Kapitel 13
Ein Duell wird
ausgetragen
Nach ihrem Intermezzo mit
Sebastian hielt Victoria sich trotzig von sämtlichen Schiffsdecks
fern, sobald der Mond und die Sterne am Himmel standen, und
beschränkte ihre Spaziergänge auf taghelle Stunden.
Es war seltsam, ihn jeden Tag zu sehen,
inklusive der Zeiten, wenn sie ihre Runden um die Masten und andere
auf dem Deck befestigten Objekte drehte. Sie war es gewöhnt, dass
er unerwartet auftauchte - und nicht, ihm beim Essen
gegenüberzusitzen. Er benahm sich, als würde er sie kaum kennen,
indem er sich höflich verbeugte und sie mit Mrs.Withers ansprach,
wann immer sie sich begegneten, während er gleichzeitig seinen
Charme gleichmäßig auf die anderen vier Frauen an Bord verteilte.
Die Gattin des Kapitäns und ihre Schwestern waren überaus
entzückt.
Victoria war es lieber, dass er auf Abstand
blieb. Es fiel ihr leichter, die Erinnerung an Phillip
wachzuhalten, daran, wie sehr sie ihn geliebt hatte und wie frisch
verwitwet sie war, wenn sie Sebastian nur im Vorbeigehen sah.
Aber die Tatsache blieb bestehen, dass sie an
Sebastian dachte, und das ziemlich oft. Es war schwer, die
Erinnerung daran, wie sein muskulöser Körper sie gegen die Reling
gedrängt hatte, aus dem Gedächtnis zu verbannen, und fast
unmöglich, die Küsse, die sie ausgetauscht hatten, zu vergessen -
vor allem, da sich seine
sinnlichen Lippen stets zu diesem einladenden Lächeln verzogen,
sobald sie ihm über den Weg lief. Seine Absichten waren ihr
vollkommen klar; sie hoffte bloß, dass Tante Eustacia sie nicht
ebenfalls erkannt hatte.
Gleichzeitig fragte Victoria sich, was es
eigentlich schaden könnte, wenn sie dem, was sie beide begehrten,
nachgeben würde. Er hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er
kein anderes Interesse verfolgte als eine Romanze, von der sie
beide profitierten, was auch für sie das Einzige war, was sie
wollte oder worauf sie sich einlassen durfte. Und es bestand auch
nicht die Gefahr, dass sie als Folge einer möglichen Liaison ein
Kind bekommen würde, denn Victoria hatte nach ihrer Hochzeit mit
Phillip von Eustacia eine Arznei erhalten, mit der sich eine
Schwangerschaft verhindern ließ. Dies war eine alte Tradition bei
den Gardellas; denn niemand, und am allerwenigsten Victoria, hatte
Bedarf an einem schwangeren Venator.
Wenn sie herausfinden wollte, wie es war, einen
Liebhaber zu haben, mit dem sie weder verheiratet noch auf sonstige
Weise verbunden war, wäre Sebastian die logische Wahl. Denn er
verstand und akzeptierte ihr Leben. Er war sich ihrer Verpflichtung
bewusst und besaß nicht diesen übergroßen Beschützerinstinkt wie
andere Männer. Ihn würde sie nicht belügen oder ihre vis bulla vor ihm verstecken müssen, noch würde er
auf eine Heirat drängen.
Er war attraktiv und charmant, und bei ihm
fühlte sie sich selbst für einen Vampirjäger stets ein bisschen
verwegen. Natürlich stellte sich die Frage, ob sie ihm vollständig
trauen konnte. Aber ob nun vertrauenswürdig oder nicht, er verstand
es - unter anderem -, sehr gut zu küssen, und sie als Venator
konnte schließlich auf sich selbst aufpassen.
Es war etwas, worüber sie täglich
nachdachte.
Denn außer ihren Versuchen, Sebastian aus dem
Weg zu gehen - und damit ihrem quälenden Gefühlschaos -, gab es für
Victoria während der Reise wenig zu tun.
Anfangs hatte sie versucht, in Form zu bleiben,
indem sie in der kleinen Kabine, die sie mit Verbena teilte, ihr
kalaripayattu übte, aber es gab dort nicht
genug Platz. Sie trat aus Versehen immer wieder gegen eins der
Betten, und bei einer Gelegenheit prellte sie sich den Ellbogen an
der Wand, als sie eine Drehung falsch austarierte.
