Kapitel 16
In welchem ein kleiner italienischer Salon einige Turbulenzen erfährt
Victoria war nicht überrascht, Sebastian nach ihrer Rückkehr in der Villa vorzufinden. Es schien genau zu der Entwicklung der Ereignisse zu passen. Er erwartete sie in ihrem kissengroßen Salon, und für einen kurzen Moment bedauerte sie, dass sie nicht auf Georges Andeutungen, hereingebeten werden zu wollen, eingegangen war.
Es war jedoch nur ein kurzer Moment, auf den der deutlich inbrünstigere Wunsch folgte, Silvio erlaubt zu haben, sie heimzubringen und sie nach drinnen zu begleiten. Die Gegenwart des aufmerksamen, gut aussehenden Italieners hätte Sebastian sein erwartungsvolles Lächeln vom Gesicht gewischt.
Tatsächlich hatte Victoria gute Lust, es ihm mit der Hand fortzuwischen. Sie war gerade wirklich nicht gesellschaftstauglich, wie ihre Mutter sagen würde. Aber Sebastian würde damit leben müssen, weil er ohne Einladung hier aufgetaucht war.Weil er sie heute Abend allein dorthin geschickt hatte. Und weil er ihr nicht alles sagte, was er wusste.
Er forderte sein Schicksal geradezu heraus.
»Ich hoffe, ich habe dich nicht allzu lange warten lassen«, begrüßte sie ihn.
Er hatte schon vor ihrer Ankunft Mantel und Handschuhe ausgezogen, die Krawatte abgelegt und die beiden Knöpfe seines Hemdkragens geöffnet. Allein schon wegen dieser Anma ßung sollte sie wütend sein. »Nein, gar nicht, ma chère... tatsächlich bin ich davon ausgegangen, dass es dich weitaus mehr Zeit kosten würde, all diese geifernden jungen Böcke loszuwerden, die du sicherlich dort getroffen hast. Oder war es ein ereignisloser Abend?«
»Ich musste George Starcassets Annäherungsversuche abwehren, der mich während der Heimfahrt in der Kutsche küssen wollte.«
»Sollte ich erfreut sein, dass es lediglich Versuche waren? Und dankbar, dass meine eigenen Bemühungen in dieser Hinsicht erfolgreich waren?«
»Und ich habe einen Mondscheinspaziergang mit Baron Galliani heil überstanden. Nicht, dass das besonders schwierig gewesen wäre.«
»Galliani?« Sebastians Lächeln erstarb für einen Moment, dann kehrte es in seiner alten, gelassenen Sinnlichkeit zurück.
»Ein Freund von dir?«
»Nicht wirklich. Aber abgesehen davon, dass du beschlossen hast, dich für mich aufzusparen... Wie war dein Abend?«
»Ach, ich habe mich für dich aufgespart? Das war mir gar nicht bewusst. Im Übrigen war mein Abend voller Überraschungen. Ich versuche gerade, herauszufinden, ob du von allem Kenntnis hattest oder nur von einigem.«
Victoria ging in dem Zimmer auf und ab, was zehn Schritte in die eine Richtung bedeutete, dann nach einer Kehrtwende zehn in die andere. Wenn sie vorsichtig war, konnte sie es vermeiden, die Armlehne des breiteren Sessels zu streifen.
Sebastian beobachtete sie eine Weile, dann wählte er unbekümmert grinsend die schmalere Sitzgelegenheit und ließ sich mit unverfrorener Unhöflichkeit darauf sinken, während sie weiter auf und ab tigerte. »Ich könnte mir andere, vergnüglichere Arten vorstellen, um Dampf abzulassen«, bemerkte er. »Du brauchst nur herzukommen.«
Sie blieb stehen. »Wie schade für dich, dass das im Moment das Letzte ist, was ich tun möchte.Wusstest du, dass George Starcasset heute Abend dort sein würde?« Sie stand neben seinem Sessel und sah zu ihm hinunter. Sein Hemd klaffte in einem langen, schmalen V auseinander, sodass ein paar gold- und bronzefarbene Haare hervorspitzten. Der intime Anblick brachte ihren Bauch wieder auf diese besondere Weise zum Kribbeln, und sie musste sich bewusst ermahnen, wegzusehen.
