Kapitel 21
In welchem Monsieur Vioget einen wenig schmeichelhaften Vergleich über unsere Heldin anstellt
Das Erste, was Victoria bemerkte, als sie wieder zu sich kam, war die Eiseskälte in ihrem Nacken.
Dann, dass sie die Arme nicht bewegen konnte. Und auch nicht die Beine.
Sie öffnete die Lider nur einen winzigen Spalt weit, um ihre Wächter nicht wissen zu lassen, dass sie wieder bei Bewusstsein war, aber die Mühe war vergebens.
»Ah... unser bezaubernder Venator ist wieder bei uns.« Sebastians Stimme war so nah, dass Victoria die Augen nun ganz aufschlug und ihn mit einem schläfrigen, finsteren Blick bedachte.
Er saß auf einem Stuhl neben dem schmalen Bett oder Sofa, auf dem sie lag - sie war sich da nicht ganz sicher. Woran es jedoch keinen Zweifel gab, war, dass ihre Hand- und Fußgelenke gefesselt waren und dass sie Sebastian umbringen würde.
Ein kurzer Rundblick durch den kleinen Raum verriet ihr, dass sie sich in irgendeinem Wohnhaus befanden:Vorhänge verdeckten die Fenster, Teppiche schützten den Fußboden, neben Sebastians Ellbogen stand ein Tisch mit einer Wachskerze darauf. Alles sehr hübsch und heimelig.
Aber irgendwo waren Vampire. Nicht bei ihnen im Zimmer, soweit sie feststellen konnte; trotzdem irgendwo ganz in der Nähe.
»Ich werde dich umbringen«, versprach sie mit zusammengebissenen Zähnen.
»Was glaubst du wohl, warum ich dich vorsichtshalber gefesselt habe?«
»Hast du wirklich gesagt, dass Beauregard dein Großvater ist?«
»Nun, um präzise zu sein, trennt uns eine solche Vielzahl von Generationen, dass er mindestens mein Ur-Ur-Ur-Urgroßvater sein muss.« Sebastian lächelte huldvoll, so als hätte er gerade seine Verwandtschaft mit dem König bekannt gegeben. Er hatte seine Jacke nicht wieder angezogen, sodass er nun in Hemdsärmeln und mit einem Glas Wein auf dem Tisch vor sich neben ihr saß.
»Er ist ein Vampir.«
Sebastian neigte bestätigend den Kopf.
»Ein Vampir, dessen Name offensichtlich Macht und Einfluss bedeutet.«
»Also hast du mich durch den Nebel ihrer Verlockung hindurch gehört? Ich war mir nicht sicher, woran du dich erinnern würdest.«
»Ich habe alles gehört, einschließlich des Teils, in dem du behauptet hast, dass ich dir gehöre, als wäre ich ein Stück Pferdefleisch. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du vorhattest, mich wie ein dummes Bauernmädel zu entführen und dir dann Freiheiten herauszunehmen.«
Er sah sie mit funkelnden Tigeraugen an. »Darf ich dich daran erinnern, Victoria, dass ich mir keinerlei Freiheiten genommen habe, die du nicht bereitwillig gabst?«
Sie kämpfte dagegen an, vor Zorn und Demütigung zu erröten, und wechselte das Thema. »Wer hat dir befohlen, mich fortzubringen?«
»Man hat mir überhaupt nichts befohlen. Ich wurde sehr behutsam gebeten und habe ohne Umschweife zugestimmt, da es deine hübsche Haut davor bewahren würde, ins Kreuzfeuer zu geraten, und mich selbst, gezwungen zu sein, eine Seite zu wählen. Und ich habe es getan, ohne eine Belohung zu verlangen, wenn ich das klarstellen darf. Findest du das nicht heroisch von mir?«
»Heroisch? Eher selbstsüchtig. Schließlich hat es doch ganz den Anschein, als hättest du großen Vorteil aus der Situation gezogen und dir deine Belohnung doch noch geholt.«
»Nun,Victoria, du musst zugeben, dass unsere hübschen Intimitäten längst überfällig und in Wahrheit nur eine unerwartete Begleiterscheinung meines Auftrags waren. Mein einziges Ziel war tatsächlich, dich sicher aus der Schusslinie zu bringen, während die Dinge weiter ihren Lauf nehmen.«
