Kapitel 2
In welchem Lady Rockley ein
Gespräch über Mode verschmäht
Es muss irgendeine Art von Dämon gewesen sein«,
folgerte Victoria am Ende ihres Berichts. Es war der Morgen nach
ihrem Besuch im Silberkelch, und sie hatte sich, lange bevor der
Rest der feinen Gesellschaft sich auch nur in den Betten zu regen
begann, aus St. Heath’s Row davongestohlen. »Auch wenn ich noch nie
einem begegnet bin und schon seit Jahrhunderten keine mehr in
England gesichtet wurden; es kann kein Vampir gewesen sein. Ich
konnte ihn nicht mit dem Pflock töten. Und er hat seine Gestalt
verwandelt.«
Eustacia, in deren lebhafte schwarze Augen sich
während der Schilderung Besorgnis geschlichen hatte, nickte. »Ein
Pflock ins Herz tötet einen Vampir immer, da hast du vollkommen
Recht, cara. Selbst Lilith könnte so
vernichtet werden, wenngleich es schwierig sein dürfte, ihr einen
in den Körper zu treiben.«
Ihr blau-schwarzes, zu einer komplizierten
Lockenfrisur arrangiertes Haar schimmerte und changierte wie Tinte.
Selbst das Gesicht dieser mehr als achtzig Jahre zählenden Frau
verriet ihr Alter kaum... Nur ihre Hände - in denen sie das kleine
Metallamulett hielt, das Victoria ihr gegeben hatte - waren von den
Jahren knorrig und verkrümmt, mit arthritischen Gelenken, die es
ihr schwer machten, einen Pflock zu halten.
»Ich habe zweimal auf ihn eingestochen«, fuhr
Victoria fort. Ihr Herzschlag beschleunigte sich auch jetzt noch,
wenn sie an die empfundene Panik zurückdachte. Im Vergleich zu dem
Vorfall in jener Seitenstraße von The Dials, wo es ihr nur zu
leicht gefallen wäre, einen Mann zu töten, war dieses Erlebnis, in
dem sie es nicht mit einem Vampir hatte aufnehmen können, ein
Alptraum gewesen. »Zweimal, direkt in die Brust... Es hat ihn
verlangsamt, aber als ich den Pflock herauszog, war es, als ob
nichts geschehen wäre.«
»Du sagst, er war mit einem Vampir zusammen? Das
ist eigenartig. Dämonen tun sich niemals mit Vampiren zusammen;
nicht, wenn sie es vermeiden können. Sie sind untereinander ebenso
verfeindet wie mit uns.«
»Ich verstehe nicht, warum sie es nicht tun
sollten, denn schließlich sind sie alle Luzifer treu
ergeben.«
Eustacia nickte. »Das sollte man meinen. Aber
zum Glück für uns sind sie zu eifersüchtig aufeinander, um sich zu
verbünden. Beide Gattungen buhlen so sehr um die Gunst Luzifers,
dass sie es der jeweils anderen niemals gönnen würden, irgendeinen
gro ßen Gefallen von ihm zu erlangen.«
Von dieser Warte aus betrachtet, ergab das auf
verzerrte Weise Sinn, dachte Victoria. Die Dämonen waren einst
Engel gewesen, die sich dann, lange vor Anbeginn der
Menschheitsgeschichte, Luzifer zuwandten, um ihm zu folgen.
Verglichen mit ihnen waren die Vampire relativ
jung. Judas Ischariot, der Jesus Christus verraten hatte, war der
Erste der unsterblichen Untoten gewesen. Unfähig, an Vergebung zu
glauben, nachdem er seinen Freund an dessen Feinde ausgeliefert
hatte, hatte Judas Selbstmord begangen und die Unsterblichkeit
gewählt, indem er Satan seine Seele verkaufte, welcher ihn
daraufhin
belohnte: Er machte ihn zum Urvater aller Vampire, einer neuen
Rasse von Dämonen. Auf entsetzliche, ironische Art und Weise hatte
der Teufel die Worte Jesu übernommen - ›Nehmt und trinkt, dies ist
mein Blut‹ - und Judas und seine Vampire dazu verdammt, genau das
tun zu müssen, um zu überleben.
Es war kein Wunder, dass diese beiden Arten von
Untoten Rivalen um die Gunst der Hölle waren. Die eine gehörte
Luzifer schon seit Ewigkeiten an; die andere war von ihm erschaffen
worden, indem er sie mit dreißig Silberlingen und dem Versprechen,
sie vor dem Zorn Gottes zu schützen, von Jesus’ Seite weglockte.
