Kapitel 26
Ein Fall von Personenverwechslung
V ictoria wandte sich von Max’ Blick ab und legte die Hand an die Tür, um sie zu entriegeln. Das Schwert baumelte noch immer in ihren tauben Fingern.
Sie war außer Atem, schwach und zittrig, aber das alles wurde von einem Gefühl der Befriedigung überlagert. Sie hatte den Vampirprinzen ohne ihre vis bulla getötet, hatte nichts weiter benutzt als ihre geringe weibliche Körperkraft, ihren wachen Verstand - und das, was Kritanu bestimmt als die unberechenbarste Kampfbewegung, die sie je ausgeführt hatte, bezeichnet hätte.
Befriedigung, ja, und ob sie sie verspürte.
Doch als sie Max ansah, verpuffte sie zu einem Chaos von Emotionen: Übelkeit, Trauer und Schock.
Sie wusste, dass er den Zorn bemerkte, der noch immer in ihren Augen brannte. Wusste, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie ihm begegnen, was sie von ihm halten sollte. Wie könnte sie auch? Er hatte ein Jahr lang innerhalb der Tutela gelebt und derart überzeugend vorgetäuscht, einer von ihnen zu sein, dass selbst sie an seiner Loyalität gezweifelt hatte... Doch am Ende hatte er den Obelisken zerstört und sie damit alle gerettet.
Alle außer Tante Eustacia. Würde sie ihm das je verzeihen können?
»Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?«
Seine Worte - nicht die demütigen, die sie erwartet hatte - verblüfften sie, aber als sie nun wieder zu ihm hochblickte, ließ die unbändige Wut in seinen dunklen Augen sie einen Schritt zurückweichen.
Er war zornig auf sie?
»Ich habe dir dein elendes Leben gerettet!«, blaffte sie zurück. »Du hast den Obelisken zerstört, und ich wollte -«
»Du wolltest? Ja, es ging mal wieder nur um dich, nicht wahr?«, knurrte er. »Du hast an nichts anderes gedacht, als an das, was du wolltest. Rache - an mir, an Nedas, an jedem, der sich dir in den Weg stellte. Ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass du momentan hilflos bist wie ein Kind, dass ich meinen verfluchten Hals riskiert habe, um dich in Sicherheit zu bringen, und dabei fast meine einzige Chance, Nedas zu stoppen, vertan hätte.Wenn du das hier nicht überlebst, wird alles, was wir heute Nacht erreicht haben, in Gefahr sein.«
Groß und bedrohlich ragte er vor ihr auf; das dunkle Haar hing ihm ins Gesicht, die blutunterlaufenen Augen blitzten zornig, die Hände hatte er gegen die Wand gestemmt, so als müsste er sich beherrschen, sie nicht zu erwürgen. »Du bist jetzt Illa Gardella, Victoria. Du hast eine Verpflichtung gegenüber dem Konsilium und dem Rest der Venatoren. Du darfst nicht länger nur an dich selbst denken, an deine Bedürfnisse und Wünsche, sondern musst dein Hauptaugenmerk auf die weitreichenden Konsequenzen deines Handelns richten. Oder Nichthandelns.« Als nun erneut Rufe und stürmische Schritte laut wurden, trat er ein Stück zurück. »Es wird Zeit, dass du lernst, ein Opfer zu bringen.«
»So wie meine Tante ein Opfer gebracht hat?«, spie Victoria ihm entgegen, überrollt von einer Welle der Wut und Trauer, die sie schwächte und desorientierte. Feindseligkeit brannte in ihr. »Du hast diese Entscheidung für sie getroffen, Max. Ich hingegen traf die Entscheidung, dir das Leben zu retten, anstatt dich dort drinnen sterben zu lassen.«
»Wodurch du mich dazu zwingst, mit dem zu leben, was ich verbrochen habe. Du hast weder mir noch dem Konsilium einen Gefallen getan.«
»Warum hast du mir nichts von deinem Plan, den Obelisken zu zerstören, verraten?«