»Wofür hältst du mich, für ein hilfloses Mädchen? Ich bin ein Venator! Es gab keinen Grund, mich wegzubringen, du verdammter Idiot! Ich hätte dort sein müssen!« Sie zerrte an den Stricken um ihre Handgelenke, und woran auch immer sie festgebunden war, knarzte leise. Als sie sah, wie seine Augen angesichts ihrer Hilflosigkeit interessiert funkelten, fuhr sie rasch mit ihrem Kreuzverhör fort. »Wer hat dich gebeten, mich wegzubringen? Beauregard?«
Er schien die Situation über alle Maßen zu genießen, was Victoria nur umso entschlossener machte, ihm dieses sardonische Grinsen von seinem schönen Mund zu wischen. »Heißt das, du bist immer noch nicht darauf gekommen? Es war natürlich Max. Max, der mich niemals um so etwas bitten würde, wenn er irgendeine Alternative hätte - was nicht der Fall war. Armer Teufel.«
Victoria hielt inne. Ja, das ergab Sinn. Max hatte von ihr verlangt, Rom zu verlassen, dabei jedoch gewusst, dass sie nicht gehorchen würde - was sie selbstverständlich auch nicht getan hätte -, um die Dinge dann selbst in die Hand zu nehmen.
»Weshalb besteht zwischen dir und Max eine solche Feindseligkeit?«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Das ist nichts, worüber ich im Moment sprechen möchte. Aber du kannst mir gern jede andere Frage stellen, die dir einfällt.Vielleicht stößt du dabei ja auf ein anderes interessantes Thema. Wir haben ziemlich viel Zeit totzuschlagen. Es sei denn, du würdest dich lieber anderen Vergnügungen hingeben.«
»Du bist wirklich nicht ganz bei Trost, wenn du glaubst, dass ich mich je wieder von dir anfassen lasse.«
»Jetzt fängst du an, wie eine dieser Heldinnen aus Mrs. Radcliffes Romanen zu klingen, und gar nicht mehr wie ein Venator. Geschieht das immer mit dir, wenn du dich einem Mann hingegeben hast? Es ist wirklich ein Wunder, dass du es so weit gebracht hast, wenn du zu derart klischeehaften Beteuerungen neigst.«
»Warum bindest du mich nicht los, damit wir sehen können, wie viel von der Heldin eines Schauerromans wirklich in mir steckt?«
»Und einem Venator seine ganze körperliche Überlegenheit zugestehen?«, fragte er in gespieltem Entsetzen. »Ich denke, das wäre keine gute Idee. Im Übrigen...« Dann saß er plötzlich neben ihr, sodass seine Hüfte seitlich ihre Taille berührte. »Ich weiß nicht, warum ich die Situation nicht weiter ausnutzen sollte; vor allem da ich, wie du ja betont hast, mich deiner entzückenden Person nicht mehr nähern darf, sobald du erst wieder frei bist. Eine Aussage, die ich als ziemlich Besorgnis erregend empfinde.«
Er legte die Finger um ihr Kinn, um ihren Kopf festzuhalten, dann beugte er sich zu ihr.Victoria erwartete einen groben, fordernden Kuss und war überrascht, als er sanft und liebevoll ausfiel: das genaue Gegenteil zu der gewaltsamen Art, wie er sie gefangen hielt. Sie versuchte, sich einzureden, dass sie seinen Kuss nur erwiderte, um ihn in falscher Sicherheit zu wiegen. Als sie dann einen Moment später versuchte, ihn in die Lippe zu bei ßen, wich er lachend zurück und gab ihr Gesicht frei. »Da ist sie ja wieder, meine kleine Kämpferin.«
Er strich mit einem Finger über ihr Kinn, ihren Hals, dann durch die kleine Grube unter ihrer Kehle bis hinunter zur Schwellung ihrer Brüste und ließ überall dort, wo er sie berührte, eine Gänsehaut zurück. »Du bist wirklich überaus verführerisch, mein Engel; so sehr, dass ich mehr riskiert habe, als ich sollte, seit wir uns begegnet sind. Allerdings bin ich nicht der erste Vioget, der sich wider besseres Wissen von einer Frau hat beeinflussen lassen. Die Männer in meiner Familie haben gewisse Schwächen.«
Sebastian saß noch immer an ihrer Seite, und die Wärme seines Beines an ihrem Körper wurde unerträglich. Er hatte seine Position so verlagert, dass er auf eine Handfläche gestützt über sie gebeugt war und sein krawattenloses Hemd ihr Kleid streifte.
