Kapitel 10
In welchem Lady Rockley eine
heftige Abneigung gegen Lavendel entwickelt
Wie versprochen, schickte
Graf Alvisi Victoria vier Abende später eine kryptische
Nachricht.
»Ich werde Sie in einer halben Stunde abholen«,
las sie laut vor. Sie warf die Mitteilung auf ihren Frisiertisch
und sah zu Verbena hoch. »Es hat ganz den Anschein, als würde ich
in Kürze an einer Zusammenkunft der Tutela teilnehmen.« Sie warf
einen Blick zu der kleinen Uhr auf ihrer Kommode. »Heute Abend um
zehn.«
»Ich werd Oliver zu Ihrer Tante schicken, damit
er ihr Bescheid sagt, während wir Sie herrichten«, erwiderte ihre
Zofe und wuselte zur Tür. »Der Bursche hat mich heute den letzten
Nerv gekostet, weil er ständig irgendwas zu tun gesucht hat.
Nachdem ich ihm erklärt hab, dass Vampire Angst vor Silber ham, hat
er sich ganz aufgeregt in seinem Zimmer verkrochen und gesagt, dass
er sich eine neue Waffe ausdenken will, um sie zu töten.«
Kopfschüttelnd und mit einem verächtlichen Schnauben schlüpfte sie
aus Victorias Zimmer, bevor sie noch einmal hineinspähte, um
hinzuzufügen: »Der Mann hat noch nie einen Vampir gesehen, also
weiß ich wirklich nicht, wie ausgerechnet er eine neue Art erfinden
will, einen zu töten. Ein Blick in diese roten Augen, und er wird
die Hosen voll haben und nach Cornwall zurückrennen, wo er auch
hingehört.«
Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, nahm
Victoria noch einmal die Nachricht zur Hand. Sie hatte sich während
der letzten Tage überlegt, wie sie mit der Einladung des Grafen
umgehen sollte. Zuerst hatte sie daran gedacht, ihn verfolgen zu
lassen, um zu erfahren, wohin er ging, und den Treffpunkt der
Tutela möglicherweise auf eigene Faust zu entdecken. Sie hätte es
vorgezogen, sich zu ihren eigenen Bedingungen dort einzuschleichen,
anstatt darauf warten zu müssen, von Alvisi eskortiert zu
werden.
Denn wenn sie sich eskortieren ließ, musste sie
die Rolle der verwitweten Mrs.Withers weiterspielen und die ganze
Zeit über bei Alvisi bleiben. Wenn sie allein gehen könnte, würde
es ihr vielleicht gelingen, unbemerkt zu beobachten.
Doch am Ende hatte sie sich entschlossen, auf
die Einladung zu warten und den Grafen zu begleiten. Er war
sicherlich mit den Abläufen vertraut, und falls es irgendwelche
Besonderheiten gab, die man beachten musste, um eingelassen zu
werden, würde er sie kennen. Sobald sie erst einmal den Ort der
Zusammenkunft in Erfahrung gebracht hätte und wusste, wie man
hineingelangte, konnte sie allein Nachforschungen anstellen. Denn
schließlich war es ihr Ziel, Nedas aufzuspüren und zu töten.
Wider besseres Wissen erlaubte sie Verbena, sie
zu frisieren und anzukleiden, als ginge sie zu einem Ball. Ihre
Zofe hatte protestiert, als Victoria sich anfangs dazu entschlossen
hatte, ihren weiten, geschlitzten Rock anzuziehen und ihr Haar zu
einem schlichten Zopf zu flechten.
»Sie sollten aussehen, als würden Sie zu’nem
Fest gehen«, hatte Verbena sie belehrt. »Sie können sich nicht
anziehen, als würden Sie Vampire jagen. Und außerdem will dieser
Graf wahrscheinlich bei den Vampiren mit Ihnen Eindruck schinden!
Ganz bestimmt sind Sie viel hübscher als irgendeine Frau in der
Tutela!«
»Und gefährlicher«, fügte Victoria hinzu,
während sie sich den Anweisungen ihrer Zofe beugte. Sie war sich
ziemlich sicher, dass Verbena nicht zuletzt deswegen so hartnäckig
darauf bestand, sie egal zu welchem Anlass herauszuputzen, weil
ihre Schwester die Zofe einer Herzogin war; die beiden verglichen
stets ihre Notizen zu den Kleidern und Juwelen ihrer
Herrinnen.
Eine halbe Stunde, nachdem sie Alvisis Schreiben
erhalten hatte, kam Victoria die Treppe hinunter, im Haar zwei
Pflöcke und einen dritten am Strumpfband unter ihrem Rock. In ihrer
Abendtasche trug sie Weihwasser, außerdem hatte sie eine weitere
kleine Phiole zusammen mit einem umhüllten Dolch an ihrem zweiten
Strumpfband befestigt. Zusätzlich trug sie ein gro ßes Kruzifix,
das tief in ihrem Dekolleté verborgen war, wo man es nicht sehen
würde, es sei denn, sie wollte es. Unten angekommen, unterbrach sie
eine hitzige, geflüsterte Unterhaltung zwischen Verbena und
Oliver.
Es war ein komischer Anblick: Die Zofe reichte
ihm kaum bis zum Schlüsselbein, trotzdem schien sie die
Wortführerin zu sein, während er stumm aber energisch zu ihr
hinunternickte. Ihr buschiger, karottenroter Wuschelkopf wippte mit
jeder Bewegung, und sein dunklerer, eher kastanienbrauner Schopf
tat es dem ihren in einem langsameren Rhythmus nach. Wie um ihren
Worten Nachdruck zu verleihen, schlug sie mit einem lauten
Klatschen die Hände ineinander - Handrücken gegen Handfläche -,
dann stieß sie einen einzelnen Finger in seine Richtung.
»Ist der Graf schon eingetroffen?«, fragte
Victoria so unschuldig wie möglich.
