Kapitel 4
In welchem Verbena ihren Kopf
durchsetzt
War längst überfällig, Sie mal in’ner anderen
Farbe als Schwarz zu sehen«, bemerkte Verbena, während sie
Victorias Korsett schnürte. »Sie hätten schon vor sechs Monaten
Halbtrauer anlegen und dieses hübsche Perlgrau tragen können. Sogar
als alle Welt um Prinzessin Charlotte, Gott hab sie selig,
getrauert hat, sind sie nach’nem halben Jahr zu Grau übergegangen.
Aber das ham Sie ja nicht gewollt, und ich kann Ihnen das auch gar
nicht krummnehmen, nachdem Sie den Marquis auf so grässliche Art
verloren haben, aber trotzdem, Mylady, fehlen Ihrem Teint hübsche
Farben wie Gelb oder Pfirsich. Ihre Wangen könnten wirklich ein
bisschen was Lebhafteres vertragen.«
Victoria wusste, dass es keinen Sinn hatte,
ihrer Zofe zu widersprechen, wenn diese in Stimmung für eine
Predigt war. Fast schien es, als habe Verbena sich das alles die
letzten neun oder zehn Monate aufgespart und müsste ihre Meinung
jetzt kundtun, ganz gleich, was ihre Herrin vielleicht einzuwerfen
hatte.
»Ich muss schon sagen, ich bin rechtschaffen
froh, dass ich Sie dazu überredet hab, diese ganzen schwarzen
Gewänder daheimzulassen. Das hier ist eine Wochenendparty, und da
sollten Sie sich ein bisschen Spaß gönnen. Sie ham es sich
verdient, Mylady. Das ham Sie wirklich.« Ihr unmöglich orangerotes
Haar, das sie zu zwei widerspenstigen, faustgroßen Büscheln, eins
unter jedem
Ohr, zusammengebunden hatte, stand wie irgendein steifes Geflecht
von ihrem Kopf ab.
Ihre Blicke trafen sich im Spiegel - das eine
Paar Augen funkelnd und von einem gutmütigen Blau, das andere dicht
bewimpert, mandelförmig und ernst. »Aber ich bin froh«, fuhr
Verbena etwas sanfter fort, »dass Sie Ihre vis
bulla nicht zu Hause gelassen haben.Was würden wir ohne Sie und
die anderen Venatoren bloß tun?«
Verbena, deren Cousin Barth der
Droschkenkutscher war, hatte Victorias Vampirjäger-Amulett sofort
erkannt, nachdem diese vor etwas mehr als einem Jahr begonnen
hatte, es zu tragen. Wie sie von Vampiren und Venatoren wissen
konnte, obwohl der Rest Londons vollkommen ahnungslos war, verstand
Victoria bis heute nicht; aber auf jeden Fall machte es ihr Leben
leichter, dass ihre Zofe, die sich bestens darin auskannte, wie man
Vampirbisse behandelte, und keine Angst davor hatte, Orte wie den
Silberkelch zu besuchen, in ihr Geheimnis eingeweiht war. Eine Zofe
zu haben, die Einblick hatte in die intimsten Bereiche ihres Lebens
- besonders, wenn es sich darum handelte, sich nachts aus dem Haus
zu schleichen und Sachen zu tragen, die dem anderen Geschlecht
gehörten - war ein sehr glücklicher Umstand.
Victoria schüttelte den Kopf und atmete ein, was
etwas verhalten ausfiel, nachdem sie nun in ihr Korsett geschnürt
war. »Ich fühle mich besser, wenn ich die vis
bulla trage, so viel ist sicher. Trotzdem gehe ich nicht davon
aus, dass ich sie während meines Aufenthalts hier auf Claythorne
brauchen werde. Und ganz gewiss hätte ich nicht eingewilligt,
London zu verlassen, wenn Tante Eustacia mir nicht versichert
hätte, dass sie nach mir schicken lassen würde, sollten
irgendwelche Gefahren drohen. Ich habe außer dem einen Vampir, den
ich tötete, nur noch einen
einzigen gesehen, und seit jener Nacht, in der ich Mr. Starcasset
traf, keinerlei Hinweise auf weitere entdeckt.«
»Ihre Tante Eustacia ist schon eine wirklich
kluge Frau«, erwiderte Verbena, während sie sich vorsichtig durch
den Berg von Kleidern grub, um sie nicht zu zerknittern. »Aber
dieser Butler von ihr, dieser Charley, der versteht es wirklich,
den Mund zu halten. Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht
versucht hätte, ihm was zu entlocken, was da bei ihnen so vor sich
geht, aber der ist verschwiegen wie ein Grab. Und dann dieser
Freund von ihr, Mr. Maximilian Pesaro. Der ist schon ein
faszinierender Geselle, wenn ich mal so sagen darf. Entsetzlich gut
aussehend, auf eine düstere Art und Weise.« Sie erbebte. »Wenn ich
es nicht besser wüsste, würde ich fast glauben, dass er ein Vampir
ist; er hat das elegante, gefährliche Aussehen von einem.«
»Du bist nicht die Erste, die das von ihm
denkt«, erwiderte Victoria trocken. Sie stand auf, stieß sich von
dem hell gebeizten Frisiertisch ab und bereitete sich seelisch auf
die schwierige Aufgabe vor, sich Verbena zu widersetzen, die sie
für ihr erstes Abendessen auf Claythorne vermutlich in helles
Narzissengelb oder kräftiges Karmesinrot kleiden wollte. »Er ist
ein hervorragender Venator, so viel steht fest. Ich verstehe zwar
nicht, warum er schon so kurz nach Phillips Tod abgereist ist, aber
meiner Tante zufolge wurde er in Rom gebraucht. Obwohl es natürlich
nicht so war, als ob er hier nicht gebraucht worden wäre. Ich
denke, ich werde heute Abend das marineblaue Kleid anziehen,
Verbena.«
»Marineblau? Mylady, das
ist fast so schlimm wie Schwarz! Wäre das hübsche maulbeerfarbene
nicht besser? Sehen Sie nur, wie es Ihre Wangen rosa schimmern
lässt. Und dazu Ihr schwarzes Haar. Und es macht Ihre Wimpern
dunkler als Wildschweinborsten.
