Kapitel 25
In welchem alles klar wird
Als Max spürte, wie die Klinge auf Akvans Obelisken traf, erfasste ihn eine Woge der Erleichterung.
Es war vollbracht.
Die mächtige Ausholbewegung mit dem Schwert hatte ihn aus der Balance gebracht, und als er wieder sicheren Stand unter den Füßen hatte, stürmten bereits die Vampire auf ihn zu.
Max erhaschte einen flüchtigen Blick auf den fassungslosen, den Mund zu einer wilden Fratze verzogenen Nedas, und Zorn übermannte ihn; Zorn über das, was er getan hatte, was zu tun ihn diese Kreatur gezwungen hatte. Er wirbelte mit dem Schwert, das aus purem Silber gefertigt war, um die eigene Achse und köpfte einen der Vampire, die ihn zu attackieren versuchten.
Ein weiterer kam auf ihn zu, und er begegnete ihm auf dieselbe Weise, dann noch einer und noch einer.Auf Nedas’ zornentbrannten Befehl hin kletterten sie aus dem Zuschauerraum auf die Bühne. Es waren zu viele, um gegen sie alle zu kämpfen, und Max wusste, dass es nicht lange dauern würde, bevor sie ihn überwältigten, aber bis dahin würde er seine reuevolle, wahnsinnige Verbitterung nutzen und seinen Rachedurst stillen, solange er konnte.
Er würde das tun, was er sich seit fast einem Jahr hatte versagen müssen.
Ein Jahr lang - eine ganze Ewigkeit - hatte er diese verdorbenen Kreaturen, diese Vampire verehrenden Mitglieder der Tutela beobachten, mit ihnen leben, mit ihnen scherzen, vortäuschen, einen gemeinsamen Plan zu verfolgen, sogar Liebe zu einem von ihnen vorgaukeln müssen. Er hatte seine Verachtung, seinen Abscheu unterdrücken müssen, und an manchen Tagen war er kurz davor gewesen, zu explodieren.
Nun hatte er seinen Plan erfolgreich zu Ende gebracht und würde reinen Gewissens sterben. Sollten Beauregard und Nedas den Rest unter sich ausmachen.
Aber Victoria würde die Venatoren zum Sieg über beide führen.
Das Schwert vibrierte in seiner Hand, doch selbst mit dieser gesegneten Waffe, die eigens dafür geschmiedet war, das Böse zu unterwerfen, und in deren Griff sich eine Phiole mit Weihwasser befand, konnte er sie nicht alle zurückschlagen. Er war sowohl geistig als auch körperlich zu erschöpft, um seine Fähigkeiten im qinggong einzusetzen und mit ihrer Hilfe durch die Luft zu springen und zu gleiten, so wie es ein Imperialvampir tun würde.
Doch sein Körper war darauf konditioniert, zu kämpfen; obwohl Max wusste, dass er diesen Ort nicht lebend verlassen würde, dass er sein eigenes Todesurteil unterschrieben hatte, als er mit dem Schwert gegen den Obelisken ausgeholt hatte, kickte und schlug und köpfte er, als gäbe es noch Hoffnung.
Doch am Ende warfen sie ihn zu Boden; er trat mit den Fü ßen nach den Untoten, die sich auf ihn werfen wollten, und kämpfte darum, wieder hochzukommen, als er plötzlich etwas entdeckte, das ihn alles andere vergessen ließ.
Über der Bühne.
Victoria.
Etwas warf sich gegen ihn, holte ihn zurück, dann kippte wieder alles weg, wurde schwarz, bevor ihn Vergeltung suchende Hände und Fäuste erneut in die Realität zwangen. Und die Tatsache, dass Victoria noch immer hier war.
Das Schwert war fort; er hatte es fallen lassen und war nun der Gnade der Untoten ausgeliefert.
Sie hatte nicht auf ihn gehört.Trotz allem, was er getan hatte, trotz des Opfers, das gebracht worden war, hatte sie sich über seine Worte hinweggesetzt.
Hände rissen an ihm; Fangzähne blitzten, Augen funkelten rot. Sie zerrten ihn auf die Füße, stießen ihn in der Mitte der Bühne vor Nedas.
Jeden Moment würde der Vampirprinz befehlen, ihn zu köpfen, oder seinen Untoten erlauben, ihn zu zerreißen. Sie hatten ihn, selbst als sie sich noch nicht sicher waren, ob sie ihm trauen konnten, wegen Liliths Bissmalen nie zuvor angefasst. Doch dieser zweifelhafte Schutz würde ihn heute Nacht nicht retten.
Und wenn er erst einmal tot war, gäbe es niemanden mehr, um Victoria zu helfen.