Offensichtlich unterschieden sich diese verabscheuungswürdigen
Geschöpfe in ihrem Streben nach Macht und Anerkennung gar nicht so
sehr von ihren menschlichen Pendants.
»Victoria?« Eustacia sah sie an, als wäre ihr
gerade ein ganz neuer Gedanke gekommen. »Ich muss dich etwas fragen
- und denk genau nach, bevor du antwortest: Nachdem du den Vampir
getötet hattest, konntest du da die Anwesenheit eines weiteren
spüren? War dein Nacken kalt? Erinnerst du dich?«
Victoria wurde still und dachte zurück, ließ das
Gespräch, das sie mit ihm geführt hatte, Revue passieren,
versuchte, sich zu erinnern... War ihr Nacken kalt gewesen? Am Ende
musste sie den Kopf schütteln. »Nein, es war nicht so, als ob ich
einen Vampir gewittert hätte, aber irgendetwas war da. Ich roch
etwas … Seltsames. Etwas Schlechtes, Eigentümliches. Aber ich kann
nicht behaupten, dass es eine ebenso deutliche Wahrnehmung gewesen
wäre, als wenn ich in der Nähe eines Vampirs bin.«
Eustacia lächelte. »Nun, das ist ziemlich
interessant. Die wenigsten Venatoren spüren die Präsenz eines
Dämons auf dieselbe Weise, wie sie die eines Vampirs erkennen;
tatsächlich nehmen die wenigsten sie überhaupt wahr. Dass du etwas
gefühlt hast, irgendetwas,
ist sehr ungewöhnlich für einen Venator.« Ihr Lächeln
verflüchtigte sich. »Ich werde mit Wayren in Kontakt treten und ihr
das hier zeigen.Vielleicht hat sie eine Idee, was einen Vampir und
einen Dämon zusammenführen könnte.« Sie blickte auf die kleine
Bronzescheibe in ihren Händen hinunter, die Victoria an der Stelle
gefunden hatte, wo der Leichnam der Kreatur im Boden versunken war.
»Was auch immer es ist, es bedeutet gewiss nichts Gutes.«
Auf der Scheibe, die etwa den Umfang eines
menschlichen Daumennagels hatte, war ein geschmeidiges,
hundeartiges Tier eingestanzt oder eingraviert. Obwohl Victoria
sich nicht sicher sein konnte, dass das Amulett tatsächlich von der
Kreatur stammte, die sie geköpft hatte, wusste sie doch instinktiv,
dass es wichtig war. Als sie es aufgehoben hatte, war ihr ein
unbehagliches Gefühl den Arm hinaufgekrochen und hatte sich über
ihre Schultern ausgebreitet, sodass sie sich blitzschnell umgedreht
hatte, in dem Gefühl, als würde sich jemand - oder etwas - von hinten an sie heranschleichen.
»Wo ist Wayren?« Victoria rief sich das Bild der
heiteren und dennoch mysteriösen Frau ins Gedächtnis, die Eustacia
oft konsultierte, wenn Recherchen nötig waren. Ihr Blick wanderte
zu dem kleinen Regal mit den alten, vergilbten Manuskripten. Sie
sahen aus, als hätte Wayren sie Tante Eustacia geliehen -
antiquarisch, wichtig, sakral.Vielleicht waren sie Teil von Wayrens
Bibliothek, die sie irgendwo unterhielt, um dort zu
studieren.Victoria hatte nie genau erfahren, wo Wayren lebte.
