Kapitel 2
In welchem Lady Rockley ein Gespräch über Mode verschmäht
Es muss irgendeine Art von Dämon gewesen sein«, folgerte Victoria am Ende ihres Berichts. Es war der Morgen nach ihrem Besuch im Silberkelch, und sie hatte sich, lange bevor der Rest der feinen Gesellschaft sich auch nur in den Betten zu regen begann, aus St. Heath’s Row davongestohlen. »Auch wenn ich noch nie einem begegnet bin und schon seit Jahrhunderten keine mehr in England gesichtet wurden; es kann kein Vampir gewesen sein. Ich konnte ihn nicht mit dem Pflock töten. Und er hat seine Gestalt verwandelt.«
Eustacia, in deren lebhafte schwarze Augen sich während der Schilderung Besorgnis geschlichen hatte, nickte. »Ein Pflock ins Herz tötet einen Vampir immer, da hast du vollkommen Recht, cara. Selbst Lilith könnte so vernichtet werden, wenngleich es schwierig sein dürfte, ihr einen in den Körper zu treiben.«
Ihr blau-schwarzes, zu einer komplizierten Lockenfrisur arrangiertes Haar schimmerte und changierte wie Tinte. Selbst das Gesicht dieser mehr als achtzig Jahre zählenden Frau verriet ihr Alter kaum... Nur ihre Hände - in denen sie das kleine Metallamulett hielt, das Victoria ihr gegeben hatte - waren von den Jahren knorrig und verkrümmt, mit arthritischen Gelenken, die es ihr schwer machten, einen Pflock zu halten.
»Ich habe zweimal auf ihn eingestochen«, fuhr Victoria fort. Ihr Herzschlag beschleunigte sich auch jetzt noch, wenn sie an die empfundene Panik zurückdachte. Im Vergleich zu dem Vorfall in jener Seitenstraße von The Dials, wo es ihr nur zu leicht gefallen wäre, einen Mann zu töten, war dieses Erlebnis, in dem sie es nicht mit einem Vampir hatte aufnehmen können, ein Alptraum gewesen. »Zweimal, direkt in die Brust... Es hat ihn verlangsamt, aber als ich den Pflock herauszog, war es, als ob nichts geschehen wäre.«
»Du sagst, er war mit einem Vampir zusammen? Das ist eigenartig. Dämonen tun sich niemals mit Vampiren zusammen; nicht, wenn sie es vermeiden können. Sie sind untereinander ebenso verfeindet wie mit uns.«
»Ich verstehe nicht, warum sie es nicht tun sollten, denn schließlich sind sie alle Luzifer treu ergeben.«
Eustacia nickte. »Das sollte man meinen. Aber zum Glück für uns sind sie zu eifersüchtig aufeinander, um sich zu verbünden. Beide Gattungen buhlen so sehr um die Gunst Luzifers, dass sie es der jeweils anderen niemals gönnen würden, irgendeinen gro ßen Gefallen von ihm zu erlangen.«
Von dieser Warte aus betrachtet, ergab das auf verzerrte Weise Sinn, dachte Victoria. Die Dämonen waren einst Engel gewesen, die sich dann, lange vor Anbeginn der Menschheitsgeschichte, Luzifer zuwandten, um ihm zu folgen.
Verglichen mit ihnen waren die Vampire relativ jung. Judas Ischariot, der Jesus Christus verraten hatte, war der Erste der unsterblichen Untoten gewesen. Unfähig, an Vergebung zu glauben, nachdem er seinen Freund an dessen Feinde ausgeliefert hatte, hatte Judas Selbstmord begangen und die Unsterblichkeit gewählt, indem er Satan seine Seele verkaufte, welcher ihn daraufhin belohnte: Er machte ihn zum Urvater aller Vampire, einer neuen Rasse von Dämonen. Auf entsetzliche, ironische Art und Weise hatte der Teufel die Worte Jesu übernommen - ›Nehmt und trinkt, dies ist mein Blut‹ - und Judas und seine Vampire dazu verdammt, genau das tun zu müssen, um zu überleben.