Sie gab ihm nicht die Genugtuung, das Offensichtliche zu fragen, sondern sah ihn nur an, während sie versuchte, nicht daran zu denken, wie nah er war. Sie weigerte sich, darauf zu achten, wie gleichmäßig sein Puls an seiner Kehle schlug und wie die schmale Öffnung seines Hemds ein klein wenig seines goldenen Brusthaars enthüllte. Und wie sanft seine Finger mit den Locken an ihrem Ohr spielten, sodass ein unbehagliches Prickeln ihren Hals hinablief.
Stattdessen dachte sie daran, dass er sie wieder einmal ausgetrickst hatte. Zwar hatte er behauptet, es sei nur geschehen, um sie zu beschützen... aber er war der Enkel eines mächtigen Vampirs. Sie konnte ihm nicht trauen, auch wenn er ein fantastischer Liebhaber war. Mit ihr zu schlafen, war nichts weiter als eine Taktik gewesen, um mit ihr zu verschwinden und sie in Sicherheit zu bringen.
Sie! Einen Venator!
»Mein Großvater wurde vor Jahrhunderten durch eine bezaubernde, hinterhältige Vampirin in seine derzeitige Zwangslage gebracht. Mein Vater wurde von einem wollüstigen Exemplar zerrissen und getötet. Sie war der erste der beiden einzigen Untoten, die ich je liquidiert habe.«
»Du behauptest, kein Mitglied der Tutela zu sein.«
»Das bin ich auch nicht, obwohl es viele Parallelen zwischen uns zu geben scheint. Das Interesse der Tutela besteht darin, die Vampire zu schützen und gleichzeitig Unsterblichkeit zu erlangen. Sie wollen, dass die Vampire ihre Macht ausweiten, und sind fasziniert von ihrem Leben. Ich habe weder den Wunsch, unsterblich zu werden, noch die Sterblichen untergehen zu sehen. Der Preis ist zu hoch, und ich kann ihre Lebensweise wirklich nicht empfehlen. Falls man es so nennen darf.«
»Aber wenn die Vampire dir zwei Familienmitglieder genommen haben, verstehe ich nicht, wie du überhaupt mit ihnen sympathisieren kannst.«
»Mein Großvater wurde mir nicht genommen. Er ist für mich der, der er ist und immer war, und ich liebe ihn. Würde er von jemandem wie dir getötet, wäre er für alle Ewigkeit verdammt.« Er setzte sich auf und sah sie mit ungewohnt ernster Miene an. »Verdammt für alle Ewigkeit,Victoria, ohne jede Hoffnung auf Begnadigung. Begreifst du, was das bedeutet?« Sie hatte ihn nie zuvor so grimmig und humorlos erlebt. »Jeder Vampir war, wie du sehr wohl weißt, einmal ein Mensch, der als Mutter,Tochter,Vater oder als Sohn geliebt wurde. Jemanden in den Tod zu schicken, ist gleichbedeutend damit, einen Richtspruch zu fällen.«
»Ein Vampir ist erst dann ein Verdammter, wenn er das Blut eines Sterblichen getrunken hat; solange er das nicht getan hat, kann er vor dem ewigen Höllenfeuer gerettet werden. Und es ist nun einmal die Pflicht eines Venators, einen solchen Richtspruch zu fällen.« Victoria versuchte dabei, nicht an den Mann zu denken, den sie um ein Haar in den Straßen von St. Giles umgebracht hätte - als sie einen Richtspruch gefällt hatte, der ihr nicht zustand. »Man verleiht uns diese besonderen Fähigkeiten, damit wir sie dazu einsetzen, das Böse von dieser Welt zu tilgen.« Sie hatte sich als Richter über einen Menschen aufgeschwungen und ihn verurteilt, und sie verabscheute sich selbst dafür.
