Kapitel 12
In welchem Monsieur Vioget sich nicht provozieren lässt
Genießt du den Mondschein, oder durchkämmst du das Schiff nach bösen Vampiren, um uns hilflose Sterbliche zu beschützen?«
Victoria erschrak nicht; sie hatte Sebastians Gegenwart gespürt, als er sich ihr von hinten über das Deck genähert hatte. Mit einem Arm auf der Reling drehte sie sich gemächlich zu ihm um. »Keine Sorge, Sebastian, Liebster.Auf diesem Schiff gibt es keine Vampire.«
»Hast du mich eben tatsächlich Liebster genannt, oder war das nur ein Traum?« Er wählte eine Stelle neben ihr, die weit genug entfernt war, dass ihre Röcke, die sich im Wind der Adriatischen See bauschten, seine Hose nicht berührten. »Vielleicht mache ich ja doch Fortschritte.«
Sie sah ihn einfach nur an, ohne sich um die Locken zu kümmern, die wie Wimpel um ihre Schläfen flatterten. Als er nichts weiter tat, als auf das glitzernde Meer zu starren, in dem sich mitternachtsblau und grau der Mond und die Sterne spiegelten, sagte sie: »Ich dachte mir schon, dass du nicht lange brauchen würdest, um mich aufzuspüren.« Sie hasste es, sich das eingestehen zu müssen, aber sie war froh darüber.
»Ich hoffe, ich bin nicht entsetzlich spät gekommen.«
»Nein, nicht wirklich.«
»Aber spät genug, dass du langsam ungeduldig wurdest, habe ich Recht?« Er wandte den Kopf, um sie anzusehen, beließ die Ellbogen jedoch auf der Reling. »Vielleicht möchte ich ja auch einfach nicht berechenbar sein.«
»Das einzig Berechenbare an dir ist, dass du immer dann auftauchst, wenn du denkst, dass ich es am wenigsten erwarte.Vielleicht wird das am Ende dein Verderben sein, denn von nun an werde ich mit dir rechnen, wann immer ich mich umdrehe.«
»Es war sehr töricht von dir, allein zu der Tutela-Versammlung zu gehen. Du wärst beinahe gestorben, Victoria. Um ein Haar hätten sie dich in Stücke gerissen.«
»Denkst du, das wüsste ich nicht?« Sie wandte den Blick von seinem Profil ab und sah so wie er aufs Meer hinaus. »Ich hatte keine Wahl.«
»Man hat immer eine Wahl.«
»Ich nicht. Ich werde das bis zum Ende durchstehen und dabei so viele ich kann mit mir nehmen. Das bin ich Phillip schuldig.«
»Du sprichst so sachlich über Gewalt, Victoria. Wird das auf ewig dein Leben sein? Dein einziger Fokus?«
»Ich kann nicht anders. Du verstehst nicht, Sebastian. Du kannst nicht wissen, wie es ist. Ich bin ein Venator, und daran wird sich niemals etwas ändern.«
Er schwieg für lange Minuten. Sie warf ihm einen Blick zu und bemerkte, wie die Bewegung seines Kiefers seine Wange in Schatten tauchte und wieder hervorholte. »Als ich dich in Venedig sah, mit all diesen Bissen und Wunden, da wurde mir klar... nun ja, dass es ein ziemlicher Verlust wäre, sollte dir das Schlimmste zustoßen.«
»Keine Bange, Sebastian. Es gibt noch andere Venatoren, die dich beschützen können. Oder bist du mehr wegen der Begleichung meiner Schulden besorgt?«
Er lachte, doch es schwang etwas Raues darin mit. »Ich weiß, wo sich die Tutela in Rom trifft. Du musst also nicht allein hingehen.«
»Das sagtest du schon, aber trotzdem will mir einfach nicht einleuchten, warum du - ein Mann, der Gewalt verabscheut - dich freiwillig in eine solche Gefahr begeben solltest.«
»Warum bist du so wütend auf mich?«
»Auf dich? Bilde dir nur nichts ein, Sebastian. Es ist der Zorn auf mein ganzes Leben, der mich im Moment umtreibt. Ich trage diese Verantwortung, die ich deiner naiven Behauptung zum Trotz, dass es angeblich immer eine Wahl gibt, nicht abschütteln kann. Ich bin einsam und sehe kein Ende dieser Einsamkeit. Ich bin verwitwet und sehe keine andere Zukunft für mich. Ich hätte vor zwei Nächten den Tod finden können, und doch würde ich jederzeit wieder dasselbe Wagnis eingehen. Manchmal...« Nun brach ihre Stimme. »Manchmal wird es einfach zu viel, und dann verwandelt es sich in Zorn. Und bei anderen Gelegenheiten … da ist es das einzige Ich, das ich sein kann. Die echte Victoria.«
»Nur sehr wenige wissen, welche Opfer ihr bringt, du und die anderen Venatoren. Dass eure Leben nicht euch gehören, wie sehr ihr es euch auch wünschen mögt. Aber ohne dich und deinesgleichen wäre unsere Welt eine ganz andere.«
Victoria schwieg wieder. Die Verbitterung, die sie gezeigt hatte, brandete ein letztes Mal auf, dann verebbte sie, und zurück blieb nur die quälende Wahrnehmung von Nelkenaroma, in das sich salziger Meergeruch mischte, und die der langgliedrigen Hand, die neben ihrer auf der Reling lag. Sie wurde sich der Nacht bewusst und der Tatsache, dass sie ganz allein auf dem Achterschiff standen, über dem der Mast, das Segel und das Puppdeck emporragten. Sie hörte das sanfte Flappen der Segel und aus der Ferne den Ruf eines Seemannes.