Es war kein Wunder, dass diese beiden Arten von Untoten Rivalen um die Gunst der Hölle waren. Die eine gehörte Luzifer schon seit Ewigkeiten an; die andere war von ihm erschaffen worden, indem er sie mit dreißig Silberlingen und dem Versprechen, sie vor dem Zorn Gottes zu schützen, von Jesus’ Seite weglockte. Offensichtlich unterschieden sich diese verabscheuungswürdigen Geschöpfe in ihrem Streben nach Macht und Anerkennung gar nicht so sehr von ihren menschlichen Pendants.
»Victoria?« Eustacia sah sie an, als wäre ihr gerade ein ganz neuer Gedanke gekommen. »Ich muss dich etwas fragen - und denk genau nach, bevor du antwortest: Nachdem du den Vampir getötet hattest, konntest du da die Anwesenheit eines weiteren spüren? War dein Nacken kalt? Erinnerst du dich?«
Victoria wurde still und dachte zurück, ließ das Gespräch, das sie mit ihm geführt hatte, Revue passieren, versuchte, sich zu erinnern... War ihr Nacken kalt gewesen? Am Ende musste sie den Kopf schütteln. »Nein, es war nicht so, als ob ich einen Vampir gewittert hätte, aber irgendetwas war da. Ich roch etwas … Seltsames. Etwas Schlechtes, Eigentümliches. Aber ich kann nicht behaupten, dass es eine ebenso deutliche Wahrnehmung gewesen wäre, als wenn ich in der Nähe eines Vampirs bin.«
Eustacia lächelte. »Nun, das ist ziemlich interessant. Die wenigsten Venatoren spüren die Präsenz eines Dämons auf dieselbe Weise, wie sie die eines Vampirs erkennen; tatsächlich nehmen die wenigsten sie überhaupt wahr. Dass du etwas gefühlt hast, irgendetwas, ist sehr ungewöhnlich für einen Venator.« Ihr Lächeln verflüchtigte sich. »Ich werde mit Wayren in Kontakt treten und ihr das hier zeigen.Vielleicht hat sie eine Idee, was einen Vampir und einen Dämon zusammenführen könnte.« Sie blickte auf die kleine Bronzescheibe in ihren Händen hinunter, die Victoria an der Stelle gefunden hatte, wo der Leichnam der Kreatur im Boden versunken war. »Was auch immer es ist, es bedeutet gewiss nichts Gutes.«
Auf der Scheibe, die etwa den Umfang eines menschlichen Daumennagels hatte, war ein geschmeidiges, hundeartiges Tier eingestanzt oder eingraviert. Obwohl Victoria sich nicht sicher sein konnte, dass das Amulett tatsächlich von der Kreatur stammte, die sie geköpft hatte, wusste sie doch instinktiv, dass es wichtig war. Als sie es aufgehoben hatte, war ihr ein unbehagliches Gefühl den Arm hinaufgekrochen und hatte sich über ihre Schultern ausgebreitet, sodass sie sich blitzschnell umgedreht hatte, in dem Gefühl, als würde sich jemand - oder etwas - von hinten an sie heranschleichen.
»Wo ist Wayren?« Victoria rief sich das Bild der heiteren und dennoch mysteriösen Frau ins Gedächtnis, die Eustacia oft konsultierte, wenn Recherchen nötig waren. Ihr Blick wanderte zu dem kleinen Regal mit den alten, vergilbten Manuskripten. Sie sahen aus, als hätte Wayren sie Tante Eustacia geliehen - antiquarisch, wichtig, sakral.Vielleicht waren sie Teil von Wayrens Bibliothek, die sie irgendwo unterhielt, um dort zu studieren.Victoria hatte nie genau erfahren, wo Wayren lebte.