« Sie hielt ihrer Herrin das favorisierte Kleid entgegen. »Also,
dieser Mr. Pesaro hat Ihnen letzten Sommer ohne Frage geholfen, als
Sie Lilith daran hindern wollten, sich dieses besondere Buch zu
schnappen, auf das sie es abgesehen hatte.Vielleicht hat er
gemeint, dass er schon zu lange hier war und besser heimfahren
sollte.«
»Vielleicht«, stimmte Victoria zu, während sie
gleichzeitig überlegte, wie es wohl sein würde, wenn sie Max das
nächste Mal begegnete. Sie hatte das Gefühl, dass die
Feindseligkeit, die aller höflichen Nähe zum Trotz immer
unterschwellig da gewesen war, durch all die Geschehnisse
möglicherweise ein wenig nachgelassen hatte, auch wenn sie noch
immer verärgert war, dass er London so plötzlich verlassen
hatte.
Immerhin hatte sie miterlebt, wie der
eindrucksvolle Max unter Liliths hypnotischer Ausstrahlung in ihren
Bann geraten war und dabei eine Schwäche gezeigt hatte, die sie nie
bei ihm vermutet hätte... Und er wiederum hatte gesehen, wie
Victoria zu kämpfen gelernt und sich von einer durchschnittlichen
Debütantin zu einem erbitterten, mutigen Vampirjäger entwickelt
hatte.
Noch bevor sie es realisierte, flatterte das von
Verbena bevorzugte Kleid schon über Victorias Schultern, und der
Moment, in dem sie es noch hätte verhindern können, war
verstrichen. »Nicht das maulbeerfarbene!«, rief sie vergeblich aus.
»Das ist zu hell!«
Aber das Kleid war schon übergezogen und wurde
nun flink am Rücken zugeknöpft, während Victoria sich im Spiegel
musterte. Sie sah tatsächlich gut darin aus. Himmel noch mal, es
war schon mehr als ein Jahr her, dass sie sich auf diese Weise
gekleidet hatte, und Verbena hatte Recht: Die Farbe zauberte einen
zarten
rosa Schimmer auf ihre Wangen. Sie biss sich auf die Lippen, erst
oben, dann unten, und sie wurden so voll und rot, als wären sie
geküsst worden.
»Sehr hübsch, Mylady«, befand Verbena, die aus
einer Locke von Victorias Deckhaar gerade einen schmalen Zopf
flocht. »Sie brauchen sich wegen rein gar nichts schuldig zu
fühlen. Sie ham Ihren Ehemann betrauert, wie es sich gehört, und
auch wenn Sie ihn auf ewig lieben werden, müssen Sie sich an eins
erinnern: Sie sind noch hier und müssen Ihr Leben weiterleben.« Sie
war nun mit dem Zopf fertig und wand ihn um Victorias restliches
Haar, das am Hinterkopf hochgesteckt war.
»Ja, ich habe ein Leben. Und eine
Verpflichtung.« Victorias grünbraune Augen glänzten über ihren
geröteten Wangen.
Verbenas blaue Augen suchten wieder ihren Blick.
»Eine Verpflichtung, für die Sie bestens gerüstet sind.« Sie schob
die letzte Nadel in ihr Haar und lächelte zufrieden. »Aber das
heißt nicht, dass Sie wie eine Nonne leben müssen.«
Victoria nickte ihrem Spiegelbild zu, dann erhob
sie sich vom Stuhl. »Zeit, zum Abendessen
hinunterzugehen.Vielleicht werde ich mich ein wenig ablenken
können, bevor mich die Pflicht wieder nach London ruft.«
»Ich hoffe es für Sie, Mylady. Sie ham es sich
wirklich verdient.«
Victoria verließ ihr Zimmer im ersten Stock und
begab sich nach unten in den Salon, wo sich die Gäste vor dem Essen
versammeln würden. Sie war erst zwei Stunden zuvor angekommen,
sodass sie Gwendolyn nur kurz gesehen hatte, bevor sie sich zum
Umkleiden auf ihr Zimmer zurückziehen musste.
