Kapitel 14
In welchem Mrs.Withers sich doppelt gut amüsiert
Victorias erster Eindruck von Rom verursachte ihr ein unerwartetes Frösteln. Während sie diese geschichtsträchtige Stadt aus der Ferne betrachtete, beschlich sie eine düstere Vorahnung, so als wäre ihr Anblick der Vorbote schrecklicher Ereignisse.
Aber als das Fuhrwerk, das sie und die anderen vom Hafen Ostias nach Rom befördert hatte, schließlich anhielt und sie ausstieg, war das Gefühl verschwunden - sie hätte damit gerechnet, dass die Erde unter ihren Füßen bebte an einem Ort mit einer derart düsteren Aura. Stattdessen hatte sie nun das Gefühl, als würde ihr Bewusstsein überwältigt von all den Geräuschen und Gerüchen, der Faszination, die die Straßen Roms auf sie ausübten.
Aber so verlockend die Stadt auch war,Victoria bekam wenig Gelegenheit, sie zu erforschen oder zu genießen. Binnen eines Tages hatte Eustacia sie zusammen mit Oliver,Verbena und einem Gefolge italienischen Personals in einem kleinen Haus einquartiert; es lag etwa fünfzehn Minuten von dem Ort entfernt, an dem die Matriarchin der Gardellas selbst wohnte. Genau wie in Venedig hielten Victoria und Eustacia es für klüger, ihre Verbindung geheim zu halten.
Victoria wusste nicht, was aus Sebastian geworden war.
Nach ihrem spielerischen Schwertkampf und den intimen Geständnissen waren sie sich anschließend nur noch beim Essen begegnet, und als Victoria zusammen mit ihren Gefährten in Ostia das Schiff verlassen hatte, war er nirgends zu sehen gewesen. Wie es schien, hatte er eine andere Transportmöglichkeit in die Stadt aufgetan.
Sie war froh, keinen Kontakt zu ihm zu haben, denn sie wusste noch immer nicht, wie sie auf seine Worte reagieren sollte. Was meinte er damit, dass er seinen Vater an die Vampire verloren hatte? Dass sie ihn getötet hatten? Oder er möglicherweise selbst zu einem von ihnen geworden war? Es war ebenso denkbar, überlegte sie, dass sein Vater ein Mitglied der Tutela war. Das würde erklären, warum Sebastian so viel über sie wusste.
Das ergab Sinn. Es würde seine Verbindung zu Polidori erklären und auch seine Behauptung, dass er wisse, wo die Tutela hier in Rom zusammenkommen würde.
Er meldete sich nach ihrer Ankunft drei Tage lang nicht bei ihr, sondern ließ sie schmoren, bis sie sich schließlich zu fragen begann, ob sie nur hergelockt worden waren, um sich von ihm manipulieren zu lassen. Doch dann schickte er ihr am vierten Tag die Nachricht, dass er sie am Nachmittag besuchen würde.
Sie erwartete ihn im Salon. Sie hätte den winzigen Raum für eine Besenkammer gehalten, wären da nicht die beiden Sessel und der kleine Tisch gewesen, die es laut Aussage der Italiener, die ihr das Haus vermietet hatten, zu einem Salon machten.Was auch immer es darstellte, es war zu eng für sie beide. Das Zimmer schien noch weiter zusammenzuschrumpfen, als Sebastian schließlich hereinkam und die Tür hinter sich schloss.
»Ich vermute, du hast die letzten drei Tage sehr hart gearbeitet, um den geheimen Versammlungsort der nächsten Tutela-Zusammenkunft ausfindig zu machen und festzustellen, wie man mich am besten dort einschleust«, lautete ihre Begrüßung.
Er zog die Augenbrauen zusammen, und seine Worte waren trockener als Kreide. »Wie kommst du denn auf diesen Gedanken? Ich hatte andere Dinge zu tun, wie zum Beispiel Bekannte zu treffen, die Oper zu besuchen und eine Münze in den Trevi-Brunnen zu werfen, um mir etwas zu wünschen. Aber was nun das Treffen der Tutela anbelangt, ja, du wirst daran teilnehmen. Ich hoffe, du hattest dir für heute Abend noch nichts vorgenommen.«
»Eigentlich hatte ich selbst auch Logenplätze für die Oper, aber ich werde natürlich verzichten und stattdessen mit dir zu der Versammlung gehen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«
»Da bin ich anderer Meinung.«
Noch bevor sie ergründen konnte, was er damit meinte, kam er schon auf sie zu, umfasste ihre Schultern, drängte sie gegen die hohe Rückenlehne ihres Sessels und schlang die Finger darum, um sie an Ort und Stelle zu halten. Dann beugte er sich zu ihr, bedeckte ihren Mund - den sie zu einem überraschten Protest geöffnet hatte - mit seinem, während er ein Knie auf das Kissen neben ihrem Rock schob.