»Wie seltsam.« Sie merkte nicht, dass sie laut gesprochen hatte, bis sie fühlte, wie Sebastian sich neben ihr bewegte;jedoch nicht, um sie anzusehen, sondern um seinen Jackenaufschlag zurechtzurücken.
»Was meinst du?«
»Mit einem Mann allein nachts hier draußen zu stehen, ohne um meinen guten Ruf fürchten zu müssen. Ich dachte gerade an all die Anlässe während meiner Debütsaison, als ich dauernd aufpassen musste, dass ich nicht allein mit einem Gentleman entdeckt wurde; selbst wenn gar nicht die Gefahr drohte, dass ich meine Tugend verlieren könnte. Aber seit ich verwitwet bin, ist das alles nicht mehr von Belang.«
»Das stimmt.« Er klang amüsiert. »Ich frage mich nur, ob ich beleidigt sein sollte, weil du mich nicht als Gefahr für deine Tugend erachtest.«
»Wärst du eine Gefahr für mich, hättest du längst mit dem ritterlichen Geplänkel meine angeblichen Schulden bei dir betreffend aufgehört. Außerdem hätte ich dir einen Tritt in die Knie verpasst, so wie ich es bei ein paar anderen Gentlemen tat, die glaubten, dass sie sich bei einem Spaziergang auf der Terrasse Freiheiten herausnehmen könnten. Unter anderem. Allerdings bin ich sicher, dass du nicht so dumm wärst, denn schließlich weißt du, dass ich keine durchschnittliche junge Frau bin.«
»Das wäre ich nicht.Aber bilde dir nur nicht ein, dass ich mich manipulieren lasse,Victoria; dazu bist du viel zu klug.«
»Ich habe kein Interesse daran, dich zu manipulieren.«
Er lachte. Nicht so, als hätte sie etwas Komisches gesagt. Es war ein tiefes, grollendes, wissendes Lachen, das Victoria mehr als nur ein wenig Unbehagen bereitete. »Ich könnte mitspielen, ma chère.Tatsächlich bin ich versucht, genau das zu tun. Mehr als versucht.«
Er bewegte sich schnell und so geschmeidig wie ein Seidenschal, sodass sie plötzlich zwischen der Reling und Sebastian, der seine Hände seitlich von ihren auf dem Geländer platzierte, gefangen war. Seine langen Arme waren neben ihren ausgestreckt und hielten sie in ihrer Mitte.
Sein Atem strich warm über ihren Nacken, wo ihr Haar nach oben geweht wurde, sodass ihre Haut nackt und verletzlich war. »Es wäre sehr leicht, dir zu erlauben, mich zu etwas zu provozieren, wofür du selbst zu feige bist.« Seine Worte verursachten ihr ein Prickeln, das ihr in Wellen den Rücken hinunterrann.
»Und was genau ist es deiner verdrehten Wahrnehmung nach, wozu ich zu feige bin?« Sie war froh, dass ihre Stimme so gelassen und leicht war wie der Seewind, obwohl sie seine Nähe hinter sich spürte, wenngleich es keinen anderen Körperkontakt gab als die Berührung seiner nackten Hände an ihren.