Als sie nun den großen Raum betrat, stellte sie
fest, dass sich schon einige der insgesamt elf Personen, die an dem
Dinner teilnehmen
würden, eingefunden hatten. Drei Gentlemen standen in der Nähe
einer der Wände, wo sie offensichtlich eine Flasche mit einer
goldenen Flüssigkeit in Geiselhaft genommen hatten. In einem von
ihnen erkannte Victoria Gwendolyns Vater, den Viscount Claythorne.
Er unterhielt sich gerade mit Baron Frontworthy, Gwendolyns
leidenschaftlichstem Verehrer.
»Victoria! Du siehst bezaubernd aus.« Ihre
Freundin stand unverzüglich auf und kam zu ihr. Dabei wurde sie von
einer älteren, eleganten Dame begleitet. »Darf ich dich mit meiner
Tante, Mrs. Manley, bekannt machen?«
Victoria knickste und sprach der Frau ein
Kompliment zu ihrem Kleid aus.
»Guten Abend, Lady Rockley.«
Victoria drehte sich zu George Starcassets
Stimme um. Er verneigte sich über ihrer dargebotenen Hand, und sie
vollführte einen kurzen Knicks. »Guten Abend, Mr. Starcasset. Ich
muss Ihnen noch einmal dafür danken, mich zu Ihrem Fest eingeladen
zu haben.«
»Gwendolyn und ich freuen uns sehr darüber, Sie
bei uns zu haben.« Lächelnd legte er ihre Hand auf seinen Arm.
»Darf ich Ihnen einen Sherry anbieten?«
»Das wäre wirklich reizend.« Victoria warf einen
Blick über die Schulter zu Gwendolyn, die über die Aufmerksamkeit
ihres Bruders nicht im Mindesten erstaunt schien.Vielmehr verrieten
ihr die blitzenden Augen ihrer Freundin, dass sie recht angetan war
von der Situation.
»Die anderen werden sich in Kürze zu uns
gesellen. Mr. Berkley und seine Schwester, Miss Berkley, die Sie
vielleicht kennen, zusammen mit Mr.Vandecourt. Und dann noch unser
anderer Gast«, fuhr Starcasset fort, während er ihr ein
tulpenförmiges
Glas überreichte. »Ich denke, es wird Ihnen gefallen, ihn kennen
zu lernen. Er ist eine echte Berühmtheit.«
»Eine Berühmtheit?« Victoria nippte an dem süßen
Getränk und sah dabei, den Kopf leicht zur Seite geneigt, zu
Gwendolyns Bruder hoch. Was für ein wundervolles Gefühl, nicht an
Vampire und Pflöcke denken zu müssen, nicht an Verlust und Trauer,
sondern nur an den attraktiven jungen Mann, der da vor ihr
stand.
»In der Tat. Dr. John Polidori, der
Schriftsteller.«
Victoria blinzelte. Nein, allem Anschein nach
bekam sie selbst hier keine Ruhe vor Vampiren.
Mr. Starcasset, der offensichtlich Verwirrung in
ihrer Miene zu lesen glaubte, erklärte: »Er schrieb das Buch
Der Vampyr. Es erschien in News Monthly unter Lord Byrons Namen, und erst
kürzlich kam heraus, dass Polidori der eigentliche Verfasser ist.
Es heißt, er habe die Vampirfigur des Lord Ruthven nach Byron
selbst angelegt!«
»Wirklich?«, murmelte Victoria. Es würde
interessant sein, sich mit Dr. Polidori zu unterhalten. Sie fragte
sich, ob er wohl je einem Vampir begegnet war. Eher
unwahrscheinlich, denn wenn dem so wäre, würde er keine
Liebesromane über sie schrei ben.
»Dr. Polidori und Mr.Vioget sind erst vor
wenigen Minuten eingetroffen und wollten sich rasch für das Dinner
umziehen. Wir werden auf sie warten, bevor wir uns in den
Speisesaal begeben. Lady Rockley, stimmt irgendetwas nicht?«
»Dr. Polidori ist nicht allein
angereist?«Victoria schaffte es, ihre Frage beiläufig klingen zu
lassen, aber was als kleiner Schluck Sherry gedacht gewesen war,
wurde zu einem ziemlich großen, sodass sie einen Hustenanfall
unterdrücken musste.
»Nein, er ist in Begleitung seines Freundes, Mr.
Sebastian Vioget, den er meines Wissens in Italien getroffen hat.
Polidori war dort bis vor kurzem mit Byron zusammen.«
»Italien? Ich verstehe.« Also war Sebastian
hier. Zusammen mit dem Autor eines Buches über Vampire. Wie absolut
unerwartet.
Victoria trank ihr Glas aus. Das letzte Mal,
dass sie Sebastian gesehen hatte, war nach einem höchst intimen
Intermezzo in seiner Kutsche gewesen - welches ein recht abruptes
Ende genommen hatte, als er sie einer Gruppe von Vampiren
auslieferte, die es auf ihr Blut abgesehen hatten.
Er hatte sie damals in jener Kutsche halb
entkleidet und eine Leidenschaft in ihr entfacht, die sie auch
jetzt noch erröten ließ, wenn sie daran zurückdachte. Er war
hocherfreut gewesen, zu erfahren, dass sie ihre Verlobung mit
Phillip gelöst hatte, und hatte versucht, jeden Vorteil aus ihrem
neuen, unverlobten Status zu ziehen... bis sie die Präsenz von
Vampiren gespürt hatte.