Deshalb machte sie sich auf die Suche nach einem
Ort, wo sie mehr Bewegungsfreiheit hätte. Besser gesagt, sie
schickte Oliver los, um einen ausfindig zu machen. Er spürte
schließlich einen Lagerraum auf, der aufgrund der Tatsache, dass
ihre Passage weniger als zwei Wochen in Anspruch nehmen würde,
nicht bis in den letzten Winkel mit Vorräten gefüllt war, wie es
bei einer längeren Reise der Fall gewesen wäre.
Also absolvierte Victoria ihr Training dort,
manchmal mit Kritanu, manchmal ohne ihn, während Oliver vor der Tür
saß und aufpasste, dass niemand hereinkam. Es wäre für einen der
Seeleute in höchstem Maße peinlich gewesen, auf Victoria zu
treffen, die in weite Hosen und ein tunikaartiges Hemd gekleidet um
sich tretend durch den Raum wirbelte.
Eines Tages trainierte sie schon eine gute
Stunde und integrierte dabei die überall auf dem Boden verteilten
Kisten in ihre Bewegungsabläufe. Mit einem Satz sprang sie auf eine
von ihnen, schoss, ihr Kraftmoment nutzend, herum, und wieder nach
unten, dann quer durch den Raum auf eine andere.
Victoria schwitzte, und einzelne Strähnen, die
sich aus ihrem Zopf befreit hatten, klebten ihr an den Schläfen und
im Nacken.
Mit einer blitzschnellen Drehung schnappte sie sich die Machete,
die sie in den letzten Tagen beim Training mit Kritanu benutzt
hatte, dann sah sie plötzlich, wie die Tür geöffnet wurde.
Sebastian, natürlich.
»Wie bist du hier hereingekommen?«, stieß sie
schnaufend und keuchend hervor. Sie stand auf einer der Kisten
gegenüber der Tür und wischte sich mit der Hand über die feuchte
Stirn. Die Machete baumelte locker in ihrer Hand. Sie wollte sich
gar nicht vorstellen, wie sie aussehen musste, mit den
schweißnassen Flecken an den Seiten ihres Hemds und den weiten,
unweiblichen Hosen. Und dann ihre Füße, die nur in leichten
Strümpfen steckten.
»Durch deinen Diener Oliver natürlich. Ich habe
mich während deiner Trainingsstunden ein paar Mal mit ihm
unterhalten - um sein Vertrauen zu gewinnen, weißt du. Und heute
erklärte ich ihm dann, dass es gewiss in Ordnung wäre, mich ein
wenig zusehen zu lassen.«
Er ging zu Kritanus eigener Machete hinüber und
hob sie auf. »Du lernst zu fechten, nicht wahr?«
»Die Technik heißt ankathari, und sie ist wesentlich gefährlicher als
die hübschen Pirouetten und Paraden, derer sich ein Franzose beim
Fechten bedient.Achte auf die fehlende Elastizität und die Breite
der Klinge. Unsere Waffen sind weitaus tödlicher als diese
schlanken, biegsamen Degen, die ihr benutzt.«
»Oho! Du willst mich also zu einem Duell
herausfordern? Ich nehme gerne an.« Er schwang das Schwert und ließ
es durch die Luft sausen, dann legte er es beiseite, um sich Jacke
und Krawatte auszuziehen. Sie versuchte, nicht hinzusehen, als er
seine zwei Kragenknöpfe aufspringen ließ und die Ärmel
hochkrempelte, sodass seine karamellfarbene Haut zum Vorschein
kam.
»Dort drüben ist ein gepolsterter Brustpanzer,
falls du einen tragen möchtest.« Victoria nickte zu einem Haufen
Schutzkleidung, die Kritanu normalerweise während ihrer
Trainingseinheiten anlegen würde.
Sebastian überlegte kurz, dann sah er sie an.
»Du trägst keinen?«
»Nein. Aber ich -«
»- bin ein Venator. Ja, ja, dessen bin ich mir
bewusst.« Er trat in die Mitte des Raums. »Ich werde das Risiko
trotzdem eingehen.« Als Victoria sich nicht von der Stelle rührte,
fragte er: »Willst du dich etwa nicht mit mir messen? Oder bist du
für heute mit deinem Training fertig?«
»Ich werde mich mit dir messen.« Sie sprang von
der Kiste und landete mit beiden Fußsohlen auf dem Boden. »Es gibt
auf diesem Schiff ansonsten wenig zu tun.«
Zwei Machetenlängen voneinander entfernt
brachten sie sich in Position. Sie sahen sich an, und in seinen
goldenen Augen lag ein vergnügter, herausfordernder Ausdruck.