Und direkt in seine warmen, bernsteinfarbenen Augen.
»Komm her,Victoria.« Er streckte die Hand aus, um sie zu sich auf den Sessel zu ziehen. »Dies geht jetzt lange genug, und du bist, selbst wenn es dir nicht bewusst ist, nicht in der Stimmung für weitere Ausflüchte.«
Sie fiel - ließ sich fallen - über den harten Rahmen direkt auf seinen Schoß. Sie legte den Arm über die andere Seite des Sessels, fand Halt am Rand der Rückenlehne, während ihre Hüfte gegen die Seite gedrückt wurde, über die sie gestürzt war. Mit der anderen Hand hielt sie sich an einer Stelle hinter Sebastians Ohr fest … Aber sie dachte weder an das glatte Holz unter ihren Fingern noch an den schimmernden, verschlissenen Brokatbezug.
Nein, sie küsste Sebastian mit derselben Gier, die sie in seinen Augen gesehen hatte, bevor sie ihre schloss.
Das Prickeln in ihrem Bauch wurde zu einem heftigen Funkengestöber, als er den Arm losließ, an dem er sie zu sich gezogen hatte, und die Kuppen seiner Daumen und Zeigefinger unter ihre Brüste schob. Sie bog sich seinen Händen entgegen und verlagerte ihre Position auf seinem Schoß so, dass sie mit angezogenen Beinen auf einer Hüfte saß. Sie spürte, wie der Rhythmus, mit dem seine Daumen über ihre Brustwarzen streichelten, sie unter dem dünnen Stoff ihres Kleides zum Erschaudern brachte, und sie fühlte die Wärme seiner sanft behaarten Brust unter ihren Händen.
Victoria zog sein Hemd auseinander, öffnete es so weit, dass sie seine breiten, goldenen Schultern sehen konnte. Es gefiel ihm, wie sie die Finger über sein Brusthaar breitete: Sie erkannte es daran, dass er die Augen schloss und den Kopf gegen die Rückenlehne sinken ließ. Seine Haut schmeckte warm und ein bisschen salzig, sie roch nach Nelken, Rosmarin und Mann, und Victoria fühlte unter ihren Lippen den Puls an seinem Hals pochen.
Als sie die Hände weiter nach unten schieben wollte, um den Rest seines Hemds zu öffnen, hielt er sie fest und schlug träge lächelnd die Augen auf. »Wozu die Eile, mein Schatz? Wir haben beide lange auf das hier gewartet.« Er umfasste ihre Schultern und zog sie zu einem langen, schlüpfrigen Kuss an sich, dann ließ er die Hände zu den winzigen Ärmeln ihres Mieders gleiten und schob sie nach unten.
Gleichzeitig fiel auch das Dekolleté ihres Kleides, und ihre Brüste drängten lose und warm und bebend aus ihrem tief ausgeschnittenen Korsett.
Noch vor einem Jahr wäre Victoria entsetzt gewesen bei dem Gedanken, in Reiterstellung auf einem Mann zu sitzen und sich von ihm das Kleid bis zur Hüfte hinabziehen zu lassen, während er die Knöpfe am Rücken öffnete. Aber sie war ebenso wenig unschuldig, wie Sebastian ein korrekter Gentleman war.
Und er hatte Recht gehabt: Sie war nicht in der Stimmung, Desinteresse zu heucheln. Heute Nacht brauchte sie etwas - etwas, das sie die Ereignisse der letzten Wochen vergessen lassen würde.