»Noch nicht, Mylady«, antwortete Verbena und
trat mit einem
letzten, finsteren Blick von ihrem Gegenüber weg. Vielleicht hatte
sie ihn belehrt, als bestes Abwehrmittel gegen Vampire ein Kruzifix
anstelle von Knoblauch zu benutzen. »Aber unser Oliver hier wird
bestimmt gern für Sie nach ihm Ausschau halten.«
In diesem Moment glitt der italienische Diener,
der in dem kleinen Haus, das sie gemietet hatten, als Butler
fungierte, ins Zimmer und verkündete: »Der Graf Alvisi, Signora.«
Kaum dass der Graf den kleinen Salon betreten
hatte, wurde endgültig klar, dass er an jenem Abend keineswegs
einer Frau zu nahe gekommen war, die in Lavendelwasser gebadet
hatte, sondern dass er sich selbst damit parfümierte. Und so als
wollte er den Geruch in einer Art stilistischem Muster fortsetzen,
war sein Seidenhemd lavendelfarben, ebenso wie die ordentlich,
wenngleich steif um seinen Hals gebundene Krawatte. Und der
Edelstein, der in ihrer Mitte prangte, war... was sonst... ein
klarer, blasser Amethyst.
»Sie sehen bezaubernd aus heute Abend, Mrs.
Withers.« In Alvisis dunklen Augen funkelte aufrichtige
Anerkennung. »Direkt zum Anbeißen würde ich sagen!« Er zwinkerte,
dann stieß er ein schallendes Lachen aus, während er ihre Hand
ergriff.
Victoria erinnerte sich selbst noch einmal
daran, dass sie die Rolle einer abenteuerlustigen, naiven Frau -
und nicht die eines erbitterten Venators oder einer perfekten Dame
der Gesellschaft - spielen musste und rang sich ein derart
herzhaftes Lachen ab, dass ihre Mutter in Ohnmacht gefallen wäre.
Für heute Abend würde sie sich an Folgendes halten: Wenn sie etwas
tat, das ihre Mutter dazu bringen würde, konsterniert die Lippen zu
schürzen, würde sie sich damit genau so verhalten, wie sie sollte -
nämlich so, wie sie sich eine Frau vorstellte, die den Wunsch
verspürte,Vampire zu treffen, weil sie sie faszinierend und
anziehend fand.
»Sollen wir gehen?«, fragte sie.
»Unbedingt, Signora. Die
Kutsche erwartet uns.« Er nahm ihren Arm, und sie schwebten
Schulter an Schulter, Ellbogen an Ellbogen aus dem Zimmer.
»Ich kann gar nicht glauben, dass ich heute
Abend einen echten Vampir zu sehen bekommen soll«, sagte Victoria,
als sie in der Kutsche saßen. Kaum dass die Tür hinter ihnen
geschlossen war, verspürte sie das dringende Bedürfnis, ein Fenster
einzuschlagen, um etwas von dem Lavendelduft entweichen zu
lassen.
Alvisi saß ihr gegenüber - aber nicht so, wie
Sebastian das getan hätte, der stets mit dem Arm auf der
Rückenlehne bequem in einer Ecke lümmelte. Der Graf verharrte, die
Hände im Schoß verschränkt, stocksteif am Rand der Sitzbank. Er sah
aus, als wollte er jeden Moment die Flucht ergreifen. Ȁh... nun,
Signora. Möglicherweise werden wir heute
gar keinem echten Vampir begegnen. Tatsächlich habe ich selbst erst
einmal einen gesehen.«
Victoria sank nach hinten und versuchte, sich
ihre Enttäuschung und aufkeimende Verärgerung nicht anmerken zu
lassen. War dies alles bloß ein Trick, um sie allein in eine
Kutsche zu bekommen?
Wenn der Mann Sebastian wäre, hätte sie nicht
den geringsten Zweifel. Aber Alvisi ließ sie nicht vor Erwartung
erschaudern. Er wirkte harmlos und leicht besiegbar - wenn man von
der mächtigen Waffe seines Rasierwassers einmal absah. »Wohin
fahren wir, wenn wir keinen Vampir treffen werden?«
»Wir werden an der Zusammenkunft eines
Geheimbundes, Tutela genannt, teilnehmen, dessen Zweck es
ist,Vampire zu beschützen und für sie zu sorgen. Doch ich weiß
nicht, ob uns die Untoten mit ihrer Anwesenheit beehren werden.«
Dieses Glitzern,
das sie vor Byrons Villa in seinen Augen gesehen hatte, war wieder
da, begleitet von einem leichten Schimmer auf seiner runden Stirn.
»Sie wohnen auf dieser Ebene nicht jedem Treffen bei.«
»Ebene?« Victoria sah aus dem Fenster, weil die
Kutsche gehalten hatte. »Sind wir da?«
»Nein, nein. Wir müssen noch einen Kanal
hinunterfahren. Kommen Sie, Signora,
schnell, denn wenn wir zu spät eintreffen, werden die Türen
verriegelt sein. Es ist schon nach halb zehn.«
Sie kletterten aus der Kutsche und bestiegen
hastig eine wartende Gondel, die auf und ab schaukelte, als sie
versuchten, eine bequeme Sitzposition zu finden.Victoria kannte
diesen Teil der Stadt nicht, aber sie war bislang ohnehin noch
nicht sehr vertraut mit Venedig. Während der Gondoliere sie mit
seiner langen Stange den Kanal hinunterschipperte, blickte sie zu
dem Ufer zurück, von dem sie sich gerade entfernten. Irgendetwas
bewegte sich im Schatten der Kutsche, dann war es
verschwunden.
Sie starrte weiter zu den grauen Umrissen des
Ufers, das nur von einzelnen, an Masten hängenden Laternen und ein
paar wenigen Sternen an einem mondlosen Himmel erhellt wurde,
sodass es zunehmend mit der Dunkelheit verschmolz, die sie auf dem
breiten Kanal umgab. Jemand oder etwas war dort gewesen. Um ihnen
zu folgen?