»Ich würde diese Bürde ablehnen,Victoria. Nicht alle Vampire sind durch und durch verdorben, wie ich aus eigener Erfahrung sehr gut weiß.Wenn sie wirklich dieser rücksichtslos blutrünstige Abschaum wären, für den du sie hältst, wäre ich jetzt nicht hier. Mein Großvater hätte mich längst zerfleischt oder zu einem der ihren gemacht.«
»Aber wenn ein Sterblicher zum Vampir wird, ist er nicht länger der Mensch, den wir einmal kannten. Er wird zum Monster, zum Dämon, getrieben von seiner Gier. Ich bin noch nie einem Vampir begegnet, der nicht darauf erpicht gewesen wäre, einem Menschen das Blut auszusaugen. Ich habe das Gemetzel gesehen, das sie hinterlassen, die Art, wie sie verstümmeln und zerfetzen, Männer und Frauen in Stücke reißen. Sie sind aus gutem Grund verflucht, Sebastian, denn sie morden wahllos und ohne Notwendigkeit, sie nehmen anderen das Leben, um selbst existieren zu können. Ich weiß, dass ich in der Lage bin, es zu verhindern, dass ich dazu auserwählt wurde, die Sterblichen zu schützen, und ich könnte meine Pflicht niemals verraten. Ich verstehe nicht, wie du dieses Böse einfach akzeptieren kannst, auch nicht bei deinem eigenen Großvater.«
»Und das«, sagte er leichthin, während er aufstand und sich sowohl körperlich als auch emotional von ihr zurückzog, »ist es, was ich zu meinem großen Bedauern so anziehend an dir finde. Deine Entschlossenheit, deinen Mut, deine Opferbereitschaft. Deine Stärke.Wie du dich selbst von überzeugenden Argumenten nicht so leicht ins Wanken bringen lässt. Lass mich dich etwas fragen, Victoria. Wenn mein Großvater, Beauregard, jetzt in dieses Zimmer käme und ich dir einen Pflock gäbe, würdest du ihn hier vor meinen Augen töten?«
Sie sah ihn an, und ihr Herz hämmerte unüberhörbar laut in der plötzlichen Stille. Sebastian war kein schlechter Mensch; das wusste sie. Er mochte ein Opportunist sein, er mochte einen Balanceakt vollführen und ein doppeltes Spiel treiben, aber sie konnte einfach nicht glauben, dass er jemandem etwas Schlechtes wünschte. Nicht einmal ihr.
Vor allem ihr nicht.
»Obwohl du wüsstest, dass ein Stoß dieses Pflocks genügen würde, um ihn - oder jeden anderen - zu ewiger Hölle zu verdammen?«
Könnte sie es tun? Würde sie dieses Urteil über einen Mann - nein, einen Untoten, einen Vampir - sprechen können, den Sebastian kannte und liebte?
Wie konnte er einen Vampir lieben?
»Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme war ein Flüstern, aber mehr brachte sie nicht zustande. »Falls er... Ich weiß es einfach nicht, Sebastian.«
Einer seiner Mundwinkel zuckte. »Allem Anschein nach bist du zumindest in der Lage, auch gewisse Schattierungen von Grau zu sehen, im Gegensatz zu deinem Freund Max, der nur Schwarz und Weiß kennt.« Er drehte sich um, ging durch das Zimmer und zog die Vorhänge ein Stück zur Seite, um hinauszusehen.