»Hmm. Könnte es daran liegen, dass du entweder zu wissen verlangt hättest, auf welche Weise, und zwar bis ins kleinste Detail, um anschließend darauf zu bestehen, mir zu helfen, oder mir wahlweise gar nicht geglaubt hättest? Ich habe dir auf jede erdenkliche Art gesagt, dass du abreisen musst, aber wie es scheint, hat selbst unverblümte Grobheit nichts genützt.«
»Also hast du mich von Sebastian entführen lassen. Warum hast du mich nicht eingeweiht, als du kamst, um mich zu befreien? Da hättest du es mir doch sagen können.«
»Ja, und du wärst dann einfach gegangen, oder? Du wärst mit dem Pflock und der Pistole wie ein braves Mädchen zur Tür hinausspaziert, und das wäre es dann gewesen.«
»Wie du siehst, habe ich es auch so nicht getan. Du hättest mir mehr sagen müssen, als du zu mir kamst.«
»Victoria, sie haben nur auf irgendein Indiz, irgendeine falsche Bewegung von mir gewartet, um einen Grund zu haben, mir nicht zu vertrauen. Ich durfte nicht riskieren, dass sie glaubten, irgendetwas anderes wäre im Gange... etwas anderes als die Tatsache, dass ich deinen Tod nicht wollte.Warum auch immer«, fügte er mit schneidender Stimme hinzu. »Ich ließ sie in dem Glauben, denn es war besser als die Alternative. Ich hatte sogar den Verdacht, dass sie mir absichtlich die Gelegenheit gaben, dich zu befreien, in der Hoffnung, dass ich dir etwas sagen könnte, das ihren Argwohn bestätigte. Ich wagte es nicht. Das Risiko war zu groß.«
Die Vampire hatten sie beinahe eingeholt. Sie durften hier keine Zeit mehr vertrödeln. Draußen würde sie entweder der Sonnenaufgang oder Sternenlicht erwarten, sichere Freiheit oder weitere Flucht.Victoria schob den Riegel zurück.
Die Tür flog auf, und dahinter herrschte tiefste Nacht. Wie ein mit Diamanten besetzter Schal breiteten sich die Sterne über den Himmel, ein Anblick, den Victoria normalerweise schön, in dieser Nacht jedoch enttäuschend fand. Sie hatte auf Rosa- und Orangetöne gehofft.
Max versetzte ihr einen Schubs, sodass sie nach draußen stolperte und auf der ausgetretenen Erde jenseits der Tür landete. Sie hörte sie hinter sich ins Schloss fallen und drehte sich auf dem Boden kauernd um.
Aber nein, er war da, stand hinter ihr und starrte an ihr vorbei. Reglos. Keuchend und noch immer das Schwert umklammernd, drehte Victoria sich auf den Knien wieder nach vorn. Ein Paar Stiefel trat aus der Dunkelheit und blieb vor ihr stehen.
Sie hob den Kopf und sah den Schemen eines eleganten Kinns, um das sich wie ein mondbeschienener Glorienschein silbrig schimmerndes Haar kringelte.
»Sebastian.« Der anklagende Unterton in ihrer Stimme war unüberhörbar. »Wie immer ist der Zeitpunkt deines Auftauchens perfekt gewählt.«
Die Stiefel kamen näher, und ein Schatten fiel über ihre Hand mit dem Schwert. »Wie ich sehe, sind Sie recht vertraut mit der Angewohnheit meines Enkels, stets im ungünstigsten - oder in seinem Fall besten - Moment zu verschwinden.«
Victoria reckte den Hals, um ihn ganz zu sehen, während gleichzeitig weitere Stiefelpaare aus den Schatten traten. Ihr Nacken war wieder kalt, aber zumindest hatte sie noch immer ihre gesegnete Waffe. Sie stemmte sich so langsam und gelassen auf die Füße, wie sie konnte. Die Hose klebte ihr an den Knien, mit denen sie auf der feuchtkalten Erde gekauert hatte. »Beauregard, nehme ich an. Ich hatte mich schon gefragt, ob Sie möglicherweise nur eine Ausgeburt der Fantasie Ihres Enkels sind.« Sie warf einen Blick über ihre Schulter und stellte fest, dass Max noch immer dort stand, die Tür des Theaters hinter ihm geschlossen.