Sie hob ihm das Gesicht entgegen, sodass sich das spitze Mittelteil der Lehne in ihr Genick bohrte, während sie seinen Kuss mit Lippen empfing, die sich noch weiter teilten, um ihn zu schmecken. Sie spürte, wie sich die Masse ihres Haars, das an ihrem Hinterkopf hochgesteckt war, mit jeder Bewegung ihres Kopfes weiter löste, während er gegen den Holzrahmen und die Samtpolsterung rieb, und das scharfe Pieken zweier Haarnadeln, die in ihre Kopfhaut stachen.
Ein warmes Gefühl der Mattigkeit erfasste ihre Glieder, und sie seufzte. Er schmeckte so golden und appetitlich wie er aussah. Sein Knie neben ihr auf dem Sessel bewirkte, dass sie leicht zur Seite kippte und sich gegen sein robustes Gewicht lehnte, während ihre linke Hand über seinen Hosensaum strich.
Sebastian nahm den Mund von ihrem und küsste sie entlang der Kinnlinie bis zu ihrem Ohr. Seine Atmung hatte sich unüberhörbar beschleunigt, und der Druck seiner Finger an ihren Schultern war stärker geworden, doch dann hörte er mit einem letzten kleinen Kuss auf ihren Mundwinkel abrupt auf. Er stemmte sich von dem Sessel, sah sie an und sagte: »Das war eine freundliche Revanche für deine kleine Vorstellung nach unserem Schwertkampf.«
Sie musste nicht erst fragen, was er meinte; ihr Herz schlug viel zu heftig, und sie fühlte sich am ganzen Körper warm und feucht.
»Ich bin jederzeit gerne bereit, so weit zu gehen, wie du das möchtest. Du musst nur eine Entscheidung treffen,Victoria. Das Einzige, was uns daran hindert, bist du.«
Sie nickte. Es war die Wahrheit. Und sie wusste noch nicht einmal, warum sie sich zurückhielt. Sie war schließlich keine Jungfrau mehr und hatte das Liebesspiel mit Phillip sehr genossen. Aber er war fort, und was blieb schon noch an Freuden für sie in diesem Leben?
»Wir sollten jetzt über die Tutela-Versammlung sprechen«, meinte Sebastian, so als hätte es den Zwischenfall nie gegeben. »Heute Abend findet eine Zusammenkunft statt, die zwar eher eine gesellschaftliche Angelegenheit ist, bei der jedoch viele Mitglieder der Tutela anwesend sein werden. Es handelt sich um keine rituelle Zeremonie; Conte Regalado, einer der prominentesten Tutelas, veranstaltet dieses Treffen, um weitere Anhänger zu gewinnen.«
»Ich würde gerne hingehen.«
»Das war mir klar. Sie rekrutieren im Moment wie verrückt, Victoria, und ihr Bestreben, immer noch mehr Gefolgsleute um sich zu scharen, hat beinahe etwas Hysterisches, Panisches. Ich glaube, dass was auch immer Polidori durch seinen Kontakt zu ihnen erfahren hat, mit ihrem Bedarf an weiteren Mitgliedern zusammenhängt. Sie bereiten sich auf etwas vor - vermutlich auf die Aktivierung von Akvans Obelisken.
Die Versammlung heute Abend findet unter dem Vorwand statt, dass Regalado sein neuestes Porträt enthüllen will - er hält sich selbst für einen herausragenden Künstler. Es werden Tutela-Mitglieder dort sein, und sie werden nach Gelegenheiten Ausschau halten, Interessenten für ihre Sache zu gewinnen, deshalb werden dir ein paar entsprechende Worte hier oder da sicherlich zum Vorteil gereichen. Soweit ich weiß, wird er ab acht Uhr Besucher empfangen.«
»Ich nehme an, falls ich dich fragen würde, wie du an all diese Informationen gelangt bist, würdest du mir die Antwort schuldig bleiben?«
»Deine Intelligenz, Entschlossenheit und nutzlose Tugendhaftigkeit beeindrucken mich stets aufs Neue.« Er sah sie für einen langen Moment eindringlich an, und sie spürte, wie ihr eine Hitzewelle über Dekolleté, Hals und Wangen lief, als sie die unverhohlene Botschaft in seinen Augen las: Verfluchte Tugendhaftigkeit!
»Du wirst also mit mir kommen?«, fragte sie, sobald sie es schaffte, den Blick von ihm loszureißen.