Dadurch fiel etwas Licht herein; es war mittlerweile heller als zuvor in der Kutsche. Sie musste über Nacht hier gewesen sein.
Das bedeutete, dass heute um Mitternacht der Tag der Toten beginnen würde. Wenn sie auch nur die geringste Chance haben wollte, Nedas zu stoppen und ihn zu töten, dann musste sie Sebastian und den Vampiren, die irgendwo in der Nähe lauerten, entkommen. Ihr Nacken war noch immer kalt.
Victoria zog an ihren Armen, die mit abgewinkelten Ellbogen über ihrem Kopf fixiert waren. »Wie lange willst du mich hier gefesselt liegen lassen?«
Als er sich umdrehte, wurde seine Gestalt durch das hereinströmende Sonnenlicht halb verschattet, was sie daran erinnerte, dass niemand völlig hell oder dunkel war; niemand war vollkommen gut oder vollkommen böse.Wenn man Sebastian glauben wollte, selbst die Vampire nicht. »Da ich es sehr reizvoll finde, dich in einer solch hilflosen Lage zu wissen, sehe ich keine Veranlassung, an der derzeitigen Situation etwas zu verändern.« Sein Lächeln war zurück, aber es war leicht angespannt.
Sie zerrte wieder an ihren Handgelenken. »Meine Arme tun weh.«
»Ich bin sicher, dass mir etwas einfällt, um dich von dem Schmerz abzulenken.«
»Du hättest bestimmt mehr davon, wenn ich mich aktiv beteiligen könnte.«
Eine seiner Brauen zuckte nach oben. »Deine Vorstellung einer Beteiligung entspricht vermutlich nicht dem, was mir vorschwebt. Ich denke, ich belasse dich besser in deinem derzeitigen Zustand.«
»Wo sind dieVampire? Ich weiß, dass welche hier sind. Freunde deines Großvaters, nehme ich an?«
»Nur eine kleine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme. Sie sind draußen vor der Tür. Du solltest dich geschmeichelt fühlen, dass ich es für nötig befand, mir Unterstützung zu holen.«
Er kam auf sie zu, dann blieb er stehen und sah zu ihr hinunter. »Wenn das hier vorbei ist - schon morgen vielleicht -, werde ich dich freilassen, und dann kannst du anfangen, die Scherben aufzusammeln. Bis dahin muss ich dir au revoir sagen.«
Er beugte sich nach unten und hauchte ihr einen winzigen Kuss auf den Mundwinkel, wo er vor ihren angriffslustigen Zähnen in Sicherheit war, dann verließ er das Zimmer.
Sobald er verschwunden war, begann Victoria, nach einem Fluchtweg zu suchen; aber kaum hatte sich die Tür hinter Sebastian geschlossen, ging sie schon wieder auf und ein anderer Mann kam herein. Ein Vampir.
Seine Augen glühten rot, und seine Fangzähne waren ausgefahren, deshalb dachte Victoria für einen entsetzten Moment, dass er vorhatte, über sie herzufallen. Gewiss würde Sebastian das nicht erlauben. Aber Sebastian war fort.
Als der Vampir auf sie zukam und dann vor ihrem Bett stehen blieb, wurde ihre Sicht verschwommen, und ihr Magen krampfte sich zusammen.
»Was für eine Schande, dass wir dich unberührt lassen müssen. Ich habe noch nie einen Venator gehabt.« Die Schlussfolgerung war eindeutig, und Victoria spürte ihre Panik nachlassen.