Der alte Vampir lachte, was sie auf unbehagliche Weise an Sebastian erinnerte. »Es überrascht mich, dass er Ihnen überhaupt von mir erzählt hat. Aber nun zum eigentlichen Thema. Muss ich aus Ihrer Gegenwart hier draußen schließen, dass Ihr Unterfangen heute Nacht erfolglos war? Hat Nedas Akvans Obelisken aktiviert?«
Jetzt, da er sich bewegt hatte und Mond und Sterne sein Gesicht erhellten, wurde es ganz offensichtlich, dass er nicht Sebastian war. Es bestand eine gewisse Ähnlichkeit - er hatte denselben Schopf widerspenstiger Locken, wenngleich sein Haar von einem helleren Blond war als das honigfarbene seines Enkels. Er war auch älter, dabei aber nicht alt. Er musste etwa Ende vierzig gewesen sein, als der weibliche Vampir ihn überlistet und selbst zu einem Untoten gemacht hatte. Sein Gesicht zeigte dieselbe aristokratische Eleganz wie Sebastians, allerdings war seine Nase breiter und seine Lippen nicht so verlockend wie die seines Enkels. Seine Augen hingegen waren vollkommen anders; obwohl sie nicht rot funkelten, waren sie doch unverkennbar dunkler als Sebastians. Außerdem lagen sie so tief, dass sie einen fast schläfrigen Eindruck erweckten, der Victoria an Phillip erinnerte. Dennoch war er für einen Jahrhunderte alten Vampir, oder für einen Großvater, ein ziemlich attraktiver Mann.
Er richtete den Blick auf Max, der mit dem Rücken zur Tür stand. Sich vielleicht dagegen lehnte. In seiner nach unten baumelnden Hand hielt er noch immer einen Pflock.
»Akvans Obelisk wurde vernichtet«, informierte Max ihn.
Beauregard hob das Kinn. »Dann sind Sie also erfolgreich gewesen. Ich wollte ebenso wenig wie Lilith, dass Nedas über eine solch immense Macht verfügt. Und Sie sind trotzdem noch am Leben? Wie vorteilhaft für mich.«
»Nicht durch sein eigenes Verschulden«, erwiderte Victoria. Sie bewegte sich, und das Schwert funkelte im Mondlicht.
Das lenkte Beauregards Aufmerksamkeit auf sie, und er nickte ihr gebieterisch zu. »Sie werden das nicht länger brauchen. Und was ist mit Nedas?«
Sebastian trat hinter der Gruppe von Vampiren hervor und kam, den Blick unverwandt auf Victoria gerichtet, auf sie zu.
»Nein.« Mit gezücktem Schwert wich sie in Max’ Richtung zurück.
»Nedas ist tot«, beantwortete Max Beauregards Frage.
»Ich werde es jetzt an mich nehmen,Victoria.« Sie konnte Sebastians Gesicht nicht gut sehen, aber der Stahl in seiner Stimme war sehr untypisch für sein sonst so charmantes Wesen.
Hinter ihr bewegte sich Max. Er fasste um sie herum und schloss die Finger um ihr Handgelenk, während Sebastian das Schwert aus ihrem schwachen Griff löste.
»Was tut ihr da?« Victoria wand sich in Max’ Armen, trat rücklings nach ihm und vorwärts nach Sebastian, bis Max sie so plötzlich losließ, dass sie zu Boden sackte.
»Ganz ruhig, Victoria.« Sebastian stellte sich neben seinen Großvater und sah zu ihr hinunter. »Du warst hier weder erwünscht noch erwartet.« Er bot ihr nicht die Hand an, um ihr wieder auf die Füße zu helfen.