Während sie weit entfernt von beiden Ufern auf
dem Kanal dahinglitten, hörte Victoria die zunehmende Erregung in
Alvisis Atemzügen. Sie kamen schneller und oberflächlicher, ein
wenig raspelnder, oft mit einem leichten Stocken am Ende, das wie
ein leises Keuchen klang. Eine einsame Laterne aus perforiertem
Zinn am Heck der Gondel spendete genug Licht, dass Victoria
erkennen konnte, wie Alvisi, dessen Stirn nun noch feuchter
glänzte, sich mit beiden Händen an den Seiten des Bootes
festklammerte. Entweder hatte er eine Abneigung gegen Wasser und
Schiffe oder aber er wurde langsam sehr aufgeregt wegen der
Versammlung der Tutela.
Sie fuhren eine lange Weile leise weiter und
entfernten sich dabei von der Stadt. Als sie abgelegt hatten, waren
ein paar andere Gondeln in ihrer Nähe gewesen, aber je größer die
Distanz zu Venedig und ihrer Kutsche wurde, desto geringer wurde
die Anzahl anderer Boote, bis schließlich gar keine mehr zu sehen
waren. Selbst die Lichter der Häuser entlang des Kanals und die
gedrungenen Gebäude, die sich am Ufer abzeichneten, wichen der
Dunkelheit. Stattdessen erhoben sich zerklüftete, baufällige Ruinen
auf felsigem Terrain, die nur hin und wieder angeleuchtet wurden,
wenn ihre Laterne zufällig in eine günstige Richtung
schaukelte.
Victoria begann nervös zu werden, als ihr klar
wurde, dass sie Venedig hinter sich gelassen hatten. Hier war alles
so anders als in London, wo sie sich auskannte und stets wusste, wo
sie sich gerade befand. Und wo sie an fast jedem Ort der Stadt,
sogar in St. Giles, eine Droschke anheuern konnte, die sie nach
Hause brachte. Sie erkannte nun, dass sie aufmerksamer darauf hätte
achten müssen, wohin die Kutsche fuhr und ob es irgendwelche
Orientierungspunkte entlang des Kanals gab.
Sie empfand zwar keine Angst; aber dennoch hätte
sie sich besser vorbereiten sollen. Es wäre vermutlich vernünftiger
gewesen, wenn Oliver ihr heimlich gefolgt wäre.Vielleicht sogar
Kritanu.
Aber sie war wegen ihrer vis
bulla und der anderen Waffen derart überzeugt gewesen, auf sich
selbst aufpassen zu können - und außerdem so sehr auf ihr Ziel
fokussiert, Zugang zu der Tutela zu bekommen - dass sie schlecht
vorausgeplant hatte.
Natürlich war es möglich, dass sie sich unnötig
Sorgen machte. Aber ihre Unruhe intensivierte sich im selben Ausmaß
wie der Schweißfilm auf Alvisis Stirn. Er sprach während der Fahrt
nur selten, und Victoria, die versuchte, sich ihre Umgebung
einzuprägen, um sich später an ihre Route zu erinnern, bemühte sich
ebenfalls nicht um ein Gespräch.
Dann endlich, nachdem sie wohl länger als eine
Stunde über den dunklen Kanal geglitten waren, erreichten sie ihr
Ziel.
Zumindest nahm Victoria das an, als die Gondel
an einem finsteren Ufer anlegte.
»Nun kommen Sie schon«, forderte Alvisi sie mit
angespannter Stimme auf. Er hievte sich aus dem Boot und zog sie
dabei hinter sich her, ohne auch nur einen Funken des vornehmen
Gehabes an den Tag zu legen wie zuvor in ihrer Villa. Sobald sie
auf dem steinigen Strand standen, entzog Victoria sich seinem Griff
- was nicht schwierig war, aber falls er ihre ungewöhnliche Kraft
bemerkte, so sagte er zumindest nichts. Er hastete bereits einen
Pfad entlang, den sie kaum sehen konnte. Sie warf einen Blick
zurück zum Wasser und stellte fest, dass die Gondel mitsamt der
kleinen Laterne abgelegt hatte und wieder den Kanal
hinaufschipperte.
Sie hätte noch länger innegehalten, um ein
Gefühl für die Dunkelheit und ihre Bewohner zu bekommen, aber
Alvisi kam zu ihr zurück, um sie zu holen. »Mrs. Withers, folgen
Sie mir.Wir müssen uns beeilen, sonst verriegeln sie die
Türen.«
War sie nicht dafür hergekommen?
Sie drehte sich um und ging hinter ihm den
düsteren Pfad entlang, zwischen Büschen und Sträuchern hindurch,
die nach ihr griffen und an ihrer leichten Pelerine zerrten.
Dann endlich standen sie vor einer Holztür, die
in ein eng von
Bäumen umstandenes Steinhaus eingelassen war. Wie es schien,
hatten sie sich ihm von der Rückseite genähert. Es waren keine
anderen Gebäude in Sicht und auch sonst nichts, das auf
Zivilisation hinwies. Es war ein einsames Haus im finsteren Wald.
Victoria konnte dank einer kleinen, von einer Eisenstange
herabbaumelnden Laterne die Umrisse der grauen, schwarzen und
braunen Steine der Außenmauer erkennen. Die Lampe war auf Kniehöhe
angebracht und halb von Büschen verborgen, bis man fast vor ihr
stand. Ganz offensichtlich ging die Tutela kein Risiko ein, was
eine mögliche Entdeckung ihres Versammlungsortes betraf. Alvisi zog
an dem langen Eisenriegel der Tür, und zu seiner unübersehbaren
Erleichterung schwang sie leise auf. Ein roter Schein von innen
verfärbte den sandigen, zertrampelten Untergrund neben der Laterne
und verlieh der Tür und den Steinen einen warmen Schimmer.