Doch dann fuhr ihr der Vampir mit einem kalten Finger über den Hals; er benutzte dabei seinen scharfen Nagel, und sie fühlte seine Spitze in ihre Haut stechen, bestimmt tief genug, um sie bluten zu lassen. Er beugte sich zu ihr, und sie erstarrte. Dann riss sie wieder an den Stricken über ihrem Kopf, spürte, wie sie an etwas ruckten, aber noch immer biss er nicht zu. Stattdessen leckte er mit seiner breiten, kalten Zunge über die Stelle, in die er geschnitten hatte.Victoria drehte den Kopf weg und bäumte sich auf; sie konnte nur hoffen, dass mit welchem Schutz auch immer Sebastian sie umgeben hatte, dieser ausreichen würde, nachdem der Vampir ihr Blut gerochen und geschmeckt hatte.
Ihre Venen pumpten, als ihr Blut durch sie pulsierte, so als jage es jener Stelle an ihrem Hals entgegen, wo er sie verwundet hatte.Victorias Atmung wurde abgehackt, langsam und träge, und ein Strudel der Empfindungen riss sie mit sich fort: die kalte Feuchtigkeit seiner Zunge, die mit langen, gemächlichen Zügen über ihr Fleisch glitt; das Schaben seiner Zähne; die scharfkralligen Finger, die sich nun unter ihrem schweren Haar in ihre Kopfhaut bohrten; der Rhythmus ihres rasenden Herzens, das bis in ihre Glieder hämmerte, die sie so ungestüm zu befreien versuchte.
Als er sich zurückzog, grinste er, und seine Augen funkelten in einem dunklen Blutrot. Der wilde Hunger in ihnen war unverkennbar, und Victoria roch Blut in seinem Atem. »Das war entzückend«, murmelte er und zog einen langen Fingernagel ihren Hals entlang bis hinunter zu ihrem Busen. »Ich bin in schrecklicher Versuchung.« Sein Nagel hielt inne und grub sich in die zarte Haut über ihrem Mieder.
Ihr Herz pochte so heftig, dass ihre Brüste im Gleichtakt auf und ab zuckten, während sie kaum zu atmen wagte.
Die Augen des Vampirs glimmten rot, dann röter, dann wieder heller, während er seine Möglichkeiten abzuwägen schien.
Doch schließlich zog er sich zurück. »Du hast Glück,Venator, dass ich meine eigene Existenz höher schätze als die Verlockung, die du darstellst.Vielleicht später, wenn Vioget deiner überdrüssig ist... Aber für den Moment... muss ich leider ablehnen.« Er sagte diesen letzten Teil über seine Schulter hinweg, während er davonging.Victoria entspannte sich, als sie ihn durch die Tür verschwinden sah.
Ohne Sebastian - und vermutlich den Einfluss seines Großvaters - wäre sie in ernsten Schwierigkeiten gewesen. Das Verhalten des Vampirs verpasste Sebastians Argumenten einen gewaltigen Dämpfer; er war ganz eindeutig bereit gewesen, sich an einer hilflosen Frau zu vergehen, und nur die Angst um seine eigene Sicherheit hatte ihn aufgehalten.
Aber jetzt... jetzt musste sie sich darauf konzentrieren, einen Ausweg zu finden.
Als sie mit aller Kraft an den Stricken gezogen hatte, hatte sich über ihr etwas bewegt. Sie betrachtete ihre Umgebung nun etwas genauer und stellte fest, dass sie an ein Bett gefesselt war und sich das Kopfteil durch ihre Bemühungen, den Vampir abzuwehren, gelockert hatte.Vielleicht konnte sie es losbrechen.
Sie wusste nicht, ob der Lärm die Vampirwache anlocken würde, aber sie musste einen Versuch wagen. Bemüht, die Geräusche auf ein Minimum zu reduzieren, zerrte sie an ihren Handgelenken; sie fühlte die Stricke über ihre Haut kratzen und verrenkte den Kopf nach hinten, um zu sehen, ob sich das Kopfteil weiter lockerte. Sie konnte noch nicht einmal sagen, woraus es gemacht war; es hörte sich irgendwie metallisch an.