Als er eine ihrer Brüste küsste, geschah dies so weich und zart, als wäre es nur sein Atemhauch; trotzdem spannte sich ihr Körper an, und eine Gänsehaut jagte über die Stellen, an denen er sie berührte. Er tat es noch einmal, wiederholte die sanfte Liebkosung und löste dieselbe Empfindung aus. Es war wie eine träge Brandung, die sachte, aber beharrlich durch sie hindurchwogte und dort, wo sie mit unter den Knien eingeklemmtem und gespanntem Rock auf ihm saß, warme Feuchtigkeit auslöste.
Ihr Kopf kippte nach hinten, und sie klammerte sich mit den Händen an seinen breiten Schultern fest. Sie waren warm und glatt und muskulös. Er küsste sie wieder, sein Mund nun fordernder, seine Lippen nass und feucht an ihrer Brustwarze. Sein Atem strich breitflächig über ihre Brust, als er tiefer und rauer zu keuchen begann und seine Finger sich fester in ihr Fleisch gruben.
Victoria fühlte, wie sie sich unten herum anspannte; fühlte die sengende Hitze zwischen ihren Beinen, wo sie sich gegen ihn presste. Sie rieb sich ein wenig an ihm, er stöhnte, sie rieb wieder.
»Und ich dachte immer, unser erstes Mal würde in einer Kutsche sein«, murmelte Sebastian. Er machte sich an ihrem Rock zu schaffen, schob ihn vom Saum aufwärts nach oben, bis er sich um ihre Taille bauschte, dann streichelte er flüchtig durch die Schichten von Seide, Spitze und Leinen über ihre Leisten.
Er griff hinter sie, schob die Hände unter ihren Rock und umfasste ihre Hüften, um sie so eng an sich zu ziehen, dass sie auf dem Sessel gegen ihn sank. Ihre Brüste drückten gegen seinen Oberkörper, und er neigte ihren Kopf zur Seite, um die Sehne zu küssen, die von ihrer Kinnpartie bis zur Schulter reichte. Ihre Vampirbisse waren längst verheilt, trotzdem war ihr Hals noch immer sehr empfindsam, empfindsamer als zuvor. Als er den Mund auf die glatte Haut dort legte, konzentrierte sich ihr ganzes Fühlen darauf.
Es war so anders als bei den abscheulichen, bösartigen Fangzähnen, die versucht hatten, ihr die Lebenskraft auszusaugen, und trotzdem beängstigend ähnlich. Alles wurde langsamer, während Sebastian ausgiebig und geschmeidig vom Ohr zur Schulter und wieder zurück knabberte, biss und leckte. Victoria bebte am ganzen Körper, wollte sich seiner Umarmung entwinden, um der Heftigkeit ihres Verlangens zu entfliehen, wollte sich gleichzeitig gegen ihn pressen, um mehr zu bekommen. Sie hatte die Augen geschlossen und die Hände von der Sessellehne genommen, war völlig verloren im überwältigenden Rausch körperlicher Wonne.
Dann glitten seine Finger nach unten und wieder unter ihren Rock; sie fanden ihren Weg durch den Schlitz ihrer Unterhosen, wo sie heiß war, pochend und feucht. Sie streichelten über ihr geschwollenes Fleisch, und die Intensität der Berührung ließ sie keuchend zusammenzucken.Wie hatte sie das vergessen können? Verzückung durchströmte sie, während seine Lippen, seine Zunge, seine Finger sie liebkosten und streichelten. Er wölbte von vorn die Handfläche um sie. Ihre Erregung wuchs, doch er behielt seinen stetigen Rhythmus bei.
Sie fühlte seinen Atem an ihrer Brust schneller werden, hörte sein Keuchen, als er den Mund von ihrer Haut nahm. Geschickt, oh, so geschickt reizten seine Finger sie fast bis zum Höhepunkt, dann zog er sie zurück, wartete, bis sie wieder ganz bei sich war; dann wieder hinein, um sie mit schlüpfrigen, sicheren Fingern sanft zu erforschen, bis er sie schließlich kommen ließ.