Victoria wagte einen letzten raschen Blick zum
Himmel. Inzwischen hatte es aufgeklart, und der Mond zeigte sich;
es musste schon etwa Mitternacht sein. Sie folgte Alvisi ins
Innere, wo ein hochgewachsener Mann, der wie für einen Opernbesuch
gekleidet war, die Tür hinter ihnen schloss.
»Guten Abend, Madam, und herzlich willkommen«,
begrüßte er sie auf Italienisch. Er schien auf etwas zu warten, und
da fiel es Victoria wieder ein. Sie öffnete die Hand, um ihm das
Tutela-Amulett zu zeigen, und er nickte zustimmend.
Als sie Alvisi einen Gang hinunter folgte,
registrierte sie, dass ihrem Nacken zufolge keine Vampire in der
Nähe waren.
In dem dämmrig beleuchteten Raum, den sie am
Ende des Korridors betraten und der groß genug für einen Ballsaal
war, jedoch nicht angemessen dekoriert, standen mehrere Dutzend
Menschen in Gespräche vertieft.Victoria hatte bislang nicht
bestimmen
können, in welcher Art von Gebäude sie sich befanden, aber es
schien weder eine Villa noch sonst ein Wohnhaus zu sein. Die
Innenwände waren aus denselben Steinen gefertigt wie die
Außenmauern. Es gab keine Fenster - was nicht überraschte, da die
Vampire es überhaupt nicht schätzen würden, wenn Sonnenlicht
hereinfiele - und soweit sie feststellen konnte, nur eine Tür. Der
Boden war mit Teppichen bedeckt, zwischen denen ein Untergrund aus
Lehm und Steinen sichtbar wurde.
Überall im Raum verteilt standen Stühle und
Bänke. Und auf der gegenüberliegenden Seite von der Stelle, wo sie
und Alvisi eingetreten waren, hatte man eine schmale, hohe Estrade
errichtet. Sie war gerade groß genug, dass ein langer Tisch und
fünf Stühle darauf Platz fanden, und ließ Victoria an ein Theater
oder eine Kirche denken... wenngleich das ein seltsamer Ort für ein
Treffen von Vampirgünstlingen wäre.
Neugierig schlüpfte sie von ihrem Begleiter weg
und in den vorderen Teil des Saals, denn sie war zu weit entfernt,
um erkennen zu können, was noch auf dem Tisch war, außer den beiden
großen, flachen Schalen - an jedem Ende eine -, in denen kleine
Flammen glommen.
Der rote Lichtschein stammte von einem lodernden
Feuer, das an einer Wand neben der Estrade in einem Kamin brannte,
in dem mühelos acht ausgewachsene Männer Platz gehabt hätten.
Überall im Raum flackerten Kerzen und Wandfackeln, und als Victoria
zwischen den anderen Teilnehmern hindurchging, fiel ihr auf, dass
überwiegend Männer anwesend waren. Dabei waren alle Altersgruppen
vertreten, und alle hatten sie sich ebenso fein herausgeputzt wie
der Mann, der sie nach ihrem Amulett gefragt hatte.
Tatsächlich sah sie nur drei weitere Frauen,
doch schienen
diese nicht zu der Sorte zu gehören, wie man sie normalerweise in
den besseren Kreisen akzeptieren würde, zumindest wenn man nach
ihren absurd tief ausgeschnittenen Kleidern und dem protzigen
Schmuck ging, den sie trugen.Vielleicht sollte sie mit ihnen
sprechen. Da dies genau die Art von Benehmen war, die ihre Mutter
mit verdrehten Augen in Ohnmacht fallen lassen würde, wäre es wohl
genau das richtige Unterfangen für Mrs.Withers.
In dem Saal roch es nach Rauch und Schweiß,
worunter sich noch das abscheuliche Gemisch von Alvisis Lavendel,
verschiedenen Rosenwassern und nach Minze oder Vetiver duftenden
Parfüms mischte. Doch unter all den süßlich-blumigen und
moschusartigen Kräuteraromen roch Victoria Blut, Finsternis und
Verderbtheit, sowie einen vagen, penetranten Geruch, den sie erst
ein einziges Mal wahrgenommen hatte - im Silberkelch.
Es war nichts, das sie zuordnen, benennen oder
auch nur vergleichen konnte; der Geruch war schwach, trotzdem aber
faulig und widerlich. Er krampfte ihr den Magen zusammen. Sie hatte
bis jetzt nicht mehr daran gedacht, ihn überhaupt gerochen zu
haben, aber als sie ihn nun wieder einatmete, kehrte die Erinnerung
sofort zurück. Das einzige Mal, dass sie ihn wahrgenommen hatte,
war während ihres Kampfes gegen den Dämon gewesen.
War dies der Geruch eines Dämons? Oder etwas
völlig anderes?
Sie sah sich um und stellte fest, dass alle
anderen Anwesenden sich einen Sitzplatz zu suchen schienen. Alvisi
winkte sie von einer der Stuhlreihen an der Rückwand des Raums zu
sich, und Victoria entschied, dass es in ihrem eigenen Interesse
wäre, bei ihm zu bleiben. Sie wollte auf keinen Fall auffallen,
solange sie nicht genau wusste, was hier vor sich ging. Außerdem
würde sie von dort hinten aus einen besseren Blick auf den ganzen
Saal bekommen
und vielleicht sogar die Gelegenheit, herauszufinden, ob
tatsächlich ein Dämon anwesend war. Von Vampiren fehlte bislang
jede Spur.
Kaum hatte sie neben ihrem Begleiter Platz
genommen, als drei Männer die Stufen zur Estrade hochstiegen. In
einem von ihnen erkannte sie einen der Gäste in Byrons Villa.
Signore Zinnani.