Ihre Tante legte das Amulett auf den Chippendale-Tisch neben ihrem Lieblingssessel. »Sie ist bei Max in Rom, aber sie wird kommen, wenn ich nach ihr schicke. Sie hat Max bei einem Problem geholfen.«
»Max hatte ein Problem? Tatsächlich?« Die sarkastischen Worte waren ihr herausgeschlüpft, bevor Victoria es verhindern konnte. »Ich bin überrascht - nein, geradezu verblüfft zu erfahren, dass in seinem Leben nicht alles vollkommen ist. Und wie geht es Max jetzt, in eurem fernen Heimatland?«
»Er hat sich seit mehreren Monaten nicht mehr gemeldet.« Eustacia hatte die Augen gesenkt; vielleicht wollte sie nicht, dass ihre Nichte den Ausdruck in ihnen sah. »Victoria, mir ist bewusst, wie herzlos es dir erscheinen muss, dass Max im Anschluss an den Kampf gegen Lilith letztes Jahr... und was dann folgte … so rasch nach Italien zurückgekehrt ist, aber er war schon Wochen zuvor vom Konsilium - dem Rat der Venatoren - nach Rom berufen worden, hatte jedoch beschlossen zu bleiben, bis wir die von Lilith ausgehende Gefahr hier in London gebannt hatten.«
»Herzlos? Nein, dieser Gedanke ist mir nie gekommen«, erwiderte Victoria. »Es war längst überfällig, dass Max nach Italien zurückkehrt. Du und ich, wir beide, sind absolut in der Lage, uns um Vampir-Bedrohungen jeglicher Art allein zu kümmern. Bis heute Abend hatte ich seit Liliths Flucht keinen einzigen Vampir mehr gesehen.«
Eustacia tätschelte sanft Victorias Hand. Ihre knotigen Finger waren warm. »Es war ein schwieriges Jahr für dich, cara, das weiß ich, und die letzten Monate ganz besonders, nachdem du angefangen hattest, ein paar enge Freunde der Familie zu empfangen und über deine Rückkehr in die Gesellschaft nachzudenken. Mit all den Fragen über Phillip und -«
»Das Schwierigste daran ist, dass ich nichts zu tun habe.« Victoria merkte, wie sich ihre Stimme zu einem schrillen Wimmern hochschraubte, und brach ab.Wenn Max hier wäre, würde er nun irgendeine sardonische Bemerkung darüber machen, dass Venatoren sich nicht von ihren Gefühlen leiten lassen dürften, und sich selbst vermutlich als das Musterexemplar eines beherrschten Vampirjägers hinstellen.
Vielleicht aber auch nicht. Bei ihrer letzten Begegnung hatte er etwas gesagt, das aus seinem Mund ein großes Lob war. Er hatte sie einen Venator genannt. So als betrachte er sie als ihm ebenbürtig.
»Es mag sein, dass du in den vergangenen Monaten nicht viel zu tun hattest, aber das, was du in deiner ersten Zeit als Venator vollbracht hast, übertrifft alles, was ursprünglich von dir erwartet wurde. Und nach dem, was geschehen ist,Victoria, hattest du eine Ruhepause dringend nötig. Du brauchtest Zeit, um deine Wunden heilen zu lassen.«
»Ich brauche die Befriedigung,Vampire zu pfählen. Und nicht nur einen. Ich muss mich wieder an die Arbeit machen.« Ihr schwerer, tintenfarbener Rock wogte hin und her, als Victoria nun auf die Füße sprang. »Du kannst dir einfach nicht vorstellen, wie es ist, Tante! Wie eine Vogelscheuche sitze ich in meinen schwarzen Gewändern den ganzen Tag herum und tue gar nichts, es sei denn, meine Mutter und ihre beiden Freundinnen kommen zu Besuch. Und dann unterhalten wir uns über belanglose Dinge. Über Kleider und Juwelen, wer wen heiratet und wer mit wessen Ehepartner Unzucht treibt. Wie es scheint, darf ich nun, da ich eine respektable Witwe bin, an derartigen Themen teilhaben.
Aber mit Ausnahme davon, dass ich sie und ein paar andere Besucher wie meine Freundin Gwendolyn Starcasset empfange, tue ich nichts und verlasse auch kaum je das Anwesen. Und ich weiß nicht, wann man mich dazu auffordern wird, aus Phillips Haus auszuziehen. Der neue Marquis sitzt irgendwo in Amerika und hat bislang auf keinen einzigen Brief der Anwälte geantwortet. Wir wissen nicht, wann oder ob er überhaupt kommen wird, um den Titel und das Anwesen zu beanspruchen. Ich bin in der glücklichen Lage, dass Phillip so vorausschauend war, mich mit einer großzügigen Apanage zu bedenken, denn andernfalls wäre ich gezwungen, wieder zu meiner Mutter zu ziehen.« Victoria war zum Fenster gegangen und sah nun auf die düsteren, regnerischen Straßen hinab. Der Juli sollte eigentlich grün und heiter sein, nicht grau und trist.