Nur mit Mühe unterdrückte Victoria einen Aufschrei; ein Teil ihres Bewusstseins erinnerte sich daran, dass sie im Salon waren, und sie vergrub den Kopf an seiner Schulter, während der Orgasmus sie mit sich riss.
So lange. Es war so lange her.
Sie fühlte sich schwach und ermattet und lebendig. Ihre Finger zitterten im Gleichtakt mit ihrer Atmung; dann merkte sie, dass er die Hände an seiner Hüfte bewegte, und sie versuchte, ihm zu helfen.
Aber als sie ihm das Hemd ausziehen wollte, hinderte er sie daran, indem er ihre Hände auf die Wölbung in seiner Hose legte und murmelte: »Nein, hier, wenn es dir nichts ausmacht«, mit einem Anflug von trockenem Humor in der Stimme. »Victoria.«
»Das ist eine sehr wirksame Taktik, um mich von meinen Fragen abzulenken«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während sie seine Hose öffnete. Als sie hineinfasste, war er heiß und groß und bereit unter ihren Fingern.
»Wegen George? Du ahnst die Antwort doch schon.«
»Du wusstest es.«
»Lass George nicht zwischen uns kommen«, raunte er heiser.
»Was ist mit Max?«
»Max auch?« Seine Finger hielten inne. »Also das ist der Grund.«
»Was?« Es dauerte einen Moment, dann lichtete sich der Nebel des Verlangens, als sie seinen ernsten Gesichtsausdruck sah.
»Für deine schnelle Kapitulation. Hast du mit ihm gesprochen?« Er beließ die Finger direkt unter ihren Brüsten an ihrem Korsett, das ihre Rippen einengte, aber sie waren still, und sein Mund wirkte schmal und distanziert.
»Er wird Regalados Tochter heiraten. Sag nicht, dass du das nicht wusstest.«
»Ich wusste es nicht.« Sebastian sah sie finster an, trotzdem schob er die Handflächen wieder unter ihre Brüste. »Ich begreife jetzt, und es ist wirklich ein Glück, dass ich keine Bedenken habe, eine Gelegenheit zu nutzen, die mir buchstäblich in den Schoß fällt.« Sein Lächeln wies eine für ihn ganz untypische Schärfe auf.
Mit einer jähen Bewegung zog er sie für einen heißen, gierigen Kuss wieder an sich, der ihr mehr Beteiligung abverlangte, als Sebastian zuvor eingefordert hatte. Keuchend erwiderte sie diesen Kuss, gab sich der Emotion hin, während neues Verlangen von ihrem Körper Besitz ergriff. Seine Hände spielten nun ungestümer mit ihren Brüsten …
Und dann veränderte sich etwas.
Er verlangsamte sein Tempo, kam wieder zu Atem, küsste sie sanfter, verlagerte seine warmen Hände an ihre Taille. »Offensichtlich bin ich doch nicht der Opportunist, für den ich mich gehalten habe«, erklärte er reumütig und schob sie von seinem Schoß.
Victoria stand vor ihm, plötzlich fröstelnd, bis zur Hüfte entblößt, das Unterhemd unter ihrem Rock zerknüllt, die Brüste von der abrupten Bewegung schaukelnd.
Sebastian stand auf, und sein offenes Hemd strich gegen ihren Oberkörper. Er sah sie an, während er seine Hose wieder zuknöpfte. »Ich bin nicht sicher, ob es daran liegt, dass du denkst, er könnte uns jeden Moment hier ertappen, oder weil du wütend auf ihn bist. Oder beides.Vermutlich stimmt beides.«
Der letzte Rest ihrer Erregung löste sich in Wohlgefallen auf. »Du bist verrückt!« Sie riss ihr Mieder hoch, um ihre Brüste zu bedecken.