Victoria kämpfte weiter, dann begann sie, die Füße auf dieselbe Weise anzuziehen, wodurch sie am Bettende leise, knarzende Geräusche erzeugte - hoffentlich leise genug, dass die Vampire nicht alarmiert wurden. Wenn es ihr gelänge, diese Stricke loszuwerden, könnte sie sich näher an das Kopfteil schieben und vielleicht ihre Hände benutzen, statt nur an ihren Fesseln zu reißen.
Das untere Ende gab zuerst nach, und als sie schließlich die Beine nach oben schnellen ließ, kam das ganze eiserne Fußteil mit und krachte auf ihre Schenkel.Vor Schmerz stöhnend, rutschte sie näher an das Kopfende heran, wo sie mit den Fingern herumtastete, um einen Halt an dem Metall zu finden.
Doch dann entdeckte sie etwas Besseres. Das Gusseisen war rau und verschnörkelt, und ihr Handrücken schrammte über eine Stelle, die ziemlich scharfkantig war. Wenn sie es schaffte, sich so zu positionieren, dass sie die Stricke an ihren Handgelenken gegen die Kante wetzen konnte ….
Es dauerte eine lange Zeit. Ihre Arme schmerzten von ihrer unbequemen Haltung und all dem Ziehen; aber sie war nicht grundlos ein Venator. Dann endlich waren die Seile zerschlissen genug, dass sie sie zerreißen konnte.
Victoria setzte sich auf, schüttelte ihre nun befreiten Arme aus, dann nahm sie sich die Fesseln an ihren Knöcheln vor. Kurz darauf sprang sie auf den Boden und rannte mitsamt dem Seil zum Fenster. Es war noch immer taghell - aber dem Stand der Sonne nach bereits früher Nachmittag. Ihr blieben damit weniger als zwölf Stunden, um von wo auch immer sie gerade sein mochte zurück ins Opernhaus zu gelangen und Nedas zu töten.
Sie könnte durch die Tür gehen und gegen die Vampire kämpfen; es würde ihr erhebliche Genugtuung bereiten, dem, der von ihrem Blut gekostet hatte, einen Pflock in die Brust zu rammen. Doch das würde Zeit kosten, außerdem bestand die Gefahr, dass man sie erneut gefangen nahm. Dieses Risiko war zwar nicht groß, aber dennoch vorhanden.
Sie befand sich im vierten Stock, deshalb sollte Sebastians Seil nun endlich einen deutlich sinnvolleren Zweck erfüllen. Und wenn sie erst einmal draußen und auf dem Weg nach unten wäre, würden ihr die Vampire wegen des Sonnenlichts nicht folgen können.
Und dann sah sie es: Die Silhouette des Petersdoms. Sie war noch immer in Rom! Endlich einmal eine gute Nachricht.
Sie blickte nach unten, dann trat sie fluchend von dem Fenster zurück.Aber zu spät - Sebastian, der gerade aus einer Kutsche gestiegen war, hatte sie bemerkt. Er salutierte spöttisch, so als wollte er sagen: Netter Versuch, dann rannte er die Eingangsstufen hoch.
Also glaubte er nicht, dass sie wirklich durch das Fenster flüchten würde. Sie hätte gedacht, dass er sie besser kannte!
Mit wogenden Seidenröcken schnappte Victoria sich das metallene Fußteil, das noch immer auf dem Bett lag, und stieß es durch das Fenster, das so oft überstrichen worden war, dass es sich nicht mehr öffnen ließ. Sie hörte donnernde Schritte auf der Treppe unter ihr und wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Mit flinken Fingern befestigte sie das Seil vor dem schmalen Fenstersims an der Steinbrüstung des kleinen Balkons, der etwa die Größe eines Kissens hatte.
Die Zimmertür flog auf, und die Vampire stürmten herein, aber sie war schon draußen im gleißenden Sonnenlicht und kletterte mit dem Seil in der Hand über die Brüstung.