»Das ist vielleicht gar kein so schlechter Gedanke, Victoria. Zumindest wärst du dann nicht allein.«
Victoria ließ die Vorhänge wieder fallen. »Tante Eustacia, wie um alles in der Welt könnte ich wieder mit meiner Mutter zusammenleben - nach allem, was passiert ist? Soll ich sie wieder in Gefahr bringen? Sie weiß nichts von meinem Leben als Venator. Sie hat genau wie die restlichen Bewohner Londons keine Ahnung, dass Vampire und Dämonen tatsächlich existieren! Abgesehen davon wird sie versuchen, einen neuen Ehemann für mich zu finden, sobald ich diese Witwenkleider abgelegt habe. Und nach dem, was mit Phillip geschehen ist, werde ich natürlich nie wieder heiraten.«
»Mir scheint, du könntest schon seit Monaten das Grau der Halbtrauer tragen, cara«, erwiderte ihre Tante milde. »Ein hübsches Perlgrau; es würde deinem Teint einen rosa Schimmer verleihen und deine dunklen Augen heller strahlen lassen. Dein Jahr der Trauer ist längst vorüber. Ich denke, der einzige Grund, warum du noch immer Schwarz trägst, ist, dass du dir damit deine Mutter vom Hals halten kannst.«
»Bitte, Tante! Du klingst langsam genau wie sie. Lass uns lieber über Pflöcke und Amulette reden... und darüber, wie wir das Böse auf der Welt bekämpfen können, statt über Kleider und Mode. Es interessiert mich nicht, ob die Röcke in dieser Saison weiter getragen werden.«
»Victoria … Du musst auf dich achten. Du trauerst noch immer. Indem du deinen Verlust ignorierst, machst du es nur schlimmer.«
»Tante Eustacia, ich ignoriere meinen Verlust nicht. Ich will ihn sühnen. Aber es sind keine Vampire hier in London... Zumindest war das bis letzte Nacht so.« Sie war so verstört gewesen über den Vampir, der einfach nicht sterben wollte, dass sie die tiefere Bedeutung der gestrigen Ereignisse übersehen hatte.
Vielleicht waren die Untoten im Begriff zurückzukehren?
Denn falls die Vampire zurückkamen, könnte sie in Erfahrung bringen, wo Lilith war... und wie sie zu ihr gelangen konnte.
Eine Ruhepause? Nein, Victoria würde sich erst ausruhen, wenn sie ihren Pflock in das Herz der feuerhaarigen Vampirkönigin gestoßen hatte. Oder bei dem Versuch umgekommen war.

Eustacia nahm einen tiefen, langen Atemzug... Dann ließ sie ihn langsam und ruhig wieder entweichen. Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass Kritanu sie beobachtete.
Er saß genau wie sie selbst auf dem Fußboden. Einer seiner Knöchel lag in seinem Genick, das andere Bein hatte er vor sich ausgestreckt. Während sie zusah, nahm er den Fuß herunter und brachte ihn behutsam auf die dünne Matte, dann hob er die sehnigen, muskulösen Arme und holte tief Luft.
Sie sprachen nicht, bis sie fertig waren.
»Yoga sollte entspannend sein«, erklärte er, während er barfuß zu ihr trat und sich neben sie setzte. »Trotzdem ist die Sorge nicht aus deinen Augen gewichen.« Seine kurze, weite Hose glitt nach oben und gab den Blick auf seine kräftigen, mit blauschwarzen Haaren bedeckten Waden frei. Nicht ein einziges wei ßes oder graues Büschel spross irgendwo aus seiner teefarbenen Haut, und das trotz des Umstands, dass er kürzlich dreiundsiebzig geworden war. Er konnte noch immer die schwierigsten Asanas einnehmen, wenn sie Yoga praktizierten... auch solche, für die Eustacia längst die Elastizität verloren hatte.
Sie machte noch immer die Dehn- und Atemübungen, die Kritanu sie gelehrt hatte, als sie damals... oh, vor mehr als fünfundfünfzig Jahren zusammen zu trainieren begonnen hatten. Doch sie konnte längst nicht mehr die Füße hinter den Kopf legen und auch nicht ihren abgeknickten Körper mit gespreizten Fingern auf einer Handfläche balancieren so wie er.