»Höchstwahrscheinlich bin ich das.« Er steckte das Hemd in die Hose. »Aber lieber bin ich verrückt, als dass ich mich manipulieren lasse.«
»Danke für deine Hilfe bei der Tutela«, erwiderte sie frostig. »Ich hoffe, du wirst den heutigen Abend in guter Erinnerung behalten, weil es nämlich so bald keine Wiederholung geben wird.«
Einer seiner Mundwinkel zuckte, als er nach Mantel, Handschuhen und Krawatte griff. »Du bist so berechenbar, Victoria, wie du dir die Maske der verschmähten Frau überstülpst.«
»Verschmähte Frau?« Sie lachte in echter Erheiterung. »Das würde ich nicht behaupten. Du hast wenig zu wünschen übrig gelassen, und ich schätze, dass ich heute Nacht besser schlafen werde als du.« Sie zog eine Braue hoch und sah ihn bedeutungsvoll an.
»Solltest du diese Meinung beibehalten, werde ich die Situation gerne bereinigen.« Er wandte sich zum Gehen, dann warf er ihr mit der Hand an der Salontür einen letzten Blick zu. »Ansonsten werde ich mich an die Tarruscelli-Zwillinge halten.«

Victoria bereute es, Sebastian von Max’ Auftauchen in Regalados Villa erzählt zu haben; weniger, weil es unerklärlicherweise ihren Intimitäten ein Ende gesetzt hatte, sondern weil ihr der Gedanke, was es bedeuten konnte, noch immer schrecklich zusetzte.
Sie wollte diese Information für sich behalten und so lange darüber nachgrübeln, bis sie irgendeinen Sinn ergab. Sie hatte das Gefühl, dass wenn sie sie mit Eustacia oder sonst jemandem teilte, es zu spät sein würde, sie zurückzunehmen; sie würde real werden. Und ihrer Tante unnötige Sorgen bereiten, denn Victoria glaubte noch immer nicht, dass Max sich von den Venatoren abgewandt hatte.
Außerdem war sie sich sicher - wusste es tief in ihrem Inneren -, dass Max Kontakt zu ihr aufnehmen würde. Falls er nur in eine Rolle geschlüpft war, woran sie allen gegenteiligen Beweisen zum Trotz fest glauben musste, würde er nicht das Risiko eingehen, dass man sie belauschte oder auch nur zusammen sah. In dem Flur jenseits des Ballsaals hätten sie bemerkt werden können; er verhielt sich einfach nur höchst diskret... Und nichts anderes hätte sie von Max erwarten sollen.
Auch wenn er sie oft gegen sich aufbrachte, Max beging keine Fehler. Er war bedächtig und vorsichtig und sehr, sehr gefährlich.
Und was Sebastians seltsame Vorwürfe betraf... Victoria schob sie der Tatsache zu, dass sie nie genau wusste, was gerade in ihm vor sich ging - schon gar nicht, wenn er in Leidenschaft entbrannt war. Aus Gründen, die sie nicht kannte, die jedoch Teil einer langen Geschichte zu sein schienen, konnten die beiden Männer einander nicht ausstehen. Offensichtlich war die bloße Erwähnung von Max’ Namen wie ein Guss kalten Wassers für Sebastian gewesen.
Victoria war sich derart sicher, einen Besuch oder irgendeine Nachricht von Max zu bekommen, jetzt, da er von ihrer Anwesenheit in Rom wusste, dass sie die nächsten zwei Tage zu Hause blieb und es sogar ablehnte, sich mit Eustacia in der Villa der Gardellas zu treffen. Sie wollte ihn auf keinen Fall verpassen, wenn er kam.
Sie verriet ihrer Großtante nicht, dass sie Max gesehen hatte. Jetzt noch nicht. Erst wollte sie sich überzeugen... wollte warten, bis sie allein miteinander gesprochen hatten.
Aber er trat nicht mit ihr in Kontakt.
Stattdessen musste sie George Starcasset hereinbitten, als er ihr am Tag nach dem Fest mit Blumen und einem Glitzern in den Augen seine Aufwartung machte. Sie saßen in dem kleinen Salon, tranken Tee und plauderten über Belanglosigkeiten, über die Londoner Gesellschaft und ihre Freunde daheim. Es vergingen dreißig Minuten, bis sie ihn endlich loswerden konnte.