»Guten Abend.« Er breitete in weiter Geste die
Arme aus, während die Anwesenden ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn
richteten. »Willkommen bei der Tutela. Sie alle sind nur deshalb
hier, weil Sie von einem unserer Mitglieder eingeladen
wurden.«
Victoria sah Alvisi an, der nickte und mit den
Schultern zuckte.
»Lassen Sie uns beginnen.«
Zinnani öffnete etwas, das eine kleine,
rechteckige Schatulle zu sein schien, die funkelte, als er sie
bewegte. Er fasste hinein, dann verstreute er etwas vom Inhalt in
die beiden Schalen, die vor ihm auf dem Tisch standen. Jedes der
Feuer reagierte mit einem winzigen Zischen, das wie ein kurzes
Aufkeuchen klang, dann wurden die Flammen erst blau, dann violett
und schließlich wieder rot. Fast im selben Moment drang ein
schwacher, aber anhaltend süßlicher Geruch in Victorias sensible
Venatorennase.
Sie mochte ihn nicht. Noch während der Geruch
leise und unsichtbar wie ein Spinnennetz durch den Raum waberte,
überkam sie das Bedürfnis, zu fliehen.
Sie mochte ihn ganz und gar nicht. Er war zu süß
und zu klebrig, wie Honig oder Sirup, und Victoria fühlte, wie er
ihre Nasenlöcher verstopfte, so als ob man ein schweres Sackleinen
über sie geworfen und festgezurrt hätte, um ihr die Luft
abzuschnüren. Sie betrachtete die Leute neben und in der Reihe vor
sich, aber niemand außer ihr schien sich an dem Geruch zu stören.
Alvisi erweckte ganz im Gegenteil sogar den Eindruck, als wollte er
den ganzen Saal in seine Nase saugen, so wie er mit geschlossenen
Augen das Gesicht hob und lang und tief einatmete.
Victoria fühlte sich schwindelig und
benebelt.Alvisi schwankte neben ihr, und als sie ihm den Kopf
zuwandte, sah sie, dass seine Augen dunkler und glasig geworden
waren. Die anderen in den Reihen vor ihr bis hin zur Estrade
wiegten sich ruhelos hin und her, so als hätten auch sie Mühe, das
Gleichgewicht zu halten.
Dann wurde sie sich eines leisen Gemurmels
bewusst. Sie verstand die Worte nicht, aber es klang wie ein
Sprechgesang. Er ging von den Männern auf der Estrade aus und
schwoll an, um den ganzen Raum zu erfüllen; gleichzeitig war er so
tief und leise, als müsste er nahe am Boden bleiben, damit seine
wahre Bedeutung nicht entdeckt wurde. Alvisis Mund bewegte sich,
formte Worte, aber Victoria verstand sie nicht.
Das Gefühl der Benommenheit hatte nicht
nachgelassen; Victoria legte die Hand auf ihren Bauch und ließ die
Finger durch das kleine Loch schlüpfen, wo mehrere Stiche am Saum
ihres Mieders und Unterrocks entfernt worden waren, sodass sie ihre
vis bulla ertasten konnte, dieses
verlässliche, gesegnete Silber, das ihr innere Ruhe und Stärke
schenkte. Als sie es berührte, schloss sie die Augen, atmete tief
ein und ließ seine Macht durch sie hindurchströmen.
Das Schwindelgefühl ebbte ab. Es verschwand
nicht vollständig, aber es lockerte seinen Würgegriff.
Der Gesang hörte auf, und einen Moment lang gab
es kein anderes Geräusch als das Zischen und Brutzeln des Feuers in
seinem riesigen Steinmantel.
Dann ergriff Zinnani von Neuem das Wort. Seine
Stimme
war leise und sanft. »Wir sind Berufene, alle die wir hier
sind.Wir sind unter den Sterblichen auserkoren, jene zu beschützen,
die nicht in der Sonne wandeln können, so wie wir es tun. Jene zu
beschützen, die nicht im Licht leben können, die zur Dunkelheit
verdammt wurden.«
Zustimmendes Gemurmel begleitete seine
Ansprache, in der er die segensreichen Pflichten und Belohnungen
der Tutela aufzählte. »Beschützt sie!«
»Jene unter den hier Versammelten, die den Test
bestehen und sich als würdig erweisen, werden in Sicherheit
leben.«
»Sicherheit!«
»Indem wir den Untoten dienen, werden wir vor
Schaden bewahrt bleiben. Man wird uns weder jagen noch vernichten,
so wie es den Ungläubigen ergeht. Wir werden nicht ihr Angriffsziel
sein, wenn sich die Unsterblichen zur Herrschaft erheben.«
»Erhebt euch, Unsterbliche! Erhebt euch!«
»Wir werden eine Wonne erfahren, wie wir sie nie
gekannt haben.«
»Wonne!« Diese Erwiderung war ein weiches
Keuchen, beinahe ein Flüstern.
»Das Spenden von Lebenskraft ist das erotischste
und lustvollste Erlebnis, das einem Menschen zuteil werden kann.
Und es wird für immer unser sein, wann immer wir es uns wünschen!
Wir werden fühlen, was wir nie zuvor gefühlt haben! Wir werden
fühlen, und wir werden zum ersten Mal wirklich leben! Wir werden
das Geschenk der Unsterblichkeit erhalten!«
»Unsterblichkeit!«
»Unsterblichkeit!«
»Unsterblichkeit!«
Das Wort schlängelte sich in ihre Ohren, füllte
sie, drang in ihr Bewusstsein vor. Unsterblichkeit. Jene Belohnung,
nach der die Menschen seit Jahrhunderten strebten, von den
Alchimisten bis hin - falls man der Legende Glauben schenken durfte
- zu den Rittern der Tafelrunde auf der Jagd nach dem Heiligen
Gral.