»Wir müssen einen Preis für den Gewinner dieses
Duells festsetzen.« Er grinste hinterhältig. »Du dachtest doch
nicht, dass ich mir eine solche Gelegenheit entgehen lassen würde,
oder?«
Es gelang Victoria nicht, ein überraschtes
Auflachen zu unterdrücken. »Nein, natürlich nicht. Und ich bin mir
sicher, dass dir auch schon etwas vorschwebt.«
»Eine Gefälligkeit. Der Gewinner wählt eine
Gefälligkeit, die ihm der andere aus freien Stücken erweisen
muss.«
Nun lachte sie richtig. »Sebastian, du bist
wirklich berechenbar.«
Anstatt beleidigt zu sein, nickte er grinsend.
»Selbstverständlich. Wenn sich eine günstige Gelegenheit bietet,
ergreife ich sie.«
»Das bedeutet aber, dass du siegen musst, um die
Gefälligkeit einzufordern.«
»Du scheinst nicht besorgt zu sein.«
»Das bin ich auch nicht.« Damit griff sie
an.
Er bewegte nichts außer seinem Schwertarm, mit
dem er ihre Machete geschmeidig abblockte. »Ebenso wenig wie
ich.«
Für eine Weile attackierten und parierten sie,
wobei sie die Füße die meiste Zeit in derselben Position beließen,
während ihre Klingen klirrend aneinander entlangwetzten und sich
dann wieder trennten. Victoria hielt sich zurück, um zunächst das
Können ihres Gegners einzuschätzen; denn obwohl sie ihn besiegen
wollte, legte sie keinen Wert darauf, den eingebildeten Tölpel, der
die ihm angebotene Schutzkleidung verschmäht hatte, zu verletzen.
Bestimmt war er mehr an den Umgang mit einem Degen oder einer
anderen Fechtwaffe, die leichter und wendiger war, gewöhnt, aber
trotzdem hielt er selbst dann noch mit ihr mit, als sie das Tempo
und die Wucht ihrer Stöße und Schläge erhöhte.
Bald tänzelten sie in einer Art seltsamem Walzer
durch den Lagerraum, und Victoria merkte, dass sie sich
konzentrieren musste, um mit Sebastian Schritt zu halten. Er
entpuppte sich als flink und einfallsreich, und sie war ihm
keinesfalls überlegen. Tatsächlich begann sie sich allmählich zu
fragen, wie er es nur schaffte, ihr auf diese Weise Paroli zu
bieten und sie so mühelos abzuwehren. Doch dann traf sie seine
Machete genau im richtigen Winkel und schlug sie ihm aus der
Hand.
Noch bevor sie realisierte, dass sie gewonnen
hatte, schlug er einen Salto und schnappte sich die noch immer
vibrierende Machete, dann stürzte er sich mit solcher Vehemenz auf
sie, dass sie nach hinten gegen eine der Kisten gedrängt
wurde.
Ihre Klingen schlugen gegeneinander und
verharrten in dieser Position, so als wären sie
zusammengeschmiedet; sein Gesicht war dabei so nah vor ihrem, dass
Victoria ein einzelnes, widerspenstiges goldenes Kupferhaar seiner
Brauen sehen konnte, das sich in dem Haar verfangen hatte, welches
ihm in die Stirn fiel. Ein Schweißtropfen rann ihm über die
Schläfe. Sebastian grinste, und ihr zog sich der Magen
zusammen.
Dann, so als hätten sie die Gedanken des anderen
gelesen, bewegten sich beide gleichzeitig. In einem gefährlichen
Tumult von Klingen und schleifendem Metall trafen die Macheten
wieder aufeinander, verfingen sich, wurden auseinandergewuchtet,
dann flog eine durch die Luft und die andere klirrte zu
Boden.
Sebastian trat mit dem Fuß gegen die Waffe, die
noch im Fallen war und kickte sie beiseite, bevor Victoria danach
greifen konnte. »Der Sieg ist mein, meine Schöne. Ich werde nun den
Preis einfordern.«
»Du hast nicht gesiegt. Das Duell ist
unentschieden ausgegangen.«
»Gewiss. Nun, solange ich meine Gefälligkeit
bekomme, kannst du es von mir aus gern als ein Unentschieden
betrachten …«
»Aber was, wenn ich sage, dass deine Forderung
null und nichtig ist?«
»Das würdest du nicht, ma
chère. Du bist kein Feigling.«
Ihre Augen wurden schmal, aber sie trat zurück
und nickte. »Nun gut. Nenne deinen Preis.«
»Ich möchte« - er nahm ihre Hände, bevor sie es
verhindern konnte, und zog sie behutsam zu sich - »eine ehrliche
Antwort auf die Frage, die ich dir gleich stellen werde.«
»Keine Küsse? Keine Besichtigung meiner
vis bulla? Kein unanständiges Angebot?