Als er am Tag darauf wiederkam, war sie ›nicht zu Hause‹.
Am Morgen des dritten Tages erhielt sie einen Besuch von den Tarruscelli-Schwestern und Sara Regalado.
»Wir waren sicher, dass Sie krank geworden sein müssen«, plapperte Portiera munter drauflos. »Wir hatten so gehofft, dass Sie unsere Einladung zum Tee gestern annehmen würden. Wie schade, dass Sie nicht kamen.«
»Wir waren schrecklich in Sorge, dass Sie die Migräne oder eine andere Krankheit ereilt haben könnte«, ergänzte Placidia.
»Ich war tatsächlich nicht ganz auf der Höhe«, behauptete Victoria, die beobachtete, wie Oliver und Verbena versuchten, in dem winzigen Salon Platz für drei Gäste und ihre Herrin zu schaffen. »Ich habe mich übrigens ganz wunderbar unterhalten bei der Party Ihres Vaters, Sara.«
»Ich hoffe, Sie fühlen sich heute wieder auf dem Damm«, erwiderte Max’Verlobte in ihrem mangelhaften Englisch.
»Es geht mir schon viel besser, danke.« In Wahrheit ging es ihr mit jeder Stunde, die verstrich, ohne dass sie von Max hörte, schlechter.
Aber vielleicht... überbrachte Sara ohne ihr Wissen die Nachricht.
Es schien tatsächlich möglich, als die junge Frau fortfuhr: »Wir hatten gehofft, dass Sie uns morgen Abend in unserer Opernloge Gesellschaft leisten.Wir vier würden begleitet von meinem Vater und Maximilian, sowie von Baron Galliani, auf den Sie großen Eindruck gemacht haben.« Sie lächelte ohne den geringsten Anflug von Hinterlist, dann setzte sie hinzu: »Mein Cousin war so bezaubert von Ihnen, dass er gedroht hat, den Namen der Rose zu ändern, die er für mich gezüchtet hat!«
»Ich bin sicher, Ihr Verlobter war darüber höchst erfreut«, konnte Victoria sich nicht enthalten zu bemerken.
Sara sah sie fragend an. »Maximilian? Nein, er hat nicht den kleinsten eifersüchtigen Zug an sich; es wäre ihm vollkommen gleichgültig, wenn Silvio zwanzig Rosen nach mir benennen würde. Und sollte er den Namen für jemanden ändern, der so zauberhaft ist wie Sie, meine neue liebe Freundin, nun, dann werde ich nicht im Mindesten adirato sein. Denn schließlich habe ich Maximilian, um Blumen nach mir zu taufen.«
Victoria musste ein undamenhaftes Prusten mit einem Hustenanfall überspielen. Die Vorstellung, wie Max einen Rosenstock hegte und pflegte und ihn dann nach einem jungen Mädchen benannte, war schlichtweg lächerlich.
Als ihr von vielen Ach- und Oje-Rufen (seitens der Zwillinge, deren spiegelbildliche Grübchen im Takt dazu zuckten) und Klapsen auf den Rücken (von der zierlichen Sara, die einen recht beherzten Schlag hatte) begleiteter Husten schließlich nachließ, lächelte Victoria mit tränenden Augen und nahm die Einladung an. Es würde ihr zumindest eine weitere Gelegenheit verschaffen, Max zu sehen und herauszufinden, was er vorhatte.
Kaum dass ihre Gäste gegangen waren, wurde Victoria, die sich gerade für ein paar Trainingseinheiten zurückziehen wollte, wieder in den Salon gerufen.
Eustacia war eingetroffen.
Nachdem Victoria die weiche, faltige Wange ihrer Tante geküsst hatte, führte sie sie zu dem bequemsten Sessel des Salons. Ihr fiel auf, dass sie zerbrechlicher aussah als sonst; so als ob die anstrengende Reise ihren Tribut gefordert hätte. Es war eigenartig, denn Victoria hätte erwartet, dass die Rückkehr in ihr Heimatland nach so vielen Jahren ihre Augen zum Leuchten bringen würde. Stattdessen zeigten sie einen Anflug von Traurigkeit und Besorgnis.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Eustacia ohne Umschweife.