»Um ehrlich zu sein, nein. Es wäre nicht ratsam, wenn ich dort heute auftauchen würde - Dz-dz! Frag nicht warum, mein Schatz. Ein Mann muss ein paar Geheimnisse haben.«
»Ein paar Geheimnisse? Sebastian, an dir ist nichts, was nicht geheimnisvoll wäre.«
Er zog die Brauen hoch. »Tatsächlich? Und ich dachte, mein Verlangen nach dir wäre ziemlich offenkundig.«
Mit seinen unverblümten Worten kehrte die Röte in Victorias Wangen zurück. Sie hatte ihn das nie zuvor auf diese schonungslose, unverfrorene Weise aussprechen hören. Aber sie würde es einfach ignorieren. »Ich werde also allein hingehen?«
»Nein, das wäre im besten Fall ungeschickt. Ich kenne zufällig zwei junge Frauen, die Freundinnen von Conte Regalados Tochter Sarafina sind. Sie werden heute Abend teilnehmen und zeigten sich überaus erfreut, dich in ihrer Mitte zu begrüßen. Als die frisch verwitwete Mrs. Withers natürlich, die Trost sucht in ihrer Trauer um ihren Gatten. Zusammen mit ein wenig Ablenkung und vielleicht der Aussicht auf Unsterblichkeit.«
»Zwei junge Frauen?« Victoria warf ihm einen wissenden Blick zu. »Das erklärt, wo du die letzten drei Tage gesteckt hast.«
»Tut es das?« Er lächelte hintergründig, und sie stellte zu ihrer Verärgerung fest, dass sie... nun ja, verärgert war.
»Möglicherweise erfahre ich heute Abend in ihrer Gesellschaft ja ein wenig mehr über deine vielen Geheimnisse«, erwiderte sie spitzbübisch lächelnd. »Das dürfte ziemlich interessant werden.«
»Hmmm... vielleicht habe ich den Mund ja zu voll genommen.« Doch er grinste, und seine Tigeraugen blitzten humorvoll. »Ihre Namen sind Portiera und Placidia Tarruscelli, und sie haben versprochen, dich um acht Uhr abzuholen. Offensichtlich schickt es sich nicht, bei solch einem Ereignis pünktlich zu erscheinen.«
»Ich stelle fest, dass sich die Crème de la Crème Roms nicht von der Londons unterscheidet«, bemerkte Victoria. »Nun gut, dann werde ich bereit sein, wenn sie um acht Uhr eintreffen. Ich danke dir für deine Unterstützung bei dieser Sache, Sebastian.«
Er nahm ihre Hand und hob sie zu einem für seine Verhältnisse recht züchtigen Kuss an seine Lippen. »Ich hoffe, dass du noch immer dankbar bist, wenn das alles vorüber ist.«

Portiera und Placidia Tarruscelli waren dunkeläugige, schwarzhaarige Schönheiten mit sinnlichen Figuren, und beide wiesen neben ihren üppigen, rosafarbenen Lippen ein kleines Grübchen auf; Portiera auf der linken Seite und Placidia auf der rechten. Sie waren Zwillinge.
Victoria konnte nicht umhin, sich zu fragen, wie gut Sebastian sie tatsächlich kannte.
Alles an ihnen war doppelt: ihre Roben (eine granatrot, die andere malvenfarben), ihre Pompadours (einer mit Perlen bestickt, der andere mit Jetperlen)... selbst ihre Komplimente zu Victorias frühlingsgrünem Kleid erfolgten in rascher Abfolge mit nur leichter Abweichung - der einen gefiel der Spitzenbesatz am Mieder, die andere begeisterte sich für die dreilagigen Rüschen am Saum.
Als sie ihnen während der Kutschfahrt zur Villa der Regalados gegenübersaß, hatte Victoria das Gefühl, sich mit zwei zwitschernden Katzen zu unterhalten - Katzen zwitscherten zwar nicht, aber sie bewegten sich ebenso geschmeidig und hatten denselben schläfrigen Blick wie die Schwestern, während die unaufhörlichen, von Gekicher und Quieken unterbrochenen Kommentare an das Zwitschern eines Vogels denken ließen.
Victoria sprach fließend Italienisch, die Zwillinge ihrerseits Englisch, sodass ihre Unterhaltung zweisprachig und ungezwungen ausfiel. Und es war äußerst schwierig, ihr zu folgen.
Während der eine Zwilling eine Frage über London stellte, verfolgte der zweite einen Gedankengang zum Thema Mode und wollte andere Dinge von ihr wissen. Außerdem sprangen sie, um ihre Verwirrung noch zu steigern, in ihrem Geplapper vor und zurück, nahmen im stetigen Wechsel den Gesprächsfaden der Schwester auf, bis Victoria schließlich überhaupt nicht mehr wusste, wann sie gerade wem antwortete.
Sie war überglücklich, als sie schließlich bei der Villa ankamen.
Victoria und die Tarruscelli-Zwillinge gingen an den traditionellen, römischen Springbrunnen, die den bogenförmigen Eingang zierten, vorbei ins Innere des geräumigen Hauses, wo sie, nachdem sie angekündigt worden waren, den Ballsaal betraten.