Ihre Tante legte das Amulett auf den
Chippendale-Tisch neben ihrem Lieblingssessel. »Sie ist bei Max in
Rom, aber sie wird kommen, wenn ich nach ihr schicke. Sie hat Max
bei einem Problem geholfen.«
»Max hatte ein Problem? Tatsächlich?« Die
sarkastischen Worte waren ihr herausgeschlüpft, bevor Victoria es
verhindern konnte. »Ich bin überrascht - nein, geradezu verblüfft
zu erfahren, dass in seinem Leben nicht alles vollkommen ist. Und
wie geht es Max jetzt, in eurem fernen Heimatland?«
»Er hat sich seit mehreren Monaten nicht mehr
gemeldet.« Eustacia hatte die Augen gesenkt; vielleicht wollte sie
nicht, dass ihre Nichte den Ausdruck in ihnen sah. »Victoria, mir
ist bewusst, wie herzlos es dir erscheinen muss, dass Max im
Anschluss an den Kampf gegen Lilith letztes Jahr... und was dann
folgte … so rasch nach Italien zurückgekehrt ist, aber er war schon
Wochen zuvor vom Konsilium - dem Rat der Venatoren - nach Rom
berufen worden, hatte jedoch beschlossen zu bleiben, bis wir die
von Lilith ausgehende Gefahr hier in London gebannt hatten.«
»Herzlos? Nein, dieser Gedanke ist mir nie
gekommen«, erwiderte Victoria. »Es war längst überfällig, dass Max
nach Italien zurückkehrt. Du und ich, wir beide, sind absolut in
der Lage, uns um Vampir-Bedrohungen jeglicher Art allein zu
kümmern. Bis heute Abend hatte ich seit Liliths Flucht keinen
einzigen Vampir mehr gesehen.«
Eustacia tätschelte sanft Victorias Hand. Ihre
knotigen Finger waren warm. »Es war ein schwieriges Jahr für dich,
cara, das weiß ich, und die letzten Monate
ganz besonders, nachdem du angefangen hattest, ein paar enge
Freunde der Familie zu empfangen und über deine Rückkehr in die
Gesellschaft nachzudenken. Mit all den Fragen über Phillip und
-«
»Das Schwierigste daran ist, dass ich nichts zu
tun habe.« Victoria merkte, wie sich ihre Stimme zu einem schrillen
Wimmern hochschraubte, und brach ab.Wenn Max hier wäre, würde er
nun
irgendeine sardonische Bemerkung darüber machen, dass Venatoren
sich nicht von ihren Gefühlen leiten lassen dürften, und sich
selbst vermutlich als das Musterexemplar eines beherrschten
Vampirjägers hinstellen.
Vielleicht aber auch nicht. Bei ihrer letzten
Begegnung hatte er etwas gesagt, das aus seinem Mund ein großes Lob
war. Er hatte sie einen Venator genannt. So als betrachte er sie
als ihm ebenbürtig.
»Es mag sein, dass du in den vergangenen Monaten
nicht viel zu tun hattest, aber das, was du in deiner ersten Zeit
als Venator vollbracht hast, übertrifft alles, was ursprünglich von
dir erwartet wurde. Und nach dem, was geschehen ist,Victoria,
hattest du eine Ruhepause dringend nötig. Du brauchtest Zeit, um
deine Wunden heilen zu lassen.«
»Ich brauche die
Befriedigung,Vampire zu pfählen. Und nicht nur einen. Ich muss mich
wieder an die Arbeit machen.« Ihr schwerer, tintenfarbener Rock
wogte hin und her, als Victoria nun auf die Füße sprang. »Du kannst
dir einfach nicht vorstellen, wie es ist, Tante! Wie eine
Vogelscheuche sitze ich in meinen schwarzen Gewändern den ganzen
Tag herum und tue gar nichts, es sei denn, meine Mutter und ihre
beiden Freundinnen kommen zu Besuch. Und dann unterhalten wir uns
über belanglose Dinge. Über Kleider und Juwelen, wer wen heiratet
und wer mit wessen Ehepartner Unzucht treibt. Wie es scheint, darf
ich nun, da ich eine respektable Witwe bin, an derartigen Themen
teilhaben.
Aber mit Ausnahme davon, dass ich sie und ein
paar andere Besucher wie meine Freundin Gwendolyn Starcasset
empfange, tue ich nichts und verlasse auch kaum je das Anwesen. Und
ich weiß nicht, wann man mich dazu auffordern wird, aus Phillips
Haus auszuziehen. Der neue Marquis sitzt irgendwo in Amerika und
hat bislang auf keinen einzigen Brief der Anwälte geantwortet. Wir
wissen nicht, wann oder ob er überhaupt kommen wird, um den Titel
und das Anwesen zu beanspruchen. Ich bin in der glücklichen Lage,
dass Phillip so vorausschauend war, mich mit einer großzügigen
Apanage zu bedenken, denn andernfalls wäre ich gezwungen, wieder zu
meiner Mutter zu ziehen.« Victoria war zum Fenster gegangen und sah
nun auf die düsteren, regnerischen Straßen hinab. Der Juli sollte
eigentlich grün und heiter sein, nicht grau und trist.