Da sie in seiner Kutsche und unter seiner
Federführung gefahren waren und Victoria darüber hinaus seit Wochen
keinen einzigen Vampir gesehen hatte, bis dann plötzlich diese drei
auftauchten, war in ihr der leise Verdacht erwacht, dass Sebastian
bei dem Vorfall die Hände im Spiel gehabt hatte. Er hatte es heftig
geleugnet und sie darauf hingewiesen, dass er ihr zuvor das Leben
gerettet hatte, wieso sollte er sie also jetzt in Gefahr
bringen...? Doch Victoria war nicht überzeugt gewesen.
»Er scheint ein sehr liebenswürdiger Gentleman
zu sein, wenn auch ein wenig schüchtern«, bemerkte Starcasset
gerade und neigte sich so nahe zu Victoria, dass ihr der Duft
seines Rasierbalsams in die Nase stieg.
»Mr.Vioget? Schüchtern?«
»Ich meinte vielmehr Dr. Polidori, wenngleich
auch Mr.Vioget überaus freundlich ist. Ah, da sind sie ja
schon.«
Starcasset ging auf die Tür zu, doch Victoria
blieb auf höchst ungehörige Weise mit dem Rücken zu den
Neuankömmlingen auf der anderen Seite des Salons stehen, wo sie
vorgab, ein Bouquet großer, violetter Lupinen zu bewundern. Sie
würde noch früh genug feststellen, ob Sebastian von ihrer
Anwesenheit ebenso überrascht war wie sie von seiner.
Hinter ihr wurden die anderen Gäste Dr. Polidori
und Monsieur Vioget, wie Sebastian sich selbst nannte, vorgestellt.
Beim vertrauten Klang seiner Stimme mit dem anziehenden Akzent
überfiel Victoria ein unbehagliches Kribbeln.
Und dann schließlich... »Dr. Polidori, Monsieur
Vioget, darf ich Ihnen nun die besondere Freundin meiner Schwester
vorstellen, Victoria de Lacy, die Marquise von Rockley.«
Victoria wandte sich zu den drei Männern um. »Es
ist mir ein großes Vergnügen, einen Gentleman von solch hohem
Ansehen kennen zu lernen, Dr. Polidori. Ihre Arbeit hat Ihnen ein
beachtliches Renommee eingetragen.« Sie reichte dem Mann mit dem
wirren, dunklen Schopf die Hand. Ein flüchtiger Blick zu Sebastian
verriet ihr, dass sie ihm gegenüber im Vorteil war. Nie zuvor hatte
sie einen Ausdruck solcher Fassungslosigkeit auf seinem hübschen
Gesicht gesehen. Es hätte komisch sein können, wäre sie nicht
ebenso entgeistert gewesen wie er.
»Madam, es ist mir eine große Freude, Ihre
Bekanntschaft zu machen. Und vielen Dank für Ihre liebenswürdigen
Worte.« Polidori verbeugte sich, dann ließ er ihre Hand los und
wandte sich von ihr ab, um ein Glas Brandy entgegenzunehmen und mit
dem Viscount über seine Anreise aus London zu plaudern.
»Monsieur Vioget«, begrüßte Victoria nun
Sebastian und bot
ihm ihre Hand an. Offensichtlich hatte er sich von seiner
Überraschung erholt, denn er ergriff sie galant, schloss die Finger
um ihre und führte sie an seine Lippen.
Das vergangene Jahr hatte ihn nicht verändert:
Er war noch immer untadelig und nach der neuesten Mode gekleidet;
das lohfarbene Haar lockte sich über dem hohen Kragen seines Hemds,
und um seinen Mund spielte wieder dieses oberflächlich charmante
Lächeln, in dem stets irgendeine verborgene Botschaft
mitzuschwingen schien.
»Darf ich Ihnen mein Beileid aussprechen, Lady
Rockley?«, sagte er, als er das Gesicht von ihrem Handschuh hob. Er
ließ ihre Finger durch seine gleiten, bevor er sie freigab, dann
sah er sie aufmerksam an. »Es tat mir sehr leid, von Ihrem Verlust
zu hören.«
In Anbetracht der Tatsache, wie schnell er
seinen Vorteil gesucht hatte, nachdem er von der Auflösung ihrer
Verlobung mit Phillip erfuhr, hielt Victoria das für eher
unwahrscheinlich. Aber da lag tatsächlich ein Hauch von
Verlegenheit in seiner Miene … Vielleicht war er zerknirscht wegen
der Ereignisse, die dazu geführt hatten, dass der Silberkelch in
Flammen aufging und Phillip und Max letzten Endes in Liliths Gewalt
gerieten. Allerdings war sie sich keineswegs sicher, ob er nun den
Verlust seines Lokals oder Phillips Tod bedauerte.
»Und mir tat es sehr leid, es durchleben zu
müssen«, gab sie kühl zurück, bevor sie sich mit einem warmen
Lächeln wieder Gwendolyns Bruder zuwandte. »Wer ist diese
bezaubernde Frau auf dem Gemälde über dem Kamin, Mr.