Sebastian, du machst mir Angst!«
Er wölbte die Finger sanft um ihr Kinn und hob
es an. »Falls du enttäuscht bist, denk daran, dass du auch noch
einen Preis einfordern darfst.« Er gab ihrem Kinn einen liebevollen
Stups, dann ließ er es los und streichelte ihre Wange. »Ich möchte
gern wissen, warum du Rockley geheiratet hast - aus familiärer
Verpflichtung oder aus Liebe?«
Die Frage überraschte sie so sehr, dass sie
zögerte. Dann erwiderte sie: »Es war keine Verpflichtung. Ich habe
ihn geliebt.« Ihre Stimme klang rostig, und der Raum kam ihr
plötzlich erdrückend vor. Warum sollte er eine solche Frage
stellen? Was kümmerte es ihn?
Er drückte ihre Hände, dann gab er sie frei und
blieb abwartend stehen. Sie betrachtete ihn, mit seinem weißen
Hemd, das an mehreren Stellen feucht war und dessen geöffneter
Kragen den Schweiß an seinem Hals und ein wenig bronzefarbenes
Brusthaar zeigte. Sie hatte mehr als einmal darüber sinniert, wie
sehr er sie mit dem lohfarbenen Haar, der schimmernden Haut und den
bernsteinfarbenen Augen an einen goldenen Engel erinnerte. Die
dunkelsten Aspekte seines Gesichts waren die schrägen Brauen, bei
denen sich Wallnussbraun mit Blond und Kupfer mischte, und die
Wimpern, die seine Augen umrahmten. Davon abgesehen war er ganz
Bronze.
Aber ganz bestimmt kein Engel, besonders wenn er
sie so ansah wie jetzt gerade... so als rechnete er damit, dass sie
sich vor Lust windend jeden Moment vor seine Füße sinken lassen
würde.
»Victoria?«
Sie bedachte ihn mit einem Lächeln, das sie
bislang nur bei
Phillip benutzt hatte... das ihr zu eigen geworden war, nachdem
sie verstanden hatte, wie das Verlangen eines Mannes funktionierte
und wie eine Frau es zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Und zu ihrem
Vergnügen.
Genau dieses Lächeln schenkte sie ihm jetzt;
vielleicht gab es einen Namen für die Art des Ausdrucks, aber sie
kannte ihn nicht. Sie trat zu ihm, ganz nah. Sie roch Nelken und
Männlichkeit und noch einen anderen Geruch, der von seiner Kleidung
oder seinem Haar stammen konnte... Lorbeer... und legte ihm die
Hände auf die Schultern. Sie waren breit und kraftvoll, und seine
Haut glühte feucht und warm unter seinem feinen, dünnen Hemd.
Sie konnte die goldenen, kupferfarbenen und
braunen Stoppeln sehen, die an seinem Kinn zu sprießen begannen,
und fühlte die Erwartung in seinem Atem. Seine Augen waren halb
geschlossen, aber sie merkte, dass er sie genau beobachtete. Er
selbst lächelte nicht.
Victoria stellte sich auf die Zehenspitzen,
legte den Mund an seinen Hals und flüsterte: »Ich möchte wissen,
weshalb du so viel über Vampire weißt.«
Dann ließ sie sich wieder auf die Fersen sinken,
gab seine Schultern frei, die durch die entladene Anspannung nach
unten sackten, und trat zurück. Er öffnete die Augen ganz.
»Wie sehr du einen Mann doch in Versuchung
führst,Victoria«, bemerkte er heiter. Doch sein Gesichtsausdruck
strafte jede Belustigung Lügen. »Die Antwort auf deine Frage ist
komplizierter als du denkst. Ich müsste dir wesentlich mehr
erzählen, als ich zu diesem Zeitpunkt preisgeben will; aber so viel
zumindest kann ich dir verraten: »Genau wie du habe ich einen
geliebten Menschen an die Vampire verloren.«
»Deine Frau? Eine Geliebte?«
»Meinen Vater.«