»Das ist vielleicht gar kein so schlechter
Gedanke, Victoria. Zumindest wärst du dann nicht allein.«
Victoria ließ die Vorhänge wieder fallen. »Tante
Eustacia, wie um alles in der Welt könnte ich wieder mit meiner
Mutter zusammenleben - nach allem, was passiert ist? Soll ich sie
wieder in Gefahr bringen? Sie weiß nichts von meinem Leben als
Venator. Sie hat genau wie die restlichen Bewohner Londons keine
Ahnung, dass Vampire und Dämonen tatsächlich existieren! Abgesehen
davon wird sie versuchen, einen neuen Ehemann für mich zu finden,
sobald ich diese Witwenkleider abgelegt habe. Und nach dem, was mit
Phillip geschehen ist, werde ich natürlich nie wieder
heiraten.«
»Mir scheint, du könntest schon seit Monaten das
Grau der Halbtrauer tragen, cara«,
erwiderte ihre Tante milde. »Ein hübsches Perlgrau; es würde deinem
Teint einen rosa Schimmer verleihen und deine dunklen Augen heller
strahlen lassen. Dein Jahr der Trauer ist längst vorüber. Ich
denke, der einzige Grund, warum du noch immer Schwarz trägst, ist,
dass du dir damit deine Mutter vom Hals halten kannst.«
»Bitte, Tante! Du klingst langsam genau wie sie.
Lass uns lieber
über Pflöcke und Amulette reden... und darüber, wie wir das Böse
auf der Welt bekämpfen können, statt über Kleider und Mode. Es
interessiert mich nicht, ob die Röcke in dieser Saison weiter
getragen werden.«
»Victoria … Du musst auf dich achten. Du
trauerst noch immer. Indem du deinen Verlust ignorierst, machst du
es nur schlimmer.«
»Tante Eustacia, ich ignoriere meinen Verlust
nicht. Ich will ihn sühnen. Aber es sind
keine Vampire hier in London... Zumindest war das bis letzte Nacht
so.« Sie war so verstört gewesen über den Vampir, der einfach nicht
sterben wollte, dass sie die tiefere Bedeutung der gestrigen
Ereignisse übersehen hatte.
Vielleicht waren die Untoten im Begriff
zurückzukehren?
Denn falls die Vampire zurückkamen, könnte sie
in Erfahrung bringen, wo Lilith war... und wie sie zu ihr gelangen
konnte.
Eine Ruhepause? Nein, Victoria würde sich erst
ausruhen, wenn sie ihren Pflock in das Herz der feuerhaarigen
Vampirkönigin gestoßen hatte. Oder bei dem Versuch umgekommen
war.
Eustacia nahm einen tiefen, langen Atemzug...
Dann ließ sie ihn langsam und ruhig wieder entweichen. Sie öffnete
die Augen und stellte fest, dass Kritanu sie beobachtete.
Er saß genau wie sie selbst auf dem Fußboden.
Einer seiner Knöchel lag in seinem Genick, das andere Bein hatte er
vor sich ausgestreckt. Während sie zusah, nahm er den Fuß herunter
und brachte ihn behutsam auf die dünne Matte, dann hob er die
sehnigen, muskulösen Arme und holte tief Luft.
Sie sprachen nicht, bis sie fertig waren.
»Yoga sollte entspannend sein«, erklärte er,
während er barfuß
zu ihr trat und sich neben sie setzte. »Trotzdem ist die Sorge
nicht aus deinen Augen gewichen.« Seine kurze, weite Hose glitt
nach oben und gab den Blick auf seine kräftigen, mit blauschwarzen
Haaren bedeckten Waden frei. Nicht ein einziges wei ßes oder graues
Büschel spross irgendwo aus seiner teefarbenen Haut, und das trotz
des Umstands, dass er kürzlich dreiundsiebzig geworden war. Er
konnte noch immer die schwierigsten Asanas einnehmen, wenn sie Yoga
praktizierten... auch solche, für die Eustacia längst die
Elastizität verloren hatte.
Sie machte noch immer die Dehn- und Atemübungen,
die Kritanu sie gelehrt hatte, als sie damals... oh, vor mehr als
fünfundfünfzig Jahren zusammen zu trainieren begonnen hatten. Doch
sie konnte längst nicht mehr die Füße hinter den Kopf legen und
auch nicht ihren abgeknickten Körper mit gespreizten Fingern auf
einer Handfläche balancieren so wie er.
