diesem Fall, obwohl es für einen Vampir möglich, wenn auch nicht typisch ist, sich fortzupflanzen. Nein, ich glaube... Ich glaube, sie machte den Vater des Jungen vor ein paar Jahrhunderten zu ihresgleichen und hielt ihn sich als Geliebten. Er hatte damals eine Ehefrau, die Lilith nicht am Leben ließ, und mit dieser ein Kind. Lilith zog den Jungen bei sich groß, und sobald er das entsprechende Alter erreicht hatte, machte sie ihn ebenfalls zu einem Vampir und nennt ihn seither ihren Sohn. Sie hat ihn natürlich mit großer Macht ausgestattet, die ihrer eigenen nicht unähnlich ist.«
Da ihre Frage nun beantwortet war, fuhr Victoria fort: »Polidoris Aufzeichnungen zufolge hat Nedas etwas in seine Gewalt gebracht, das man als Akvans Obelisk bezeichnet und das eine Bedrohung darstellt, vor der Polidori sich so sehr fürchtete, dass er Italien verließ.«Victoria warfWayren einen entschuldigenden Blick zu. »Seine Notizen waren ziemlich schwer zu entziffern und über all die verschiedenen Papierschnipsel verteilt, so als hätte er sie niedergeschrieben, wo er gerade Platz fand.«
»Die Tutela hat ihre Momente von Macht und Ruhm gehabt und solche der Schwäche und drohender Vernichtung. Es ist schon Jahrzehnte her, seit sie zuletzt eine tatsächliche Gefahr dargestellt hätte - das letzte Mal geschah das nach dem Vorfall in Österreich, als wir ihnen nach diesem schrecklichen Massaker Einhalt gebieten konnten«, erklärte Eustacia ruhig.
Wayren hatte aufmerksam zugehört und dabei ohne zu blinzeln die Kuppen ihrer Finger abwechselnd in ihre beiden Handflächen gepresst.Victoria bildete sich ein, sehen zu können, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf langsam und unaufhaltsam drehten, während sie nachdachte. Dann fasste die Frau in den großen Lederbeutel, den sie neben ihrem Stuhl auf den Boden gestellt hatte, kramte darin herum und zog schließlich ein dünnes, vergilbtes, gewelltes Manuskript hervor.
Die Ecken waren eingerissen, und es war schlicht mit einem Lederriemen, der durch eine Seite der Papiere gefädelt war, gebunden. Es war nicht dicker als ein Finger und vielleicht doppelt so groß wie eine Männerhand.Victoria sah dunkel eingeritzte Symbole und Schriftzeichen in einer Sprache, die sie von ihrem Blickwinkel aus nicht identifizieren konnte, vermutlich aber auch dann nicht hätte entziffern können, wenn sie direkt auf die Seiten gesehen hätte. Wie es schien, war Wayren mit der Gabe gesegnet, jede Sprache oder Hieroglyphe lesen zu können, die sie benötigte, während sich Victorias Kenntnisse auf Englisch, Italienisch und ein wenig Latein beschränkten.
Wayren blätterte vorsichtig durch die Seiten, überflog die Zeilen mit ihrem schlanken Finger, bevor sie einige Minuten später sagte: »Ah, ja. Ich dachte mir schon, dass ich es hier finden würde.« Sie sah auf. »Akvans Obelisk ist ein hoher, speerartiger Stein. Sobald er erst einmal aktiviert ist, verleiht er der Legende zufolge einem Dämon oder Vampir die Fähigkeit, die Seelen der Toten herbeizurufen und zu kontrollieren. Stellt euch eine solche Armee von Toten, nicht Vampiren, einmal vor, die noch nicht einmal menschliches Blut brauchen, um sich zu nähren; ein Heer von Leichen, die wie Marionetten an den Fäden ihrer Seelen geführt werden, zurückgerufen aus dem Jenseits auf die Erde. Es wäre verheerend für uns, gegen eine Streitmacht von solcher Stärke und Überzahl ankämpfen zu müssen.«
Sie blickte wieder auf das Manuskript und zog mit dem Finger sanfte Kreise um eine Abbildung. »Diesem Buch zufolge war Akvans Obelisk ein Geschenk des Bergdämons Akvan an seine Geliebte Millitka, die später in einen Vampir verwandelt wurde. In einem Anfall von Zorn - denn wie ihr wisst, sind Dämonen und Vampire in unsterblicher Feindschaft verbunden - nahm Akvan Millitka den Obelisken wieder weg und stieß ihn in seiner Rage in die Erde. Er drang so tief ein, dass niemand ihn je wieder finden konnte. Falls Polidori Recht hatte und es Nedas irgendwie gelungen ist, ihn an sich zu bringen, könnte es für uns schlimme Konsequenzen haben, wenn er ihn aktiviert.Vorausgesetzt, die Legende ist wahr.«
Die anderen blieben stumm, als Wayren sich wieder in das Buch vertiefte und weiterlas. »Es ist unmöglich, den Stein zu vernichten. Sobald er erst einmal aktiviert und in den Händen seines Meisters ist, ist er unfehlbar und unzerstörbar. Es erfordert mehrere Schritte, ihn in Kraft zu setzen, aber sobald das geschehen ist, gibt es kein Zurück mehr.«
»Akvans Obelisk ist also unzerstörbar... Aber was ist mit Nedas? Könnte man ihn töten?«, wollte Victoria wissen.