»Wir haben die gegenwärtige Situation allein Ihrem Unvermögen zu verdanken, Vioget«, grollte Max, der nun wieder an der Tür lehnte.
Sebastian hob eine Braue. »Offensichtlich haben Sie sie ja gut unter Kontrolle halten können.«
»Ich musste mich noch um ein paar andere Dinge kümmern.«
Victoria rappelte sich hoch und versuchte dabei, nicht daran zu denken, wie oft sie das in den letzten vierundzwanzig Stunden schon hatte tun müssen. Und wie viel schwieriger es von Mal zu Mal wurde. »Hat sie dich wirklich geschickt?«, verlangte sie von Max zu wissen.
»Ja, Lilith hat mich geschickt. Dem Anschein nach als Geschenk an ihren Sohn - ein Venatoren-Schoßhündchen, wie sie es ausdrückte. Jemand, der die Geheimnisse der Venatoren an die Vampire und die Tutela verraten und diese bei der Aktivierung von Akvans Obelisken unterstützen würde. Ich war die perfekte Wahl, da ich selbst einst der Tutela angehörte. Vor sehr langer Zeit.«
»Wann -«
»Schweigt.« Beauregard trat auf sie zu, seine Augen mit einem Mal wie pinkfarbene Rubine funkelnd, die Fangzähne lang und tödlich.Victoria hatte bis zu diesem Moment nicht geahnt, dass er ein Wächtervampir war. »Ihr habt hier nicht das Sagen. Jetzt wieder rein mit euch, alle beide.« Er drehte sich zu Sebastian um und musterte angewidert das Schwert. »Schaff mir das aus den Augen.«
Da Victoria sich nicht rührte, bellte er den beiden Vampiren, die ihn flankierten, einen Befehl zu. Diese packten sie an den Ellbogen und schleiften sie mühelos zu der Tür, die Max nun öffnete.
Drei Vampire stürzten - mit ausgefahrenen Fangzähnen und roten Augen - kampfbereit heraus. Weitere drängten sich hinter ihnen im Korridor.
Doch als sie Beauregard erblickten, erstarrten sie.
Victoria drehte sich um und sah, dass Beauregard die Neuankömmlinge anlächelte. Es war kein freundliches Lächeln; es bereitete ihr, die schon zu viele Vampir-Mimiken gesehen hatte, ein mehr als unbehagliches Gefühl.
»Wir haben die Schuldigen ergriffen, die Nedas heute Nacht attackierten und töteten.« Mit autoritärer Miene trat er vor. »Als euer neuer Anführer werde ich Vergeltung üben. Unverzüglich.«
In gewisser Hinsicht war es eine vertraute Erfahrung für Victoria, als Sebastian sie zurück auf die Opernbühne brachte, wo kurz zuvor die mächtigste Quelle des Bösen zischend explodiert war. Es war beinahe ironisch, wie sich die Szenerie innerhalb weniger Tage verändert hatte: von einer heiteren, lauten Darbietung mit der an- und abschwellenden Musik, den klaren, schwingenden Arien zu einem rußgeschwärzten Gerippe. Der halbe Boden war zerstört, und auf den Stühlen saßen keine Opernfreunde, sondern Untote, die auf ihre eigene Darbietung warteten.
Victoria hatte aufgehört, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob sie nun wütend auf Sebastian sein sollte oder resigniert über sein Handeln und damit wütend auf sich selbst. Hatte sie nicht stets gewusst, dass sie ihm nicht trauen durfte, selbst wenn sie sich gerade geliebt hatten? Hier waren sie nun, und es stellte sich nicht länger die Frage, wo er stand oder was ihm wichtig war.
Und Max... Welche Rolle spielte er bei alledem? Er hatte den Obelisken vernichtet, nur um sie anschließend zu zwingen, Beauregard und Sebastian ihr Schwert auszuhändigen. Natürlich waren sie in der Unterzahl gewesen und hätten es niemals geschafft, sich durch Beauregards Meute von Vampiren zu kämpfen. Trotzdem hatte sie ein flaues Gefühl im Magen.