Starcasset?«
Froh, ihr zu Diensten sein zu dürfen, führte
Starcasset sie von den anderen Gästen weg und zu dem Porträt, das
ihr Interesse geweckt hatte.
Victoria hielt ihn während der nächsten Minuten,
in denen sie auf das Eintreffen der letzten Dinnergäste warteten,
bewusst in ein Gespräch verwickelt. Während sie fortfuhr, ihm
Fragen über dieses Bild, jene Vase oder die Statue auf dem Tisch
dort drüben zu stellen, behielt sie aus dem Augenwinkel Sebastian
im Blick.
Er beobachtete sie, ohne es sich anmerken zu
lassen, indem er jedes Mal, wenn er sein Glas hob, den Blick zu ihr
schweifen ließ. Anstelle des Fröstelns im Nacken, das sie
verspürte, wenn ein Vampir sie fixierte, nahm Victoria Sebastians
auf sie gerichtete Aufmerksamkeit als unaufhörliches Kribbeln
zwischen den Schulterblättern wahr. Es wurde begleitet von einem
ungewohnten Ziehen in ihrem Bauch. Sie und Sebastian hatten noch
eine Rechnung offen.
Als es an der Zeit war, in den Speisesaal zu
gehen, blieb Starcasset an ihrer Seite und geleitete sie zu einem
Stuhl zwischen seinem eigenen und Dr. Polidoris. Sebastian saß auf
der anderen Seite und am entlegenen Ende des Tisches neben Miss
Berkley und Gwendolyn.
»Ich hatte das Vergnügen, Ihr Buch zu lesen, Dr.
Polidori.« Victoria streifte die Handschuhe ab und legte sie
ordentlich gefaltet auf ihren Schoß. Sie hatte Der Vampyr schon gelesen, bevor sie ihre Berufung
zum Venator erhalten hatte. »Es ist recht einzigartig, da die
meisten anderen Geschichten über Vampire diese als durch und durch
verdorbene, minderwertige Kreaturen beschreiben, während Ihr
eleganter und charmanter Lord Ruthven mühelos seinen Platz in der
guten Gesellschaft finden könnte. Wie sind Sie eigentlich zu dieser
anderen Betrachtungsweise gelangt?«
»Tatsächlich war das Byrons Verschulden. Ich
besuchte ihn zusammen mit Shelley und dessen Frau in der Schweiz,
und sie dachte sich einen Wettstreit aus, bei dem jeder von uns
eine Geschichte
über ein übernatürliches oder monströses Wesen schreiben musste.
Byron versuchte sich ein wenig an dem Thema, dann ging er zu etwas
anderem über, doch da die Idee mein Interesse geweckt hatte,
beschloss ich, sie weiterzuverfolgen.« Polidoris Antwort war so
glatt, als hätte er sie schon viele Male gegeben. Sein Haar war
eine dichte Masse schwarzer Locken, die keine noch so große Menge
an Pomade bändigen konnte. Sie umrahmten sein rundes, jugendliches
Gesicht und kringelten sich in alle Richtungen. Doch trotz seiner
ungezwungenen Worte und Körperhaltung lag in seinen Augen eine
Wachsamkeit, so als wäre er über irgendetwas beunruhigt.
»Sie schreiben mit solcher Überzeugungskraft,
Dr. Polidori. Denken Sie, dass Vampire tatsächlich existieren? Dass
sie sich frei unter uns in der Gesellschaft bewegen? Könnte
irgendeiner der anwesenden Aristokraten in Wahrheit ein Vampir
sein?« Mrs. Manley, Gwendolyns Tante, die Polidori gegenübersaß,
wirkte reichlich entsetzt bei der Vorstellung, ein Vampir könnte
sich mit ihnen am Tisch befinden.
Victoria weigerte sich, mit Sebastian Blicke zu
tauschen, auch wenn er es versuchte. Sie hoffte wirklich für die
alte Dame, dass sie nie einem Vampir begegnen würde, ob nun in der
besseren Gesellschaft oder anderswo. »Es müsste schon ein
Aristokrat sein, der sein Gesicht nie bei Tage zeigt«, erklärte
Victoria lächelnd. »Dr. Polidori zufolge meiden sie das
Sonnenlicht. Falls sie sich ihm doch aussetzten, müssten sie wohl
eines grässlichen Todes sterben... Oder würden sie nur
Verbrennungen davontragen?«
»Ich glaube, dass sie schreckliche Verbrennungen
erleiden, aber sie würden vermutlich nicht sterben, es sei denn,
sie müssten sich übermäßig lange im Licht aufhalten.«
»Und was ist mit Feuer?«, fragte Victoria, die
gerade an den
letzten Sommer dachte, als sie und Max zusammen mit Vampiren in
einem brennenden Gebäude gefangen gewesen waren. »Würde sie das
ebenfalls verbrennen?«
Polidori wischte sich ein paar Krümel aus dem
Mundwinkel. »Die Flammen eines Feuers können einem Vampir nichts
anhaben, zumindest« - er lachte leise - »in meiner Vorstellung
nicht.«
Und in der Realität ebenso wenig. Victoria fand
es bemerkenswert, wie akkurat Polidoris Wissen über die
blutrünstigen Kreaturen war.