Wayrens Blick zuckte zu Eustacia, dann zurück zu Victoria. »Wenn man ihn tötete, würde das die Verbindung zwischen ihm und dem Obelisken durchtrennen... Doch es würde die Macht des Steins nicht mindern. Ein anderer könnte ihn anschließend von Neuem in Kraft setzen.«
»Trotzdem hast du Recht, cara. Nedas muss liquidiert werden. Wir müssen die Tutela infiltrieren, um ihn aufzuspüren und zu töten, bevor er mit der Aktivierung beginnt.«
»Nedas ist ein Vampir - ein Sohn Liliths, also ist er sehr mächtig. So viel konnten wir bisher in Erfahrung bringen. Allerdings wussten wir nicht, dass er Akvans Obelisken gefunden hat«, bemerkte Wayren.
»Wir?«, fragte Victoria, obwohl sie die Antwort bereits kannte. »Max und ich. Der Machtzuwachs der Tutela war einer der Gründe, warum er nach den Ereignissen des letzten Jahres so rasch nach Italien zurückgekehrt ist.«
»Also wird Max Nedas töten?«
Wieder wechselten Eustacia und Wayren einen Blick. Dieses Mal geschah es viel subtiler, doch Victoria war nicht grundlos ein Venator. Sie bemerkte es trotzdem. »Was ist los?«
»Kurz nachdem wir in Rom ankamen, begannen die von Lilith stammenden Bisse an Max’ Hals ihn mehr zu peinigen als sonst«, erwiderte Wayren. »Ihr wisst, dass diese Bisse nie verheilt sind, und das nutzt sie zu ihrem Vorteil - mehr als irgendetwas sonst wünscht sie sich, Max ganz unter ihrer Kontrolle zu haben. Er war immer in der Lage, dagegen anzukämpfen, aber es wurde schwieriger, seit sie ihn letztes Jahr, nachdem ihr das Buch des Antwartha gestohlen hattet, noch einmal gebissen hat.«
»Wo ist Lilith jetzt?« Victoria dachte an den schrecklichen Anblick zurück, als der starke Max hilflos unter dem Bann der Vampirkönigin gestanden hatte.
»Ich bin sicher, sie versteckt sich in ihrem Schlupfwinkel in den Bergen, irgendwo in den Muntii Fagaras in Rumänien. Sie ist dort, seit ihr sie letztes Jahr aus London vertrieben habt, und ich sehe keinen Grund zu der Annahme, dass sie ihr Versteck verlassen hat.«
»Was stimmt dann nicht mit Max?«
»Wie ich schon sagte, wurden seine Bisswunden immer schmerzhafter, und dann verschwand er plötzlich für mehrere Wochen. Ich weiß, dass er zurückgekehrt ist, denn ein anderer Venator, Zavier, hat ihn gesehen; doch dann wurde ich nach Paris gerufen und konnte nun schon seit mehr als acht Monaten keinen Kontakt mehr zu ihm aufnehmen.«
Victorias Kehle fühlte sich trocken an. »Was glauben Sie, was ist passiert?«
Wayren sah Eustacia an, dann wieder Victoria. »Ich weiß es nicht. Aber ich bin überzeugt, dass Lilith irgendwie involviert ist. Ihre Reichweite ist sehr groß, und selbst wenn sie nicht in Italien ist, hat sie dort trotzdem mächtigen Einfluss. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob Max noch am Leben ist.«