Beauregard saß mitten auf der Bühne in einem großen Sessel, den man eigens aus dem Requisitenfundus herbeigeschafft haben musste, wo Victoria ihn früher am Abend gesehen hatte. Mit seinen glimmenden Augen und den Fangzähnen, die leicht gegen das Fleisch unter seinem Mund drängten, sah er königlich und machtvoll aus.
»Was hat er mit mir vor?«, fragte Victoria leise. Sie stand, den Blick unverwandt auf Beauregard gerichtet, mit Sebastian auf der Seitenbühne.
»Es überrascht mich, dass du dir das noch nicht zusammengereimt hast,Victoria«, antwortete er mit seiner gewohnt gedehnten Sprechweise. »Beauregard und Nedas konkurrieren schon lange um die Herrschaft über die Vampire. Mein Großvater hätte nicht entzückter sein können, dass nicht nur Akvans Obelisk zerstört wurde, sondern du ihn auch noch von Nedas befreit hast.«
»Dann sollte er vor Freude jauchzen und uns freilassen, anstatt ›Vergeltung‹ zu planen.«
»Gewiss. Und was denkst du, wie lange wird er die Kontrolle über die Vampire und die Tutela behalten, nachdem er entschieden hat, zwei Venatoren, die die natürlichen Feinde seiner Gefolgsleute sind, zu verschonen? Ungeachtet des Gefallens, den man ihm heute Nacht erwiesen hat, wird er die Macht, nach der er so lange gestrebt hat, nicht gefährden, indem er zwei Venatoren am Leben lässt. Komm jetzt mit mir, und verhalte dich ruhig. Steh einfach nur da und sieh hübsch aus. Zum Glück hat mein Großvater eine Schwäche für schöne Frauen.«
»Wie es scheint, haben Sie einen unauslöschlichen Eindruck bei meinem Enkel hinterlassen«, bemerkte Beauregard, nachdem Sebastian sie zu ihm geführt hatte. »Du hast eine ausgezeichnete Wahl getroffen«, fügte er an seinen Enkel gerichtet hinzu. »Ich verstehe nun, was du so anziehend an der Frau findest. Sie ist wirklich recht ansehnlich.«
»Ich bitte dich nur deshalb darum, ihr Leben zu verschonen, weil sie mir Vergnügen bereitet«, erwiderte Sebastian mit einer knappen Verbeugung. »Sie wurde entwaffnet und trägt nicht länger das Symbol der Venatoren. Sie ist keine Gefahr mehr für euch.«
Victoria hatte Mühe, ihre Miene ausdruckslos zu halten. Sie mochte in diesem Moment keine Gefahr darstellen, aber sobald sie ins Konsilium zurückgekehrt wäre, würde sie sich um eine neue vis bulla kümmern und die Jagd wieder aufnehmen.
Vorausgesetzt, Sebastian konnte seinen Großvater ebenso erfolgreich um den Finger wickeln wie sie.
»Ich verstehe dich. Aber es wäre ganz einfach, diese Schönheit für alle Ewigkeit zu bewahren, Sebastian. Sie könnte für immer deine Konkubine sein, so wie sie es heute schon ist.« In Beauregards Augen glitzerte ein Funken derselben Koketterie, derer sich sein Enkel oft bediente, aber in seinem Fall drehte es Victoria dabei den Magen um. »Und es wäre mir ein großes Vergnügen, dies für dich zu übernehmen.«
»Nein, danke, Großvater. Ich bitte dich nur darum, sie zu verschonen.«
»Dann werde ich dir deinen Wunsch erfüllen, Sebastian. Allerdings nur dieses eine Mal. Sollte ich ihr irgendwann unter anderen Umständen ein weiteres Mal begegnen, ist ihr Leben verwirkt.« Er betrachtete Victoria mit seinen rubinroten Augen, und sie spürte seine ganze Macht, den hypnotischen Sog seiner Verlockung, und für einen winzigen Moment fragte sie sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn er die Fangzähne in ihrem Hals vergraben würde.