»Dr. Polidori ist vor kurzem aus Italien
zurückgekehrt.« Sebastians Bemerkung war an Miss Berkley
gerichtet.
»Italien? Dort bin ich nie gewesen, aber ich
habe gehört, dass Rom und Venedig sehr schöne Städte sein sollen.
Welchen Teil Italiens haben Sie denn bereist?«, fragte
Gwendolyn.
»Ich verbrachte viel Zeit in Venedig bei Byron,
bis sich unsere Wege dann vor ein paar Monaten trennten. Er war der
Meinung, die Dienste eines persönlichen Leibarztes nicht länger zu
benötigen«, fügte er mit einem selbstironischen Lächeln hinzu. »Ich
habe das ganze Land bereist, bevor ich kurz vor Jahresbeginn nach
London zurückkehrte.«
Victorias Aufmerksamkeit wurde von dem zum
Schriftsteller mutierten Arzt auf Starcasset gelenkt, als dieser
sich nah zu ihr neigte und sagte: »Ich verspreche Ihnen, Lady
Rockley, dass die Gentlemen die Damen nach dem Essen nicht lange
allein im Salon lassen werden. Ich hoffe, dass Sie mir auf eine
Partie Whist Gesellschaft leisten, denn meine Schwester nennt Sie
eine verteufelt gute Spielerin!«
»Tut sie das?«, erwiderte Victoria, während sie
sich zu erinnern versuchte, ob sie je mit Gwendolyn Whist gespielt
hatte. Sie hielt es für unwahrscheinlich, deshalb fragte sie sich
nun, ob Mr. Starcasset
sie möglicherweise mit einer anderen Dame verwechselte oder ob er
lediglich versuchte, eine Verbundenheit mit ihr herzustellen. Sie
unterdrückte ein Lächeln und sah ihn stattdessen unter bescheiden
gesenkten Lidern hervor an. »Es würde mich sehr freuen, Ihre
Partnerin beim Whist zu sein - allerdings nur, wenn Sie im Gegenzug
zustimmen, für uns zu singen, während Gwendolyn am Pianoforte
sitzt. Sie hat mir schon so oft von Ihrer schönen Stimme
erzählt!«
Er lächelte sie mit weißen Zähnen und einem
warmen Ausdruck in den Augen an. »Ich denke, ich muss Sie für diese
Übertreibung rügen, Madam, denn Gwendolyn erlaubt es ihren
Geschwistern nur selten, zu singen, während sie spielt... Aber ich
werde den Versuch gerne wagen, im Austausch gegen Ihr glückliches
Händchen beim Kartenspiel.«
Wie sich herausstellte, hielt Starcasset sein
Versprechen und ließ den Herren, nachdem man sich nach dem
Abendessen getrennt hatte, kaum dreißig Minuten, um sich an Brandy
und Zigarren gütlich zu tun, bevor er sie zurück zu den Damen in
den Salon brachte. Es folgte eine lebhafte Runde Whist, bei der er
und Victoria Partner gegen Miss Berkley und Mr.Vandecourt
waren.
Victoria, die entgegen Starcassets Behauptung
nicht gerade berühmt war für ihr meisterliches Kartenspiel,
schaffte es, sich nicht zu blamieren... selbst als Sebastian hinter
ihr auftauchte und über ihre Schulter spähte, so als wollte er
feststellen, ob ihr mittelmäßiges Spiel auf schlechte Karten oder
mangelndes Können zurückzuführen war.
Es war durchaus auch möglich, dass er die
Gelegenheit nutzte, in das Mieder ihres Kleides zu linsen, denn er
stand eine ganze Weile hinter ihr; andererseits wusste er bereits,
was genau es verbarg,
deshalb bezweifelte sie eigentlich, dass er ganz so lange hätte starren müssen.
Victoria merkte, dass sie rot wurde bei der
Erinnerung, wie der Mann hinter ihr - der dem äußeren Anschein nach
ein Fremder für sie war - tatsächlich seine langgliedrigen Finger
auf ihrer Haut gehabt hatte. Und sie hatte es zugelassen.
»Ich denke, ich habe für heute genug Whist
gespielt«, erklärte sie ruhig, nachdem die letzte Runde der zweiten
Partie zu Ende war. »Vielleicht werden Gwendolyn und ihr Bruder uns
nun ein wenig auf dem Pianoforte unterhalten.«
Die Geschwister Starcasset beugten sich ihrem
Wunsch, und wenig später gingen ihre reizenden Duette in flottere
Volkslieder über. Die anderen stimmten in den Gesang mit ein,
tranken mehr Brandy und Sherry, und bald schon waren Gwendolyns
Wangen zart gerötet, während Miss Berkley Sebastian unübersehbar
schöne Augen machte und Victorias Stimmung heiterer war als seit
Monaten.
Aber als sie sah, wie Mr.Vandecourt es sich
neben Gwendolyn bequem machte und ihr eifrig dabei half, die
Kissen, auf denen sie saß, neu zu arrangieren, während er sie mit
einem warmen Ausdruck in den Augen anblickte, überrollte Victoria
eine Welle der Einsamkeit. Genau so war Phillip gewesen. So
freundlich, so aufmerksam, so attraktiv... Sie hatte ihn viel zu
früh verloren.