»Tatsächlich? Aber woher weißt du das, wenn du
meditiert hast, wie du es eigentlich tun solltest?«
»Ich habe über dem vertrauten Antlitz von
mere humsafar meditiert und war bestürzt
von dem, was ich dort sah.«
Eustacia, die im Schneidersitz saß, lächelte ihn
auf dieselbe Weise an, wie sie es getan hatte, als sie jünger
gewesen waren, dann zog sie seinen Kopf auf ihren Schoß und schaute
ihm ins Gesicht. Auch wenn ihre Knie nicht mehr den Boden
berührten, so wie einst, und ihre arthritischen Knöchel von der
Last seines Gewicht pochten. Es war ein vertrautes und tröstliches
Gefühl, ihn zu berühren.
»Es stimmt. Ich habe mich seit Victorias Besuch
heute Morgen auf kaum etwas anderes konzentrieren können. Es
verheißt nichts Gutes, dass sie einen Vampir und einen Dämon
zusammen gesehen hat, allerdings fürchte ich, dass ich nicht die
Kraft
habe, zu enträtseln, was es bedeutet. Der Dämon erwähnte jemanden
namens Nedas; ich habe diesen Namen schon einmal gehört, kann ihn
jedoch nicht einordnen. Wayren wird mehr wissen.«
»Zumindest ist es nicht Beauregard, der Unheil
im Sinn hat.«
»Unseligerweise gibt es keinen Grund für eine
derartige Annahme. Nedas könnte einer seiner Anhänger oder sogar
ein Rivale sein. Wäre ich nicht mit dem Gedächtnis einer strega gestraft, könnte ich mich erinnern, wer er
ist. Und dann gibt es da noch dieses Amulett, das Victoria gefunden
hat... Ich spüre definitiv eine böse Aura, wenn ich es
berühre.«
»Ich habe mir darüber ebenso Gedanken gemacht
wie über die Besorgnis auf deinem Gesicht. Der eingravierte Hund
erinnert mich an die hantu saburos des
Industals.«
Eustacia streichelte in einer altvertrauten
Geste mit der Hand über sein breites Kinn. »Diese Vampire, die in
Höhlen lebten und sich von Tierblut ernährten?«
»Nein, mere sanam. Nach
den Geschichten, die ich gehört habe, trainierten die saburos Hunde darauf, Menschen zu jagen und sie zu
ihnen zu bringen, damit sie von ihnen zehren konnten. Ich weiß
nicht, ob die Legende wahr ist, aber... der Hund auf dem Amulett
ließ mich an sie denken. Ich habe keine Ahnung, ob es sich lohnt,
das in deinem Schreiben an Wayren zu erwähnen... aber du hast es
bestimmt schon losgeschickt, nicht wahr?« Er setzte sich auf und
lächelte sie an. »Natürlich hast du das. Mit der schnellsten aller
Brieftauben, stimmt’s?«
»Wayren sollte den Brief in spätestens vier
Tagen erhalten. Ich werde ihr noch einen zweiten mit deinen
Überlegungen schicken, denn schließlich habe ich gelernt, deine
Eindrücke niemals zu ignorieren.«
»Dann hast du in den mehr als fünfzig Jahren
zumindest etwas gelernt.«
Sie lachten gemeinsam, ein behagliches,
ungezwungenes Kichern, bei dem sich ihr Atem vermischte und ihre
Nasen sich berührten.