Max richtete den Blick auf Nedas’ Nase, sich davor hütend, in dessen hypnotisierende Augen zu sehen.
»Woher wusstest du es?« Nedas’ Stimme war trügerisch glatt und weich. Im Zuschauerraum trat wachsame Stille ein. Das einzige Geräusch war Max’ harsches Atmen. »Ich war der Einzige, der wusste, wie Akvans Obelisk zerstört werden kann.«
Max wagte nicht aufzusehen, auch wenn er darauf brannte, festzustellen, wo Victoria war und was sie tat. Ob sie Vernunft angenommen und das Weite gesucht hatte. Er wollte ihr zubrüllen, sie solle verschwinden. Fliehen. Er wollte sie schütteln, bis ihr langer, weißer Hals brach.
Stattdessen musste er sich auf Nedas konzentrieren und ihn so lange wie möglich ablenken.
»Aber er wurde zerstört, und das nicht von dir.« Max’ Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren hohl. »Offensichtlich hast du dich verrechnet.«
Nedas’ Hand schnellte nach vorn und legte sich um Max’ Hals. Lange Nägel kratzen über die empfindsame Haut neben seiner Kehle, dann spürte er, wie sie sich in sein Fleisch gruben. »Wer hat es dir gesagt?«
»War meine Rückkehr in die Tutela nicht als ein Geschenk an dich gedacht?« Der brutale Griff um seinen Hals ließ seine Worte krächzend klingen. »Vielleicht solltest du darüber nachdenken, wer es dir angeboten hat.«
Es dauerte einen Moment, dann begriff Nedas.
»Lilith?« Der Vampir war so fassungslos, dass er Max von sich stieß, sodass sein Kopf schmerzhaft nach hinten ruckte. »Meine Mutter hat einen Spion geschickt, um Akvans Obelisken zu zerstören?«
»Warum sonst sollte sie einem Sohn wie dir ein Geschenk machen?« Max brachte ein spöttisches Lächeln zustande. »Sie empfindet so viel Liebe für dich wie du für sie. Wie es scheint, hat sie dir den Vorfall in Athen nicht vergeben.«
»Wie kann sie es wagen! Mit dem Obelisken hätte ich die Welt regiert. Und was hat sie dir als Gegenleistung versprochen? Ewiges Leben? Nun, dieser Hoffnung werde ich hier und jetzt ein Ende bereiten.«
Max hatte mit seinem Angriff gerechnet. Er spannte die Muskeln in seinen trügerisch erschlafften Beinen an, dann versetzte er, sich an seinen Häschern abstützend, Nedas mit all seiner Kraft einen Tritt, dass dieser in die Luft und von der Bühne flog.
Im selben Moment kam wie einstudiert etwas von oben heruntergesaust und krachte auf die Traube von Vampiren hinter Max. Er brauchte nicht länger als eine Sekunde, um zu begreifen, dass es eine der schweren Leinwandkulissen war, deren massiver Holzträger direkt auf vier der Untoten gelandet war und sie zu Boden geschmettert hatte.
Victoria, natürlich.
Max riss sich von seinen verblüfften Wächtern los und griff nach seinem Pflock - aber er war nicht da. Er hatte ihn vorhin Victoria überlassen. Also trat er stattdessen nach einem Vampir, blockte einen anderen ab, der sich auf ihn stürzen wollte, dann schoss er herum und hielt nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau. Er musste Victoria finden.
»Max!« In diesem Moment hörte er sie rufen und hob noch rechtzeitig den Blick, um zu sehen, wie sie sich halb kletternd, halb rutschend an einem Seil herunterließ.
Als sie näher kam, ließ sie etwas fallen, und er fing den Pflock auf, als hätten sie es zuvor geprobt, wirbelte herum und rammte ihn dem Vampir, der gerade seinen Arm packte, ins Herz.
Max rannte auf die Seitenbühne zu, wo Victoria unbeholfen gelandet und liegen geblieben war, da sah er Nedas über den Bühnenrand klettern. Für einen winzigen Moment geriet er in Versuchung, doch dann hielt er weiter aufVictoria zu. Es war wichtiger, sie sicher hier rauszubringen, als seinem Rachedurst nachzugeben.
Aber diese Bestie in die Hölle zu schicken... Max schloss die Finger mit aller Kraft um den Pflock.
Er warf einen Blick hinter sich. Die rot umringten Augen vor Hass lodernd, kam Nedas auf ihn zu. Er flog geradezu über die Bühne, und die anderen Vampire wichen ihm hastig aus. Max nahm aus dem Augenwinkel ein Aufblitzen von Silber wahr, wandte den Kopf und entdeckte, dass Victoria ein Schwert in der Hand hielt - das Schwert. Ihre Miene zeigte Entschlossenheit, ihre Augen waren von derselben Trauer und Wut verdunkelt, die auch ihn beseelten. Selbst ohne ihre vis bulla sah sie aus wie eine Kriegerin.