Selbst im Fall, dass sie diese Trauer irgendwann
verarbeiten könnte, die sie hinterrücks überfiel und ihr den Hals
zuschnürte, wenn sie es am wenigsten erwartete, wenn sie glaubte,
sie unter Kontrolle zu haben, würde sie nicht daran denken können,
einen neuen Ehemann zu finden oder Kinder zu haben. Sie würde
niemals wie Gwendolyn sein können, die glücklich verliebt war, eine
Familie gründen wollte, sich auf die nächste Saison freute.
Dies war das Leben, das sie gewählt hatte, und
Victoria war nicht verbittert darüber. Sie hatte es aus den
richtigen Gründen getan, und die Freiheit, die es ihr bot, die
Dinge, die sie lernte, die Fähigkeit, sich auf sich selbst
verlassen und sich selbst schützen zu können, waren Entschädigung
genug.
Aber es gab Zeiten, so wie jetzt, während sie
ihre glückliche Freundin betrachtete, in denen ihr bewusst wurde,
welch großes Opfer sie gebracht hatte.
»Lady Rockley, ist Ihnen nicht wohl?«,
erkundigte sich George Starcasset, der vom Pianoforte aufgestanden
und an ihre Seite getreten war. »Möchten Sie vielleicht auf die
Veranda gehen, um etwas frische Luft zu schnappen? Sie wirken ein
wenig erhitzt.«
»Nein danke, Sir. Ich fürchte, ich bin einfach
erschöpft von der Reise. Ich sollte mich jetzt lieber entschuldigen
und mich auf mein Zimmer zurückziehen.«
»Natürlich.Vielleicht fühlen Sie sich morgen
früh besser. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.«
Victoria verabschiedete sich von den anderen,
dann verließ sie das Fest, das noch immer in vollem Gange war. Das
Letzte, was sie bemerkte, waren Miss Berkley und Sebastian, die in
trauter Zweisamkeit in der Ecke bei den Whist-Karten saßen, und Mr.
Starcassets sanfte blaue Augen, die beobachteten, wie sie
hinausging.
Zurück auf ihrem Zimmer half Verbena ihr, sich
bettfertig zu machen. Sie schien die nachdenkliche Stimmung ihrer
Herrin nicht zu bemerken, sondern füllte die Stille mit munteren
Beobachtungen über die männliche Spezies der Claythorne’schen
Dienerschaft. Einer davon schien es ihr besonders angetan zu haben,
und so erging sich Verbena während der ganzen Zeit, die es dauerte,
die Nadeln aus Victorias Haar zu entfernen, es auszukämmen
und zu einem handgelenkdicken Zopf zu flechten, in romantischen
Schwärmereien über den Hilfsbutler.
»Das wäre alles für heute.«Victoria schlüpfte
unter die Decken. »Nun fort mit dir, und sieh zu, dass du den
eindrucksvollen John Golon irgendwo aufspürst, um ihn ein wenig mit
den Wimpern anzuklimpern.«
Obwohl sie sich relativ früh von dem geselligen
Beisammensein zurückgezogen hatte, glaubte Victoria nicht, leicht
in den Schlaf finden zu können. Doch das Nächste, das sie bewusst
wahrnahm, war, dass sie von einem plötzlichen Absenken der Matratze
geweckt wurde.
Dann war sie hellwach, als sie die Bewegungen
eines großen Körpers neben ihrem bemerkte und Hände, die nach ihr
tasteten.
»Lady Rockley.Vi’toria.«
Zusammen mit ihrem leise gemurmelten Namen wehte
ein alkoholischer Dunst zu ihr herüber. Er war so stark, dass
Victoria den Kopf wegdrehte und den Atem anhielt. Eine Hand strich
über ihr Gesicht, eine andere über ihren Arm... beunruhigend nahe
an ihrem Busen.
»Mr. Starcasset? Was tun Sie hier?« Sie entzog
sich ihm, glitt aus dem Bett und zündete eine Kerze an. Im Schein
der Flamme sah Victoria, wie der Mann zwischen den Laken
herumwühlte, bevor er das Gesicht hob und sie mit glasigen Augen
anstierte.
»V’toria... wenn ich Sie so n-nennen darf«,
stotterte er und ließ die Silben in einem seltsamen Rhythmus
ineinanderfließen. »Ich wusste es... Ich hab die Zeichen
erkannt...«
»Mr. Starcasset, ich habe zwar keine Ahnung,
wovon Sie sprechen, aber ich fürchte, hier liegt ein Irrtum vor.«
Victoria musste fast lachen über den verträumten, ernsthaften
Ausdruck auf seinen Zügen. Vielleicht hätte sie sich beleidigt
fühlen sollen von
dem unangemessenen Verhalten des Mannes, aber im Moment wirkte er
derart harmlos und benebelt, dass sie das Ganze eher amüsant fand.
Der überaus tugendhafte George Starcasset wäre entsetzt, wenn er
wüsste, dass sein betrunkenes Ich ihn mitten in der Nacht in das
Schlafzimmer einer Dame geführt hatte.