»Tatsächlich? Aber woher weißt du das, wenn du meditiert hast, wie du es eigentlich tun solltest?«
»Ich habe über dem vertrauten Antlitz von mere humsafar meditiert und war bestürzt von dem, was ich dort sah.«
Eustacia, die im Schneidersitz saß, lächelte ihn auf dieselbe Weise an, wie sie es getan hatte, als sie jünger gewesen waren, dann zog sie seinen Kopf auf ihren Schoß und schaute ihm ins Gesicht. Auch wenn ihre Knie nicht mehr den Boden berührten, so wie einst, und ihre arthritischen Knöchel von der Last seines Gewicht pochten. Es war ein vertrautes und tröstliches Gefühl, ihn zu berühren.
»Es stimmt. Ich habe mich seit Victorias Besuch heute Morgen auf kaum etwas anderes konzentrieren können. Es verheißt nichts Gutes, dass sie einen Vampir und einen Dämon zusammen gesehen hat, allerdings fürchte ich, dass ich nicht die Kraft habe, zu enträtseln, was es bedeutet. Der Dämon erwähnte jemanden namens Nedas; ich habe diesen Namen schon einmal gehört, kann ihn jedoch nicht einordnen. Wayren wird mehr wissen.«
»Zumindest ist es nicht Beauregard, der Unheil im Sinn hat.«
»Unseligerweise gibt es keinen Grund für eine derartige Annahme. Nedas könnte einer seiner Anhänger oder sogar ein Rivale sein. Wäre ich nicht mit dem Gedächtnis einer strega gestraft, könnte ich mich erinnern, wer er ist. Und dann gibt es da noch dieses Amulett, das Victoria gefunden hat... Ich spüre definitiv eine böse Aura, wenn ich es berühre.«
»Ich habe mir darüber ebenso Gedanken gemacht wie über die Besorgnis auf deinem Gesicht. Der eingravierte Hund erinnert mich an die hantu saburos des Industals.«
Eustacia streichelte in einer altvertrauten Geste mit der Hand über sein breites Kinn. »Diese Vampire, die in Höhlen lebten und sich von Tierblut ernährten?«
»Nein, mere sanam. Nach den Geschichten, die ich gehört habe, trainierten die saburos Hunde darauf, Menschen zu jagen und sie zu ihnen zu bringen, damit sie von ihnen zehren konnten. Ich weiß nicht, ob die Legende wahr ist, aber... der Hund auf dem Amulett ließ mich an sie denken. Ich habe keine Ahnung, ob es sich lohnt, das in deinem Schreiben an Wayren zu erwähnen... aber du hast es bestimmt schon losgeschickt, nicht wahr?« Er setzte sich auf und lächelte sie an. »Natürlich hast du das. Mit der schnellsten aller Brieftauben, stimmt’s?«
»Wayren sollte den Brief in spätestens vier Tagen erhalten. Ich werde ihr noch einen zweiten mit deinen Überlegungen schicken, denn schließlich habe ich gelernt, deine Eindrücke niemals zu ignorieren.«
»Dann hast du in den mehr als fünfzig Jahren zumindest etwas gelernt.«
Sie lachten gemeinsam, ein behagliches, ungezwungenes Kichern, bei dem sich ihr Atem vermischte und ihre Nasen sich berührten.