Als die Heiterkeit wieder aus ihrem Gesicht
verschwand, nahm Kritanu ihre Hand. »Du machst dir Sorgen um
Victoria.«
»Vero. Sie ist wie eine
Tochter für mich. Ihr Schmerz ist noch so frisch. Da gab es all
diesen Klatsch, all dieses Mitleid mit der jungen Ehefrau des
Marquis von Rockley, die so kurz verheiratet und so rasch verwitwet
war.«
»Die Leute glauben, dass er auf See gestorben
ist. Eine gute Erklärung.«
»Si, wenngleich es mehr
als ein paar Bemerkungen darüber gegeben hat, warum er den
Kontinent ohne seine frisch Angetraute verließ, wenn sie doch so
verliebt waren... Nicht einmal die Diener wissen, was wirklich
passiert ist. Und ihre Mutter erst recht nicht.Victoria hat das
alles mit tapfer erhobenem Kopf ertragen... Aber sie ist erst
zwanzig - viel zu jung für eine solche Bürde. Unser Leben ist auch
so schon schwer genug.«
»Es ist nicht deine Schuld, Eustacia. Was
geschehen ist, war nicht dein Fehler.«
Plötzlich brannten Tränen in ihren Augen. Er
kannte sie so gut. »Ich weiß das, aber trotzdem mache ich mir
schwere Vorwürfe. Wenn sie kein Venator geworden wäre... wenn ich
sie nicht dazu gedrängt hätte...«
»Du hast sie nicht dazu gedrängt. Sie war dazu
bestimmt … genau wie du. Wenn ich mich recht entsinne, hattest du
keinerlei Bedenken, die Verpflichtung anzunehmen... und warst alles
andere als zimperlich, als ein junger Mann zu dir kam, um dir
beizubringen, wie man mit der Technik des kalaripayattu kämpft und mithilfe von Yoga
meditiert. Du wolltest anfangs nichts mit mir zu tun haben, da ich
so viel jünger war als du mit deinen vierundzwanzig Jahren.« Er
strich zärtlich über die hässlichen, knotigen Gelenke ihrer
Altfrauenhand. »Und sieh nur, was du für die Welt getan hast,
sanam. Ohne dich... ohne deinen Mut und
deine Fähigkeiten wäre die Welt ganz anders als sie ist. Erinnerst
du dich an jenen Weihnachtsabend in Venedig? Eustacia... wenn du
damals diese Wächtervampire nicht aufgehalten hättest, wäre die
ganze Stadt verloren gewesen.«
»Und Lilith hätte die Goldene Spange in den
Händen gehalten.« Der Anflug eines Lächelns umspielte ihre Lippen.
»Wir haben ihre Pläne mehr als einmal vereitelt, nicht wahr,
amore mio?«
»Das haben wir. Du hast das.« Seine Augen, deren
Pupillen ebenso schwarz waren wie die Iris, glänzten vor
Ernsthaftigkeit. »Du, Max und die anderen... aber vor allen Dingen
du. Und jetzt ist Victoria am Zuge. Sie ist zu Großem bestimmt. Du
weißt es, denn sie trägt die Gabe der Venatoren dreifach in sich,
dank deinem Bruder und ihrer flatterhaften Mutter. Du musst sie
gewähren lassen.«
»Ich denke, es war letztendlich das Beste, dass
Victorias Mutter ihre Berufung zum Venator nicht akzeptiert hat.
Ich glaube nicht, dass Melly ihre Liebe zum gesellschaftlichen
Leben aufgegeben hätte, um stattdessen Vampire zu jagen.« Der
letzte Rest Leichtigkeit und Behaglichkeit fiel nun von ihr ab.
»Kritanu, es ist Max, um den ich mich am meisten sorge.«
»Du hast nichts von ihm gehört?«
Sie schüttelte bedächtig den Kopf. »Schon seit
über zehn Monaten nicht mehr. Ich war nicht ganz ehrlich zu
Victoria, als ich ihr sagte, dass Wayren bei ihm sei. Sie war in
Spanien und dann
in Paris, bis sie vor vier Wochen erfuhr, dass ich seit letztem
August, kurz nachdem er in Venedig eingetroffen war, nichts mehr
von Max gehört hatte.Wayren reiste nach Italien, um ihn ausfindig
zu machen... Aber das konnte sie nicht. Niemand scheint zu wissen,
wo er ist.« Sie hob den Blick und sah ihren sanam, ihren Geliebten an. »Sie schreibt, dass sich
die Tutela zu neuer Macht erhebt, und ich fürchte, dass es das Werk
dieses Vampirs namens Nedas ist.«
»Die Tutela hat das auch schon früher getan, und
wir haben sie immer besiegt.«
»Irgendetwas ist dieses Mal anders, Kritanu,
doch ich bezweifle, dass ich noch die Kraft oder die nötige
geistige Klarheit besitze, um herauszufinden, was es ist... was ich
tun muss. Ich bin alt und langsam. Und ich habe Schmerzen.«
»Victoria ist nun am Zuge, pyar. Du wirst helfen, soweit es dir möglich ist,
aber du kannst nicht alles tun. Und sorge dich nicht um Max. Er
trägt eine vis bulla, obwohl er nicht dazu
geboren wurde. Er gehört zu den wenigen, die den Test auf Leben
oder Tod bestanden und sich damit das Recht dazu erworben haben.
Dafür gibt es einen Grund.«
»Ich weiß das alles.Trotzdem habe ich Angst um
ihn.«