Sein Lächeln wurde breiter, als er ihre Reaktion bemerkte, dann wandte er sich wieder seinem Enkel zu. »Du bist dir ganz sicher? Nun gut, dann werde ich mich jetzt um den anderen kümmern. Bringt ihn her.«
Victoria versuchte zu schlucken, aber ihre Kehle war wie ausgedörrt.
Max.
Sie hatte eine schreckliche Vorahnung, was ihm bevorstand. Vor allem, nachdem Sebastian seine Gefühle Max gegenüber ganz klar zum Ausdruck gebracht hatte.
Sie blieb stehen und zupfte Sebastian am Arm. »Was ist mit Max?«
»Ich kann und werde ihn nicht ebenfalls retten«, verkündete er und zog sie weiter hinter sich her.
»Dein Großvater will ihn hinrichten. Aber warum? Nachdem Max mich gezwungen hatte, dir das Schwert zu geben, dachte ich -«
»Nein, Maximilian hat für Beauregard nicht mehr übrig als für mich. Er hat dich lediglich beschützt, als er dich dazu brach te, mir das Schwert auszuhändigen. Selbst zusammen hättet ihr einen Kampf gegen Beauregard nicht gewinnen können, und jetzt, da er weiß, dass ich für deine Sicherheit sorgen werde, wird er seine eigene Strafe akzeptieren. Nun beeil dich, bevor mein Großvater es sich noch einmal anders überlegt.«
Sebastian führte sie eilig von der Bühne, als plötzlich von oben etwas an ihnen vorbeizischte und mit einem lauten, dumpfen Aufschlag zwischen ihnen und Beauregard auf der Bühne landete.
Victoria sprang zurück und blickte nach oben, wo sie auf demselben Steg, den sie vor nicht allzu langer Zeit benutzt hatte, ein Paar rot funkelnder Augen entdeckte. Irgendjemand hatte dasselbe getan wie sie zuvor - nämlich eines der schweren Bühnenbilder gelöst und nach unten stürzen lassen.
Ein riesiger Tumult brach los.Von allen Seiten stürzten Vampire - die entweder neu hinzugekommen waren oder aber in den dunklen Ecken des Opernsaals gelauert hatten - herbei und griffen Beauregards Gefolgsleute an.
»Victoria, komm!« Sebastian war unübersehbar schockiert, und sie selbst wurde nun zum zweiten Mal in dieser Nacht von einer Bühne gezerrt, die sich plötzlich in ein Schlachtfeld verwandelt hatte.
Dann entdeckte sie Max.
Unbewaffnet stand er an einem Ende der Bühne und versuchte, einen einzelnen Vampir abzuwehren, während andere um ihn herum kämpften. Es war nur eine Frage von Minuten, bis man ihn überwältigen würde.
Victoria blieb stehen und sah sich instinktiv nach irgendetwas um, das sich als Waffe eignen würde, als Max sie bemerkte. Ihre Blicke trafen sich über das Handgemenge hinweg, und sie las die Botschaft, die ihm ins Gesicht geschrieben stand. Es war dieselbe, die er ihr zu vermitteln versuchte, seit sie sich bei Regalado begegnet waren.
Verschwinde!
»Victoria!« Sebastian zerrte an ihrem Arm, aber sie hielt sich am Saum des Samtvorhangs fest, der an der Seite der Bühne hing, und rührte sich, halb hinter ihm verborgen, nicht von der Stelle.
Nervös beobachtete sie, wie Max versuchte, dem Vampir, der gerade auf ihn zusprang, mit einer Kreiselbewegung auszuweichen... Sie sah ihn stürzen und wieder auf die Beine kommen.
Er blickte noch einmal zu ihr herüber, sein Gesicht eine Maske grimmiger Entschlossenheit.
Sie musste fort von hier.
Aber sie konnte ihre Füße nicht dazu bringen, sich in Bewegung zu setzen.