Victoria konnte Sebastian fluchen hören, als er in den Raum gerannt kam, doch sie befand sich schon auf Höhe des dritten Stocks, wo die leichte Brise ihre Röcke aufbauschte, sodass ihr die Sicht nach unten versperrt wurde. Die Mauer vor ihr war mit einem dunkelorangefarbenen Putz gestrichen, der abblätterte, als sie versuchte, sich mit den Füßen daran abzustützen.
Zum Glück mündete die Rückseite des Gebäudes in einen kleinen, von einer Backsteinmauer eingefriedeten Hinterhof, statt in eine Straße, wodurch ein geringeres Risiko bestand, dass jemand wegen einer Frau, die sich von einem Fenster abseilte, Alarm schlagen würde.
An der Innenseite der Mauer wucherte dichtes Brennnesselgestrüpp dem Licht entgegen und verdeckte dabei die Vortreppe und die Hälfte der Fenster. Sie würde aufpassen müssen, dass sie nicht darauf landete.
Direkt unter dem Fenster des dritten Stocks endete das Seil, und Victoria sah nach oben. Sebastian starrte inzwischen nicht mehr zu ihr hinunter; offensichtlich war er wieder nach drinnen gegangen, um die Treppe zu nehmen und sie dann unten aufzuhalten. Sie musste eine Entscheidung treffen: Entweder kletterte sie durch das Fenster ins Innere und versuchte, sich auf einem anderen Weg hinauszuschleichen, oder sie ließ sich einfach fallen und hoffte, dass sie auf dem winzigen Balkon im zweiten Stock landete. Ins Haus zurückzukehren würde das Risiko einer neuerlichen Konfrontation mit den Vampiren deutlich erhöhen, aber nach unten zu springen war ebenfalls gefährlich - und würde ihr vielleicht nicht die Zeit geben zu flüchten.
Sie musste sich entscheiden.
Victoria blickte an ihrem Rock, der ihr teilweise die Sicht versperrte, nach unten und konzentrierte sich auf das unter ihr gelegene Fenstersims. Es war nur eine Körperlänge entfernt. Der Spitzbogen über dem Fenster war ein kurzes Stück außer Reichweite, aber als sie sich ein wenig tiefer an dem Seil hinunterließ, konnte sie ihn erreichen und sich an ihm festhalten. Sich halb auf den Bogen stützend, verlagerte Victoria das Gewicht in Richtung Hausmauer und ließ das Seil los.
Um die Richtung ihres Falls auszutarieren, klammerte sie sich mit den Fingern an der schmalen Steinwölbung fest, dann sprang sie nach unten und kam tatsächlich auf dem schmalen Vorsprung auf, der gerade mal breit genug für ihre Füße war. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, schwang sie sich, wie schon zuvor im vierten Stock, mit wogenden Röcken über die Brüstung. Sie baumelte für einen Moment von der Kante, bevor sie sich fallen ließ und glücklicherweise neben einer Brennnesselstaude auf dem Boden landete.
Dann stürzte sie auf das kleine Hoftor zu, wobei sie zwei Katzen aufscheuchte, die gerade ein Sonnenbad genossen, als hinter ihr auch schon die Haustür aufgeschlagen wurde und Sebastian ihren Namen brüllte. Sie bog um die Ecke und fand sich in einer schmalen Straße wieder, die von derselben Art von Häusern gesäumt wurde wie das, aus dem sie gerade geflohen war. Er war direkt hinter ihr; sie hörte seine Schritte näher kommen.
Aber Victoria würde sich jetzt, wo sie es so weit geschafft hatte, nicht aufhalten lassen. Sie hetzte über die Straße, dann eine Seitengasse hinunter, umrundete blindlings Straßenecken, rannte weiter, vorbei an Webereien, Schneidersalons und Backstuben, bis sich die Schritte hinter ihr schließlich im Geräuschpegel des nachmittäglichen Rom verloren.
In der Ferne schlug die Turmuhr auf dem Quirinal zwei.
Ihr blieben zehn Stunden.