War es da ein Wunder, dass es Menschen gab, die
sich mit dem Bösen verbündeten, um das ewige Leben zu
erhalten?
Unsterblichkeit, die Belohnung der Tutela.
Unsterblichkeit, bis sie gepfählt oder geköpft würden... und dann
ewige Verdammnis. Sie schauderte, denn sie wusste, dass das die
Wahrheit war.
Victoria wandte sich Alvisi zu, um etwas zu ihm
zu sagen, um zu versuchen, den Nebel zu durchdringen, der ihn in
seiner Gewalt hatte, aber selbst als sie ihn mit aller Kraft am Arm
zog, taumelte er nur auf sie zu, bevor er sich wieder gerade
hinsetzte und sich auf Zinnani konzentrierte.
Und dann spürte sie es: ein kühles Streicheln in
ihrem Nacken, das zu eisiger Kälte wurde. Mit den Fingern noch
immer die vis bulla drückend, ließ Victoria
den Blick durch den Saal wandern, ohne dabei den Kopf zu drehen, um
nach irgendwelchen Neuankömmlingen Ausschau zu halten. Sie mussten
entweder durch den Eingang neben der Estrade kommen oder aber durch
die Tür, die sie und Alvisi benutzt hatten. Sie konnte diese Tür
nicht sehen, ohne sich umzudrehen, was sie jedoch nicht wagte, da
sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte.
Die kalten Eisnadeln wurden immer stechender. Es
mussten mindestens fünf oder sechs Vampire hier sein.
Und dann stürmten sie an ihr vorbei, drängten
sich einer nach dem anderen, insgesamt waren es sechs von ihnen,
durch die unordentlichen Stuhlreihen bis vor zur Estrade.Victorias
ganzer Körper wurde nun von einem kalten Schauder erfasst. Nie
zuvor
war sie einem Vampir so nahe gekommen, ohne gegen ihn zu kämpfen,
ohne von ihm angegriffen zu werden.
Ihre vis bulla
umklammernd, dankte sie Gott dafür, dass Vampire nicht in der Lage
waren, die Gegenwart eines Venators zu wittern.
Fünf der sechs Vampire waren vollkommen
ausgehungert. Sie erkannte das im selben Moment, als sie auf die
Estrade traten und sich dann zum Saal umdrehten. In ihren blutroten
Augen glimmte eine Gier, die sie dazu anstacheln würde, Nahrung zu
finden, koste es, was es wolle. Der sechste Vampir, dessen Augen
ebenfalls rot waren, richtete das Wort an Zinnani.
Zinnani, dessen Gesicht denselben gebannten
Ausdruck zeigte wie Alvisis, trat zur Seite, um den Vampir-Gästen
neben ihm Platz zu machen. Selbst von ihrer Position im hinteren
Teil des Saals aus konnte Victoria sehen, dass er vor Aufregung und
Freude über die Nähe der Kreaturen, die er so offenkundig anbetete,
zitterte. In seinen Augen glänzten Tränen, und sein Mund war zu
einem breiten, feuchten Grinsen verzogen, das ihn aussehen ließ wie
jemanden, der gleich in ein üppiges, sündiges Gebäckstück beißen
würde.
Der sechste Vampir wandte sich von ihm ab, um zu
der Versammlung zu sprechen. »Wir sind gekommen, um eure
Ergebenheit und Treue gegenüber den Unsterblichen auf die Probe zu
stellen.Wer von Stufe Eins will der Erste sein, dem diese Ehre
zuteil wird?«
Es folgte ein kurzes Zögern, dann stand ein Mann
im vorderen Teil des Raums auf. »Ich.«
»Tritt nach vorn.«
Der Mann, der kaum mehr war als ein Junge kurz
vor der Mündigkeit, lavierte sich zwischen den Stühlen durch, bis
er vor
der Estrade stand. Der Anführer der Vampire, den Victoria
insgeheim als den Sechsten bezeichnete, zog den jungen Mann mühelos
auf die Empore hoch.
Sie konnte sehen, wie der Puls in einer
aufgetriebenen Vene auf der Stirn des Jungen pulsierte und wie sein
Adamsapfel auf und ab hüpfte. Er blickte zum Saal, und der Sechste
öffnete den Mund, entblößte die tödlichen Fangzähne und zog den
Kopf des Mannes zur Seite.
Er beugte sich hinunter und vergrub vor
Victorias Augen langsam die Zähne in dem ihm dargebotenen Hals. Der
junge Mann zuckte zusammen und riss die Schultern nach hinten,
leistete jedoch keinen Widerstand. Er schloss die Augen und öffnete
den Mund. Hätte der Sechste ihn nicht festgehalten, er wäre zu
Boden gesunken. Er stöhnte, erbebte und verkrampfte die Finger, als
versuchte er, etwas zu umklammern, während sich sein Brustkorb so
schnell hob und senkte, als würde er rennen. Er schien die
Empfindung zu genießen.
Hinter ihnen standen die fünf anderen Vampire,
jene, die noch nicht getrunken hatten und deshalb sehr empfänglich
auf den Geruch von Blut reagierten, und beobachteten sie gierig.
Ihre Nasenflügel zuckten, so als würde der Geruch frischen Blutes
sie wild machen.Victoria konnte ihren Hunger spüren, konnte ihr
Verlangen förmlich riechen; und sie wartete mit Bangen darauf, ob
sie der Versuchung erliegen würden.
Aber obwohl ihre Augen glühten wie die heißesten
Kohlen der Hölle, geschah nichts dergleichen, und der Sechste tat
nichts, um ihre Qual zu lindern. Stattdessen sah er dem jungen
Mann, nachdem er ein paar Momente von ihm getrunken hatte, ins
Gesicht, wischte sich ein paar winzige Blutstropfen von den Lippen
und verkündete: »Du hast nun Stufe Zwei erreicht. Wenn
du vollbringen kannst, was in den nächsten beiden Prüfungen von
dir verlangt wird, und damit deine Treue unter Beweis stellst,
wirst du im inneren Kreis aufgenommen.«
Der Mann, der am ganzen Körper zitterte, dabei
aber einen stolzen Eindruck machte, eilte zu seinem Platz zurück,
wo er die Glückwünsche der Teilnehmer neben ihm entgegennahm.
