Epilog
In welchem Wayren Illa
Gardella besänftigt
Deine Tante wusste von dem Moment an, als sie in
Rom eintraf, dass sie die Stadt nicht mehr verlassen würde«,
erklärte Wayren.
Sie saßen in dem winzigen Salon der Villa.
Victoria hatte in den vierundzwanzig Stunden, die vergangen waren,
seit sie aus dem Opernhaus geflüchtet war, den ersten Schock
überwunden.
So vieles war geschehen, aber es war ihr
gelungen, die Trauer, den Zorn und das überwältigende Gefühl,
verloren, einsam und hilflos zu sein, zu bezähmen.
Sie hatte die Herausforderung angenommen, sich
der riesigen, unheilvollen Verpflichtung zu stellen, die vor ihr
lag, und sie war bereit dafür. Ja, sie trauerte. Es kam ihr vor,
als wäre es erst gestern gewesen, dass sie das gleiche Gefühl der
Leere empfunden hatte, verursacht durch Phillips Tod... Aber sie
hatte es damals überwunden, und sie würde es auch heute
überwinden.
Sie musste. Sie war ein Venator.
Sie war Illa
Gardella.
»Es stand in einer uralten Prophezeiung Lady
Rosamunds geschrieben. Eustacia war bestens mit ihr vertraut, doch
wusste sie nicht genau, was sie bedeutete, bis sie sich dann
erfüllte. ›Des Venators ruhmreiche Zeit wird in Rom zu Ende gehen‹,
lautet die akkurate Übersetzung. Es ergibt nun Sinn, denn deine
Tante
war wirklich der ruhmreichste aller Venatoren, Victoria, und du
wirst in ihre Fußstapfen treten.«
»Ich kann Max’ Entscheidung nicht akzeptieren. Es
muss noch einen anderen Weg gegeben haben!«
Wayren sah sie mit ihren ruhigen grau-blauen
Augen an. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Mitgefühl. »Er
wollte es nicht tun,Victoria. Er wollte nicht. Er hätte alles für
eine Alternative gegeben. Aber Eustacia hat es ihm befohlen.«
Victorias Augen wurden feucht. »Was? Wie konnte
sie?«
»Sie traf die Wahl, die getroffen werden musste.
Wäre es Nedas gelungen, die ganze Kraft des Obelisken freizusetzen,
so hätte es noch viel mehr Zerstörung und Tod gegeben, als wir in
Praga gesehen haben. Sie opferte sich aus freien Stücken, um Max
die Chance - die einzige Chance - zu verschaffen, Nedas
aufzuhalten. Ein Leben im Austausch für viele andere. Sie vertraute
darauf, dass er es schaffen würde. Und das tat er. Er tat es, so
gering die Erfolgsaussichten auch waren, denn er musste den
Obelisken im exakt richtigen Moment mit dem Schwert treffen, sonst
wäre die Gelegenheit vorüber gewesen.«
Victoria nahm das Taschentuch, das Wayren ihr
anbot. Es duftete nach Maiglöckchen und Pfefferminz, und irgendwie
beruhigte die Mischung sie. »Max hatte nicht damit gerechnet, zu
überleben.«
»Ich bin davon überzeugt, dass er das nicht hat.
Du hast ihm in einem Moment das Leben gerettet, als du selbst am
schwächsten warst, was von deiner Kraft und deiner Klugheit zeugt.
Du bist jetzt Illa Gardella.«
Wayren berührte sie mit ihrer schlanken, kühlen
Hand, und Victoria fühlte sich unwillkürlich getröstet. »Wer,
denkst du, hatte die schwierigere Aufgabe - deine Tante, auf dem
Weg zu
ihrer eigenen Hinrichtung? Oder aber Max, der jemandem
gegenübertreten musste, den er liebte, bewunderte und respektierte,
um ihn niederzustrecken? Ist es wirklich so überraschend, dass er
nicht tagein, tagaus mit dieser Erinnerung, diesem Wissen leben
möchte? Für deine Tante war es in einem Augenblick vorüber - ich
bin sicher, Max hat dafür gesorgt, dass es schnell und schmerzlos
vonstatten ging. Aber er...«
»Er wird für immer mit dieser Entscheidung leben
und sich den Kopf zermartern, ob es nicht doch einen anderen Ausweg
gegeben hätte.« Victoria dachte zurück an die schreckliche Zeit vor
einem Jahr, als sie eine Entscheidung getroffen und in den Gassen
von St. Giles beinahe einen Mann getötet hätte. Sie konnte nur
erahnen, wie viel schlimmer es sein musste, jemandem das Leben zu
nehmen, den man liebte.
»Ja, das wird er.«
»Er gab mir seine vis
bulla.« Sie zeigte sie Wayren.
»Hast du einst nicht auch deine abgenommen, als
du befürchtetest, sie nicht länger tragen zu
können,Victoria?«
Sie erinnerte sich und nickte.
»Wir müssen ihm Zeit lassen. Und darauf hoffen,
dass er zu uns zurückkehrt.«