»Er gehört mir!« Sie lief los, doch lag in ihren Schritten nichts von ihrer früheren Anmut und Kraft.
Max zögerte; er verstand ihr Bedürfnis, aber sie war kaum in der Lage, das Schwert zu heben. Er nahm hinter sich eine Bewegung wahr, drehte sich um und fand sich zwei Vampiren gegenüber, die ihm den Weg versperrten.
Er hatte keine andere Wahl, als sich mit ihnen zu schlagen, aber ihm fiel auf, dass seine Bewegungen langsamer und seine Atmung angestrengter wurden.Tatsächlich verfehlte er das Herz des einen beim ersten Mal, sodass es ihn wertvolle Sekunden und Energie kostete, noch einmal auszuholen und den Untoten zu pfählen.
Mit einem lauten Aufschrei stürmte Victoria, das Schwert unbeholfen umklammernd, auf Nedas zu. Die Klinge war aus reinem Silber, und die Vampire machten vor ihr Halt, wichen jedoch nicht zurück.
Als sie ihn erreicht hatte, schnellte seine Hand nach vorn, um sie zu ergreifen, und Victoria geriet ins Stolpern. Max beobachtete entsetzt, wie sie die Kontrolle über das Schwert zu verlieren drohte, es alarmierend nach unten sackte, sodass die Spitze über den Boden schleifte... dann voller Unglauben, wie sie ihre Stolperbewegung nutzte, um sich unter Nedas’ Arm hinwegzuducken und mit erstaunlicher Wendigkeit hinter seinen Rücken zu schlüpfen. Sprachlos vor Bewunderung realisierte er, dass die junge Frau ihr Straucheln nur vorgetäuscht hatte.
Mit offensichtlicher Mühe und gleichzeitig voller Genugtuung richtete Victoria sich, noch bevor Nedas Gelegenheit hatte, sich umzudrehen, hinter dem Vampirprinzen auf, dann vollführte sie mit dem Schwert dieselbe, wenn auch langsamere, tödliche Bewegung wie Max wenige Stunden zuvor.
Die Klinge durchtrennte Nedas’ Hals, noch bevor dieser wusste, wie ihm geschah, und einen erstarrten, verblüffenden Augenblick später zerbarst er zu übel riechender Asche.
Max war auf Victoria zugerannt, um ihr zu helfen; doch nun blieb ihm nichts weiter zu tun, als sie zu schnappen und sie beide in Sicherheit zu bringen, bevor Nedas’ Gefolgsleute begriffen, was geschehen war.
Er schlang ihr den Arm um die Taille und hob sie mitsamt dem Schwert hoch, dann jagte er zwischen zwei wie versteinert dastehenden Vampiren hindurch zur Seitenbühne. Hinter ihm ertönte ein gebrüllter Befehl - offensichtlich Regalado, der die Untoten zum Handeln aufforderte; Max verlangsamte sein Tempo nicht.
Sie rannten hinter die Kulissen, wobei Max Victoria noch immer trug, da sie sich nicht auf den Beinen halten konnte und er sich sicher war, dass die Kraft, die sie aus dem Berühren seiner vis bulla geschöpft hatte, inzwischen verbraucht sein musste.
Zum Glück kannte er sich in dem Opernhaus aus, denn die vielen verschiedenen Korridore hatten die Eigenart, plötzlich zu enden, sich zu verzweigen oder sich zu kreuzen. Doch er wusste immer, wo sie gerade waren. Die Geräusche sich nähernder Vampire echoten hinter ihnen durch die Flure, zwar in einiger Entfernung, aber trotzdem ihrer Spur beharrlich folgend.
Als sie dann endlich die Hintertür erreichten - jene, die die Vampire benutzten, weil sie durch Büsche, Bäume und den kleinen Hügel, in den das Theater gebaut war, verborgen lag - setzte Max Victoria ab.
Noch immer mit dem Schwert in der Hand, trat sie von ihm weg, dann sahen sie einander schwer atmend an, die relative Sicherheit einer Tür nach draußen nur eine Armlänge entfernt. Alles war still - selbst die Schritte ihrer Verfolger waren verklungen.
Ein einziger Blick genügte Max, um bestätigt zu bekommen, was er bereits gewusst hatte: Sie mochte ihm das Leben gerettet haben, doch hatte sie dies nur aus Prinzip getan.
Sie würde ihm ebenso wenig vergeben, wie er sich selbst vergeben konnte.