»Sebastian hat mir zu einer Einladung ins Haus einer der Anführer der Tutela verholfen«, erwiderte Victoria und erzählte ihr dann von Regalado. »Ich soll ihn und seine Tochter sowie ein paar weitere Gäste morgen Abend in die Oper begleiten. Ich hoffe, dass ich dabei mehr über die Tutela herausfinden kann. Seit unserer Ankunft in Rom war ich nicht ein einziges Mal auf Vampirjagd; ich hatte eigentlich vorgehabt, jetzt ein bisschen zu trainieren und heute Nacht auf Patrouille zu gehen. Ich weiß, wie wichtig es ist, in Form zu bleiben. Und die Jagd fehlt mir.«
Eustacia musterte sie mit stählernen, schwarzen Augen, so als wüsste sie, dass Victoria dem eigentlichen Thema auswich. »Du hast nichts in Erfahrung bringen können, während du in der Villa warst?«
Victoria zögerte. »George Starcasset war unter den Gästen, und mit ihm hatte ich nun gar nicht gerechnet.« Der Blick ihrer Tante verschärfte sich.Victoria holte tief Luft. »Und Max war dort.«
»Max? Grazie a Dio! Hast du mit ihm gesprochen?«
Sie nickte. »Offenbar hat er sich mit Regalados Tochter verlobt und will sie heiraten. Er hat weder die Tutela erwähnt noch irgendetwas im Zusammenhang mit den Venatoren. Ich hatte erwartet, dass er anschließend mit mir in Kontakt treten würde, aber das hat er nicht getan. Ich... Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
»Was hat er genau zu dir gesagt?«
Victoria wiederholte die kurzen Wortwechsel, wobei sie den Gesichtsausdruck ihrer Tante beobachtete. Er blieb ungerührt, selbst als sie entgegnete: »Ich werde niemals glauben, dass Max sich von uns abgewandt hat. Er muss in irgendetwas involviert sein.«
»Natürlich - er ist mit Sara Regalado involviert. Er ist verliebt.« Victoria begann sich zu fragen, ob es tatsächlich wahr sein könnte. »Er hat keine Zeit mehr für uns. Er war zu beschäftigt, um dich auch nur wissen zu lassen, dass er am Leben ist.«
Eustacia bedachte sie mit einem missbilligenden Blick. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich letztes Jahr mit ihm ähnliche Unterredungen führen musste, als du beschlossen hattest, Phillip zu heiraten, cara. Ich sagte ihm damals, was ich dir jetzt sage:Wir müssen darauf vertrauen, dass es ihm gelingt, seine verschiedenen Verpflichtungen in Einklang zu bringen. Es gibt kein Gesetz, das einem Venator verbietet, zu heiraten.«
»Aber ich habe meine Pflicht nicht verraten.«
»Du weißt auch nicht, ob Max das getan hat,Victoria. Nach allem, was wir wissen, müssen wir davon ausgehen, dass er jede Nacht Vampire jagt und sich gleichzeitig Zugang zur Tutela verschafft.Vielleicht bekommst du morgen Abend in der Oper die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Es ist ein gelungener Schachzug, dass du dich mit Regalados Tochter angefreundet hast.«
»Das stimmt. Jedenfalls habe ich die Absicht, ob nun mit Max oder ohne ihn, so viel über Graf Regalado und seine Tutela herauszufinden, wie ich kann. Seine Frau starb vor vielen Jahren, und er hat nicht wieder geheiratet. Und«, fügte Victoria hinzu, die sich an die Brustwarzen in seinen Bildern erinnerte, »er scheint Frauen zu mögen.Vielleicht sollte ich ganz offen mit ihm flirten.«
Eustacia nickte. »Ein sehr guter Plan, cara. Ich weiß, dass du vorsichtig zu Werke gehen wirst, und hoffe darauf, in Kürze ein paar Neuigkeiten von dir zu hören.« Sie seufzte.