Andererseits war so etwas ein typisches
Vorkommnis für eine Wochenendgesellschaft wie diese. Victoria
machte sich keine Illusionen über den Zweck derartiger
Festlichkeiten, die auf einem Landgut abgehalten wurden - sie waren
oft die perfekte Gelegenheit für heimliche Stelldicheins. Aber aus
irgendeinem Grund konnte sie sich George Starcasset einfach nicht
als jemanden vorstellen, der auf der Suche nach einem romantischen
Tête à-tête heimlich durchs Haus schlich.
Es schien eher so, als hätte er eine übergroße
Menge Kognak genossen, nachdem sie nach oben gegangen
war.Vielleicht hatte er sich Mut antrinken wollen... Oder er hatte
einfach zu viele Partien Whist gespielt.
Oder vielleicht hatte er sich auf dem Weg zu
seinem Zimmer verlaufen.Victoria unterdrückte ein leises
Lachen.
Es blieb ihr nichts anderes übrig - sie musste
ihn aus ihrem Zimmer schaffen und zu seinem bringen... oder
zumindest in einen anderen Teil des Hauses.
Ein rascher Blick nach unten erinnerte sie
daran, dass es sich nicht gerade schickte, nur mit einem Nachthemd
bekleidet, das aus wenig mehr bestand als aus französischer Seide
und Spitze, in einem fremden Haus herumzustreunen. Sie musterte
kurz ihren nächtlichen Besucher, der es sich in ihren Kissen
gemütlich gemacht hatte, dann zog sie eine Pelerine aus der
Garderobe, steckte die Arme hindurch und schloss die drei Knöpfe
fest über ihrem Mieder. Sie musste die weiten Ärmel ihres
Nachthemds
festhalten, um sie unter den schmaler geschnittenen des Capes zu
verbergen, ohne dass sie sich aufbauschten. Der Schnitt des
Kleidungsstücks war nicht gerade dazu geeignet, den langen Rock
ihres Nachtgewands zu verhüllen, aber zumindest bedeckte es ihr
Dekolleté. Sie holte sich ein paar Pantoffeln, schlüpfte hinein,
dann kehrte sie zum Bett zurück.
»Kommen Sie, lieber Mr. Starcasset. Nun, ich
nehme an, nach dieser Sache hier kann ich Sie George nennen...
zumindest für heute Abend.« Kichernd zerrte sie ihn vom Bett. Dank
ihrer au ßergewöhnlichen Kraft fiel es ihr nicht schwer, ihn auf
die Füße zu ziehen und ihm einen Arm um die Taille zu legen. Er
verlor die Kontrolle über seine Augen; er fokussierte sie auf sie,
dann rollten sie plötzlich nach hinten... anschließend zurück nach
vorn, um sie erneut anzusehen.
Es würde nicht mehr lange dauern, bis er
einschlief, deshalb musste sie sich beeilen, ihn hier wegzubringen.
Sie wollte sich das Entsetzen auf seinem Gesicht gar nicht erst
vorstellen, wenn er am Morgen erwachte und feststellte, dass er in
ihrem Zimmer war.
Über diesen Gedanken lächelnd, führte Victoria
ihn zur Tür und hinaus auf den Gang. In einer Hand hielt sie die
Kerze, mit dem anderen Arm schob und zog sie ihn mit sich.
Er war ein Stück größer als sie, und sein Kopf
begann schlaff zur Seite zu hängen. Plötzlich wurde Victoria
bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wo sich sein Zimmer befand
oder auch nur, in welchem Flügel des Hauses es liegen mochte. Also
entschied sie sich für die sicherste und einfachste Lösung: die
Bibliothek direkt ein Stockwerk tiefer.
Humpf, humpf, humpf...
Sie führte ihn die sechzehn Stufen hinunter, doch als sie unten
ankamen, musste sie ihn das letzte
Stück hinter sich her ziehen, da er den Kampf mit seinen Augen und
seinem Hals inzwischen verloren hatte. Sein herabhängender Kopf
wippte sanft, die Augen waren geschlossen, und die Lider zuckten,
als ob er gerade träumte. Das hellblonde Haar fiel ihm in dichten
Strähnen über die Schläfen, und sein Mund stand ein wenig
offen.Vermutlich nicht die Art, wie er von mir gesehen werden
möchte, dachte Victoria und lächelte wieder, dankbar dafür, dass er
sich am nächsten Morgen wahrscheinlich nicht an viel des
Geschehenen würde erinnern können.Wenn sie also nichts sagte, wäre
seine Ehre damit gerettet.
Sie betrat die Bibliothek, die zum Glück zu den
Räumen gehörte, die Gwendolyn ihr am Nachmittag gezeigt hatte,
setzte George in einem großen Lehnsessel neben einem sanft
prasselnden Feuer ab, dann brachte sie den Kragen ihrer Pelerine
wieder in Ordnung.
Etwas glitzerte auf dem Fußboden; fast hätte sie
es übersehen, aber der Schein ihrer Kerze war zufällig darüber
hinweggestrichen. Einer von Georges Knöpfen vielleicht? Victoria
bückte sich und hob den Gegenstand von dem groben Wollteppich auf,
als sie unvermittelt aufkeuchte.
Nein, kein Knopf.
Das runde Amulett war aus Bronze und mit der
Darstellung eines geschmeidigen Hundes verziert. Es war identisch
mit jenem, das sie im Silberkelch entdeckt hatte.