Obwohl in einer Ecke unaufdringlich ein Streichquartett spielte, war der Saal an diesem Abend nicht zum Tanz dekoriert. Stattdessen hingen an sämtlichen Wänden Bilder, die ganz offensichtlich der Hand eines einzigen, mittelmäßigen Künstlers entstammten. Offensichtlich waren Sebastian und Victoria einer Meinung, was Regalados Können als Maler betraf.
In der Mitte einer der kurzen Wände des rechteckigen Saals befand sich eine kleine Empore, auf der während eines Balls das Orchester spielen würde, wo jedoch an diesem Abend Regalados jüngstes Werk seiner Bewunderer harrte.
Victoria hätte beinahe laut gelacht, als sie es sah. Es war tatsächlich ein Porträt, und zwar von den Tarruscelli-Zwillingen mit ihren Grübchen, die ein hübsches, blondes Mädchen im selben Alter und mit denselben Proportionen flankierten. Sie waren als die drei Parzen dargestellt, jede von ihnen in einem fließenden, griechischen Gewand, das hier eine Schulter und dort eine recht üppige Menge Busen freiließ. Sechs Brustwarzen zeichneten sich unter ihren hauchdünnen Kleidern ab.
»Erkennen Sie mich?«, fragte neben ihr jemand in von einem starken Akzent eingefärbten Englisch.
Sie drehte sich um. »Sie müssen Signorina Regalado sein, die Tochter des Künstlers.«
»Si, und Sie müssen l’inglese sein, die Freundin, die Portiera und Placidia heute mitgebracht haben. Emmaline Withers? Ich freue mich so sehr, Sie kennen zu lernen, dass ich nicht warten konnte, bis sie uns einander vorstellen. Ich kam immediato, um mit Ihnen zu sprechen.«
Victoria suchte den Saal nach einer Fluchtmöglichkeit ab; das Letzte, was sie an diesem Abend brauchte, war noch ein albernes junges Mädchen, das sie mit Beschlag belegte. Sie hatte eine Aufgabe zu erledigen. »Grazie für Ihre Gastfreundschaft, Signorina -«
»Oh, favore, nennen Sie mich Sara! Ich freue mich so, mein inglese mit einer Frau sprechen zu können. Männer kennen die Worte nicht, die wirklich importante sind. Solche wie Spitze und Rüschen, Handschuhe oder Volants und -«
»Wo ist eigentlich Ihr Vater? Ich würde ihm gern zu seinem bezaubernden Kunstwerk gratulieren«, unterbrach Victoria sie, bevor sie noch eine Auflistung jedes einzelnen Modebegriffs unter der Sonne über sich ergehen lassen musste. »Er hat Sie so wunderhübsch gemalt.«
»Mein amore hat dasselbe gesagt.« Freudestrahlend hakte Sara sich bei Victoria unter. »Ich werde ihn Ihnen später vorstellen, doch zuerst möchte ich, dass Sie meinen Vater und zwei Ihrer Landsleute kennen lernen. Die beiden haben nicht den geringsten Wunsch, mit mir über Mode zu parlieren, deshalb werde ich Sie den beiden präsentieren und sie geloso machen.«
Als Sara schließlich ihren Vater entdeckte, der zusammen mit drei weiteren Männern auf der anderen Seite des Ballsaals stand, zerrte sie Victoria buchstäblich zu ihnen hinüber. Diese verspürte natürlich nicht den geringsten Widerwillen, den Grafen kennen zu lernen, denn falls er wirklich eines der wichtigeren Mitglieder der Tutela war, konnte es ihr nur von Nutzen sein, mit ihm Freundschaft zu schließen.
»Aah, Sarafina, wer ist denn diese anmutige Schönheit, die du uns da bringst?«, fragte er, sich von seinen Gesprächspartnern abwendend.
»Padre, dies ist meine neue Freundin, Mrs. Emmaline Withers.«
Der kleine, untersetzte Mann, auf dessen Kopf nur noch wenig von einem ehemals dunklen Schopf übrig war - was er jedoch kompensierte, indem er einen vollen, buschigen Bart mitsamt Schnauzer vor sich hertrug -, verbeugte sich, dann ergriff er Victorias Hand. Er küsste sie mit weichen, nassen Lippen und sah ihr dabei mit äußerst interessierten, dunklen Augen ins Gesicht. Was keine Überraschung war, wenn man bedachte, dass dieser Mann die Brustwarzen seiner Tochter und ihrer Freundinnen malte. »Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen. Darf ich Sie einigen meiner Freunde vorstellen?«
Das war der Moment, in dem Victoria sich umdrehte und das sehr verdatterte, sehr vertraute Gesicht George Starcassets erblickte.