Trotz allem, was er getan hatte... Sie konnte ihn nicht sich selbst überlassen. Er war ein Venator. Sie durfte ihn nicht einfach dem Tod überantworten.
Sie konnte dieses Opfer nicht bringen.
Sie brauchte ihn.
Jetzt, da Eustacia von ihnen gegangen war, brauchte sie Max. Jemanden, dem sie vertrauen konnte.
Victoria riss sich von Sebastian los, stolperte durch die ruckartige Bewegung einen Schritt nach vorn, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Als sie für einen kurzen Moment auf den Knien verharrte, bemerkte sie etwas Funkelndes unter dem Vorhang. Sie griff danach und zog es unter dem schweren Samt hervor, dann begriff sie, was sie da in der Hand hielt.
Es war ein Splitter von Akvans Obelisk. Er war nicht mehr als zwei Finger breit und kürzer als ein Unterarm: die Größe eines Pflocks. Sie roch das Böse an ihm, fühlte ihn zischen und seine Energie ihren Arm hinaufstrahlen.
Sie zog sich an dem Vorhang auf die Füße und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne. Max war noch immer dort, aber er wurde schwächer; und war außerdem durch ihre Gegenwart abgelenkt, weil er ständig in ihre Richtung sah, um sich zu vergewissern, dass sie endlich ging.
Ihr blieb keine Wahl.
Sie musste ihre Gefühle beiseiteschieben und das Opfer bringen.
»Victoria!« Sebastian fasste nach dem Handgelenk, in dessen Fingern sie den Splitter hielt, und dieses Mal ließ sie sich mit einem letzten Blick zu Max von ihm fortziehen.
»Was willst du damit?«, fragte er über seine Schulter hinweg, während sie davonhasteten.
»Ich werde ihn zu Wayren bringen.« Victoria entzog ihm ihre Hand.
Sie liefen durch das Theater, diesmal ohne von Vampiren verfolgt zu werden. Der Lärm der brutalen Schlacht tobte und schallte durch das halb verbrannte Gebäude.
Sebastian blieb vor der Tür stehen, die ins Freie führte. »Ich muss umkehren.«
»Warum? Was ist los?«
»Es ist Regalado. Er ringt um die Herrschaft über die Vampire. Ich kann nicht zulassen, dass mein Großvater ihm allein gegen übertritt. Du bist in Sicherheit; wie du siehst, ist die Sonne aufgegangen. Geh jetzt.«
Bevor sie protestieren konnte, hatte er sie, die Finger um ihre nur von der dünnen Tunika bedeckten Schultern gelegt, schon gegen die Wand gedrängt. Er senkte seinen hungrigen, warmen Mund zu ihrem, und sie nahm seinen Kuss entgegen, in dem sich Bedauern und Verlangen und Abschied mit sinnlichen Lippen und einer starken, geschmeidigen Zunge mischten.
Nachdem sie sich eine Weile atemlos geküsst hatten, löste Victoria den Mund von seinem. »Aber du tötest doch keine Vampire.«
»Ich weiß. Aber selbst ich besitze ein gewisses Maß an Ehrgefühl.« Er küsste sie noch einmal, dann schloss er die Augen und legte die Stirn gegen ihre. Holte tief Luft. »Geh jetzt. Und gib auf dich Acht.«
Er schob sie zur Tür hinaus und schlug sie hinter ihr zu.
Der Himmel war rosa und orangefarben, genau so, wie sie ihn sich vor vielen Stunden erhofft hatte.Victoria blinzelte ins grelle Licht, dann sah sie zurück zur Tür.
Sie wollte hineingehen. Gott, sie wollte wieder hineingehen.
Aber sie hatte das Richtige getan.
Max musste mittlerweile tot sein.
Sie hoffte, dass Sebastian ihm nicht bald folgen würde.
Trotzdem, sie konnte diesen Ort nicht verlassen. Sie konnte nicht einfach davonspazieren, sich eine Droschke nehmen und zu ihrer Villa zurückkehren.
Wie versteinert blieb sie auf dem taunassen Gras stehen.