»Wer will der Nächste sein?«
Ein weiterer Mann stand auf, trat nach vorn, und
es folgte dasselbe Prozedere. Der Sechste trank von ihm, wie zuvor
von dem anderen, ohne sich um die zunehmende Gier und Ungeduld
seiner fünf Gefährten zu kümmern. Doch dieses Mal griff die
Verzückung des Mannes auf Victoria, die nun wusste, was sie
erwartete, über. Seine Schreie waren nicht qualvoll, sondern
ekstatisch, seine Augen mehr vor Lust als vor Schmerz geschlossen.
Er fasste mit den Händen hinter den Vampir, der an seinem Hals
trank, und liebkoste dessen schulterlange Locken.
Als er aufstöhnte, begann es in Victorias Venen
zu rumoren. Sie fühlte sein lustvolles Erschaudern und die Wogen
des Entzückens, die ihn überrollten, fühlte, wie ihr eigener Körper
sich zu regen begann. Was grotesk und beängstigend hätte sein
müssen, wurde auf einmal verführerisch.
Victoria bemerkte, dass der widerlich süße
Geruch stärker geworden war und Zinnani sich hinter die Empore
zurückzog. Sie fasste wieder in ihr Kleid, um ihre vis bulla zu berühren, und schloss die Augen.
Das Ganze ging noch einige Zeit weiter; es kam
ihr vor, als wären seit ihrer und Alvisis Ankunft Stunden
vergangen, in denen der Sechste stets kurz von jedem der Männer
trank, die freiwillig vortraten. Keine der drei Frauen, die
Victoria gesehen hatte, war aufgestanden, um ihre erste Prüfung
abzulegen, und
sie fragte sich langsam, ob ausschließlich Männer die Chance
bekamen, in den inneren Kreis vorzudringen.
Sie musste das unbedingt herausfinden, denn
dieses Zentrum war mit Sicherheit der Ort, an dem Nedas zu finden
sein würde.
Zu ihrem Erstaunen bot Alvisi sich nicht
freiwillig an, dann fiel ihr trotz ihrer Benommenheit wieder ein,
dass er etwas über eine ›Ebene‹ gesagt hatte. Vielleicht waren die
Prüfungen die Ebenen, von denen er gesprochen hatte. Das wiederum
brachte sie zu dem Gedanken, welche Ebene oder Stufe er bisher
erreicht hatte. Er hatte ihr seine Bissmale gezeigt, also musste er
zumindest die erste Prüfung bestanden haben.
Nachdem alle Freiwilligen der Stufe eins
vorgetreten waren, blieb der Sechste mit den Händen in den Hüften
auf der Estrade stehen. Er hatte vergessen, die Spuren von seiner
letzten Mahlzeit fortzuwischen, und so sickerte jetzt ein kleines
Rinnsal Blut sein Kinn hinunter. Seine Lippen waren voll, feucht
und blutig, und seine roten Augen funkelten selbstgefällig. »Die
erste Prüfung ist damit beendet.Wir haben sechzehn neue Mitglieder
für die Tutela gewonnen, sechzehn neue Männer, die die
Unsterblichen schützen und ihnen dienen werden!«
Jubel erhob sich im Saal, gefolgt von demselben
Sprechgesang, den Victoria am Anfang der Zusammenkunft gehört
hatte. Wie schon zuvor begann er leise und gedämpft, dann wogte er
durch den Saal und riss selbst sie in seinen Rhythmus mit. Sie
verstand die Worte nicht, aber dieses Mal schwoll die Lautstärke zu
immer neuen Höhen an, bis die Atmosphäre schließlich derart
aufgeladen war, dass ihr kalte Schauder den Rücken hinabrieselten.
Es war unkontrollierbar; das Auf und Ab von Silben und Atemzügen
vibrierte durch sie hindurch und um sie herum, während gleichzeitig
der süßliche, hypnotisierende Geruch in der Luft noch stärker
wurde.
Die Männer um sie herum brüllten und stießen die
Fäuste nach oben. Überall sah sie Augen, die vor fanatischer
Inbrunst leuchteten.
Der Gesang hielt an, verebbte jedoch zu einer
leisen Untermalung, die die nächsten Worte des Sechsten begleitete.
»Die zweite Prüfung! Wer will mit der zweiten Prüfung
beginnen?«
Der Choral wurde lauter, der Geruch süßer, der
Wahn eskalierte. Jemand stand auf - ein Mann relativ weit vorne,
aber keiner von denen, die in dieser Nacht schon an der Reihe
gewesen waren. »Ich will!«, rief er freudig.
Doch statt vorzutreten, wie Victoria es von ihm
erwartet hätte, beugte er sich zur Seite und ergriff den Arm der
Frau, die neben ihm saß. Obwohl sie sich wehrte - offensichtlich
ahnte sie, was als Nächstes geschehen sollte -, zerrte er sie auf
die Füße und stieß sie nach vorn.
Sie geriet ins Stolpern und wäre fast gestürzt,
doch der Mann packte sie wieder am Arm und schob sie unsanft vor
sich her zur Estrade.
»Ich biete den Unsterblichen meine Ergebenheit
und Treue an«, rief der Mann laut, um über den Sprechchor hinweg
verstanden zu werden. Dann versetzte er der jungen Frau einen
kräftigen Schubs.
Der Sechste griff von der Estrade nach unten,
bevor sie hinfallen konnte, und zog sie leichthändig auf die
Empore. Ihr cremeweißes Kleid schleifte hinter ihr her und wallte
über den Rand der Plattform, als sie erneut stolperte.