»Ich bin voller Sorge, und Wayren, die hier in Rom ist, seit sie London verlassen hat, teilt meine böse Vorahnung. Nedas hat den Obelisken, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er seine Macht kontrolliert.Wir wissen nicht, wann oder wo das geschehen wird, deshalb studiert Wayren unermüdlich ihre Bücher und Schriftrollen, in der Hoffnung, auf irgendeine Prophezeiung oder Beschreibung zu stoßen, die uns verrät, wie das Ganze vonstatten gehen soll. Du bist derzeit die Einzige, die das für uns herausfinden kann. Die anderen Venatoren hier in Rom oder überhaupt in Italien sind zu bekannt und würden sofort von der Tutela enttarnt werden. Dein Vorteil ist, dass du eine Frau und nicht bekannt bist.Wenn sie von dem weiblichen Venator sprechen, meinen sie damit mich und niemanden sonst.«
»Es sei denn, sie hätten während der Ereignisse in Venedig herausgefunden, dass ich ein Venator bin.«
»Das ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Den einzigen Vampir, der dich so genannt hat, konntest du niederstrecken, und der Rest von ihnen hat nicht gesehen, wie gut und vernichtend du kämpfst. Wir müssen diesen Vorteil nutzen, solange wir können. Vero, sie wissen zwar, dass meine Nichte ein Venator ist, aber sie wissen weder, wer du bist oder wie du aussiehst, noch dass du dich in Rom aufhältst. Deshalb ist es wichtig, dass du nicht mit mir gesehen wirst und dich niemand dabei beobachtet, wie du Vampire tötest. Ganz gleich, wie die Umstände sein mögen.« Sie starrte sie durchdringend an. »Hast du das verstanden?«
»Ich kann nicht tatenlos dabeistehen und zusehen, wie ein Vampir einen Menschen verletzt«, erwiderte Victoria, die an die Geschehnisse in Venedig zurückdachte. »Das liegt nicht in meiner Natur.«
»Du musst. Solltest du einem Vampir begegnen, musst du dich genauso verhalten, wie es jede andere Frau tun würde.«
»Tante Eustacia -«
»Du wirst mir in diesem Punkt gehorchen, Victoria. Es gibt Zeiten, in denen zum Wohle vieler ein Einzelner geopfert werden muss. Ich weiß das.« Ihr Blick wurde traurig. »Ich weiß das, Victoria, denn ich habe es selbst erlebt. Du musst lernen, das große Ganze zu sehen, statt nur einen Bruchteil.«
Victoria presste die Lippen zusammen, nickte jedoch. Sie wusste nicht, ob sie in der Lage sein würde, das Schlimmste einfach geschehen zu lassen, aber sie würde es zumindest versuchen, wenn die Situation es erlaubte.
»Wir müssen einen Weg finden, Nedas aufzuhalten. Je mehr du in Erfahrung bringst, desto besser können wir uns auf das Ereignis vorbereiten.Vielleicht finden wir eine Möglichkeit, den Obelisken zu stehlen, falls Nedas schon begonnen haben sollte, ihn zu aktivieren.« Eustacia schüttelte den Kopf. »Ich überlasse dich nun deinem Training. Am Morgen nach der Oper werde ich dich kontaktieren, es ist also nicht nötig, dass du nach mir schicken lässt. Ich bin geübter darin, mich hier in Rom unbemerkt zu bewegen. Und mach dir keine Sorgen wegen Max. Es wird alles gut werden.«
Doch Victoria glaubte ihr nicht. Sie hatte während ihres Gesprächs die Veränderungen an ihr gesehen - wie tief die Falten in ihrem Gesicht und wie trüb ihre Augen geworden waren, und sie wusste, dass Eustacia es selbst nicht glaubte.