Als die Heiterkeit wieder aus ihrem Gesicht verschwand, nahm Kritanu ihre Hand. »Du machst dir Sorgen um Victoria.«
»Vero. Sie ist wie eine Tochter für mich. Ihr Schmerz ist noch so frisch. Da gab es all diesen Klatsch, all dieses Mitleid mit der jungen Ehefrau des Marquis von Rockley, die so kurz verheiratet und so rasch verwitwet war.«
»Die Leute glauben, dass er auf See gestorben ist. Eine gute Erklärung.«
»Si, wenngleich es mehr als ein paar Bemerkungen darüber gegeben hat, warum er den Kontinent ohne seine frisch Angetraute verließ, wenn sie doch so verliebt waren... Nicht einmal die Diener wissen, was wirklich passiert ist. Und ihre Mutter erst recht nicht.Victoria hat das alles mit tapfer erhobenem Kopf ertragen... Aber sie ist erst zwanzig - viel zu jung für eine solche Bürde. Unser Leben ist auch so schon schwer genug.«
»Es ist nicht deine Schuld, Eustacia. Was geschehen ist, war nicht dein Fehler.«
Plötzlich brannten Tränen in ihren Augen. Er kannte sie so gut. »Ich weiß das, aber trotzdem mache ich mir schwere Vorwürfe. Wenn sie kein Venator geworden wäre... wenn ich sie nicht dazu gedrängt hätte...«
»Du hast sie nicht dazu gedrängt. Sie war dazu bestimmt … genau wie du. Wenn ich mich recht entsinne, hattest du keinerlei Bedenken, die Verpflichtung anzunehmen... und warst alles andere als zimperlich, als ein junger Mann zu dir kam, um dir beizubringen, wie man mit der Technik des kalaripayattu kämpft und mithilfe von Yoga meditiert. Du wolltest anfangs nichts mit mir zu tun haben, da ich so viel jünger war als du mit deinen vierundzwanzig Jahren.« Er strich zärtlich über die hässlichen, knotigen Gelenke ihrer Altfrauenhand. »Und sieh nur, was du für die Welt getan hast, sanam. Ohne dich... ohne deinen Mut und deine Fähigkeiten wäre die Welt ganz anders als sie ist. Erinnerst du dich an jenen Weihnachtsabend in Venedig? Eustacia... wenn du damals diese Wächtervampire nicht aufgehalten hättest, wäre die ganze Stadt verloren gewesen.«
»Und Lilith hätte die Goldene Spange in den Händen gehalten.« Der Anflug eines Lächelns umspielte ihre Lippen. »Wir haben ihre Pläne mehr als einmal vereitelt, nicht wahr, amore mio
»Das haben wir. Du hast das.« Seine Augen, deren Pupillen ebenso schwarz waren wie die Iris, glänzten vor Ernsthaftigkeit. »Du, Max und die anderen... aber vor allen Dingen du. Und jetzt ist Victoria am Zuge. Sie ist zu Großem bestimmt. Du weißt es, denn sie trägt die Gabe der Venatoren dreifach in sich, dank deinem Bruder und ihrer flatterhaften Mutter. Du musst sie gewähren lassen.«
»Ich denke, es war letztendlich das Beste, dass Victorias Mutter ihre Berufung zum Venator nicht akzeptiert hat. Ich glaube nicht, dass Melly ihre Liebe zum gesellschaftlichen Leben aufgegeben hätte, um stattdessen Vampire zu jagen.« Der letzte Rest Leichtigkeit und Behaglichkeit fiel nun von ihr ab. »Kritanu, es ist Max, um den ich mich am meisten sorge.«
»Du hast nichts von ihm gehört?«
Sie schüttelte bedächtig den Kopf. »Schon seit über zehn Monaten nicht mehr. Ich war nicht ganz ehrlich zu Victoria, als ich ihr sagte, dass Wayren bei ihm sei. Sie war in Spanien und dann in Paris, bis sie vor vier Wochen erfuhr, dass ich seit letztem August, kurz nachdem er in Venedig eingetroffen war, nichts mehr von Max gehört hatte.Wayren reiste nach Italien, um ihn ausfindig zu machen... Aber das konnte sie nicht. Niemand scheint zu wissen, wo er ist.« Sie hob den Blick und sah ihren sanam, ihren Geliebten an. »Sie schreibt, dass sich die Tutela zu neuer Macht erhebt, und ich fürchte, dass es das Werk dieses Vampirs namens Nedas ist.«
»Die Tutela hat das auch schon früher getan, und wir haben sie immer besiegt.«
»Irgendetwas ist dieses Mal anders, Kritanu, doch ich bezweifle, dass ich noch die Kraft oder die nötige geistige Klarheit besitze, um herauszufinden, was es ist... was ich tun muss. Ich bin alt und langsam. Und ich habe Schmerzen.«
»Victoria ist nun am Zuge, pyar. Du wirst helfen, soweit es dir möglich ist, aber du kannst nicht alles tun. Und sorge dich nicht um Max. Er trägt eine vis bulla, obwohl er nicht dazu geboren wurde. Er gehört zu den wenigen, die den Test auf Leben oder Tod bestanden und sich damit das Recht dazu erworben haben. Dafür gibt es einen Grund.«
»Ich weiß das alles.Trotzdem habe ich Angst um ihn.«