»Deine Ergebenheit ist bezeugt«, brüllte der
Sechste, der der Frau mühelos die Handgelenke auf dem Rücken
festhielt, in die
Raserei hinein. Dann überließ er sie zweien der ausgehungerten
Vampire.
Sie fielen über sie her; von beiden Seiten
rammten sie die Fangzähne in ihr weißes Fleisch, einer an ihrem
Hals, der andere an der Stelle, wo sich Hals und Schulter trafen.
Die Frau kreischte, trat und bäumte sich auf, doch dann tauchte
hinter ihr ein dritter Vampir auf und zog ihr die Arme auf den
Rücken, um sie ruhig zu halten, während seine Gefährten ihren
Hunger an ihr stillten.
Mit trockenem Mund und rasendem Herzen sah
Victoria au ßer sich vor Entsetzen zu. Dies war so anders als die
Szenen, die sie zuvor beobachtet hatte. Hier war ein unfreiwilliges
Opfer auf Gedeih und Verderb zwei Vampiren ausgeliefert, die ihr,
rasend gemacht durch ihre Gier, durch den Geruch von Blut und die
Marter zusehen zu müssen, wie von sechzehn anderen getrunken wurde,
Hals und Schultern zerfetzten.
Aber was konnte sie tun? Allein gegen einen
ganzen Saal voller Männer, gegen sechs Vampire? Ihr Geist war noch
immer umnebelt; ihre Gliedmaßen wollten ihr nicht gehorchen. In dem
Moment, in dem jemand entdeckte, dass sie ein Venator war, würde
man sie töten, noch bevor sie ein letztes Mal Luft holen
konnte.
Sie richtete den Blick wieder zur Estrade und
sah, dass das Mieder der Frau zerfetzt war und eine weiße,
blutüberströmte Brust hüpfte und schaukelte, während sie sich wand
und wehrte. Diese Vampire bissen nicht behutsam zu; sie waren
ausgehungert, also zerfetzten, verstümmelten und zerstörten sie.
Die Schreie der Frau wurden gedämpfter, ihr Stöhnen verklang. Der
Gestank von Blut schwängerte die Luft, und der Sprechchor hielt
weiter an.
Jetzt erst bemerkte Victoria, dass auf der
anderen Seite der Empore eine weitere Frau war. Zwei Vampire
teilten sie sich, doch sie kämpfte nicht mit derselben Heftigkeit
gegen sie an, wie es die erste getan hatte. Ihr Fleisch war
zerrissen, Blut strömte ihren Hals und ihren Busen hinab, und sie
schrie. Dann fühlte Victoria plötzlich einen mächtigen, harten Ruck
an ihrem Arm.
Sie riss sich von Alvisi, dessen Gesicht
fanatische Entschlossenheit ausdrückte, los und prallte gegen einen
anderen Mann, der sie nach vorn stieß.Victoria machte einen
Ausfallschritt zur Seite und holte mit der Faust aus, als sie
bereits dem nächsten gegenüberstand. Egal wohin sie sich auch
drehte, stand irgendein Mann, der ihr den Weg versperrte, um sie in
Richtung Estrade zu treiben.
Der Gesang hielt an, während Victoria versuchte,
sich durch die menschliche Mauer zu kämpfen, aber es waren zu
viele. Sie wurde gedrängt und gestoßen, gezerrt und gezogen. Sie
trat um sich und versuchte, sich zu befreien, aber der süße Geruch
war wieder in ihrer Nase, und sie konnte keinen klaren Gedanken
fassen. Sie konnte ihre vis bulla nicht
berühren, konnte nicht aufrecht stehen; sie erkannte noch nicht
einmal mehr, wo sie war.
Plötzlich griffen Hände, viele Hände nach ihr -
zu viele, um sie abzuwehren. Sie fühlte, wie sie hochgehoben wurde,
sah, wie das prasselnde Feuer zu ihrer Linken vor ihr wegkippte,
dann auf die andere Seite, während sie trat und biss und sich
aufbäumte. Plötzlich wurde sie durch die Luft geschleudert; sie
landete mit Hüfte, Schultern und Wange auf etwas Hartem, und ihre
Wange schmetterte auf den Boden. Der Geruch von frischem Blut drang
ihr in die Nase.
Sie war nur für einen kurzen Moment mit dem Meer
aus singenden, fanatischen Gesichtern auf Augenhöhe, dann wurde sie
auf die Füße gerissen.Victoria bekam die Chance, kurz ihre
vis bulla zu berühren, bevor sie sich den
Vampiren stellte, die bereits auf sie zukamen. Sie kickte, wich
aus, schlug mit den Fäusten auf sie ein, traf zu ihrer Befriedigung
einen von ihnen ins Gesicht. Dann fasste sie nach hinten, um einen
Pflock aus ihrem Haar zu ziehen, doch jemand packte ihre Arme und
zog sie nach unten. Sich nur vage bewusst, dass dazu zwei Vampire
nötig gewesen waren, einer an jedem Arm, duckte sie sich und
versuchte, sich loszureißen.
Ihre Griffe waren zu stark; sie konnte sie nicht
brechen. Sie konnte ihre Pflöcke nicht erreichen, und auch nicht
ihr Weihwasser, ihr Kruzifix... Überall an ihrem Körper waren
Hände, die an ihrem Kleid zerrten, an ihren Armen, Beinen, ihren
Brüsten. Sie spürte, wie ihr der Kopf an den Haaren zur Seite
gezogen wurde, wie ihre Frisur sich auflöste und ihr Hals entblößt
wurde. Das dumpfe, metallische Aroma von Blut im Atem des Vampirs,
der ihr am nächsten war, füllte ihre Nase und verdrängte sogar den
hypnotischen Geruch des süßlichen Rauchs.
Als seine Zähne sich in ihren Hals gruben, war
es fast schon eine Erleichterung.