Sein Mund war an ihrem Ohr und streifte ganz sachte von hinten darüber, als er die Lippen bewegte. »So mutig du auch sein magst, wenn es darum geht, Vampire und Dämonen niederzustrecken, bist du dennoch zu ängstlich, zuzugeben, dass du gern zu Ende bringen würdest, was wir in der Kutsche begonnen haben. Also versuchst du, mich mit deinen Bemerkungen zu provozieren, in der Hoffnung, dass ich den Kopf verliere und über dich herfalle... Wobei du feststellen würdest, dass es gar nicht so schrecklich wäre, der Versuchung zu erliegen.«
Sie schnappte wütend nach Luft, riss die Schultern zurück, sodass sich ihre Brüste hoben, und er rückte die Hände näher zusammen, schloss die Arme um sie. »Ich -«
Aber seine Stimme, obwohl sie leiser und ruhiger war als Victorias aufgebrachter Tonfall, erstickte was auch immer sie hatte sagen wollen. »Und dann hättest du eine Rechtfertigung, deinen Argwohn und dein Misstrauen mir gegenüber zu vergessen, ebenso wie deinen guten Ruf und deine Ängste. Denn in Wahrheit, Victoria, begehrst du mich ebenso, wie ich dich begehre. Du scheust bloß davor zurück, eine Entscheidung zu treffen.«
Er verlagerte seine Position, und nun fühlte sie ihn hinter sich, fühlte die unverkennbare Bestätigung seiner Worte sich gegen ihr Kreuz drücken. Er drängte ihre Hüften gegen die Reling, hielt sie dort fest, während er sie sanft auf die empfindliche Haut unter ihrem Ohrläppchen küsste. Er öffnete seinen warmen, atmenden Mund und ließ ihn federleicht und so sinnlich über dieselbe Stelle gleiten, dass ihr ein Schauder über den Rücken rann.
»Die Wahrheit ist, Victoria, dass du mir nicht vertrauen oder irgendeine emotionale Verpflichtung eingehen musst, um dein Verlangen zu stillen. Du brauchst nicht zu befürchten, dass ich mich als zweiter Rockley entpuppen und fordern werde, was du nicht geben kannst oder willst.«
Sie spürte, wie seine Brust sich hob und senkte, als er tief Luft holte und dann die Sehne küsste, die seitlich an ihrem Hals verlief; sie legte den Kopf schräg, so als wäre er ein Vampir, der sie in seinem Bann gefangen hielt.
Ihre Knie gaben nach, aber die Reling fing sie auf und ersparte ihr die Demütigung. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, wie sehr sie dieses Erwachen, dieses Lebendigwerden ihres Körpers vermisst hatte. Selbst Sebastians Erwähnung von Phillip minderte ihre wachsende Lust nicht.
Seine Hände hatten sich von der Reling zu ihren Brüsten bewegt, und sie hoben sich in seinen Handflächen, als sie tief und keuchend einatmete, bevor sie nach hinten griff, um seinen Kopf zu berühren. Einer seiner Finger schlüpfte in ihr Mieder und streichelte über ihre Brustwarze, dann löste er die Umarmung und umfasste wieder die Reling.
Victoria versuchte sich umzudrehen, um ihn anzusehen, aber er hielt sie mit den Hüften und einem anderen unnachgiebigen Körperteil in ihrer dem Meer zugewandten Position. »Nein, das wirst du nicht tun, mein Schatz«, raunte er ihr ins Ohr. »Ich habe dir gesagt, dass ich mich nicht provozieren lasse, und das werde ich auch nicht. Und glaube bloß nicht, dass du dich auf meine frühere Forderung nach einer Belohnung berufen kannst. Ich habe beschlossen, dass jede Schuld, die du bei mir gehabt haben magst, inzwischen voll und ganz beglichen ist.«
Victoria stellte fest, dass sie zitterte, überall feucht und plötzlich ganz allein war.
Allein gelassen an der Reling, wo die Seebrise über ihre Haut strich wie das Trugbild seines Mundes.
Verdammt sollte er sein.

»Ich frage mich, wer wohl als Erster nachgeben wird«, murmelte Kritanu in Eustacias Ohr. Die Arme um ihre Taille geschlungen, stand er hinter ihr und ließ in ihrem Rücken ein leises Lachen hören.
Sie hatten auf einem hohen Deck in der Nähe des Achterschiffs den Abend auf See genossen, als Victoria sich unter ihnen an die Reling gestellt hatte. Sie hätten sich zurückziehen können, als Sebastian sich wenige Minuten später zu ihr gesellte, aber das taten sie nicht.
Zwar hatten sie kaum etwas von dem verbalen Schlagabtausch zwischen den beiden jungen Leuten mitbekommen, aber doch genug gesehen, um zu erkennen, worum es ging.
»Ich hoffe nur, dass Victoria so klug ist, sich nicht zu einer un überlegten Entscheidung hinreißen zu lassen, besser gesagt zu einer, die auf ihrem Verlangen und nicht auf Vernunft basiert«, erwiderte Eustacia. Ihr war nicht entgangen, wie ihre Nichte geseufzt und sich an Sebastian geschmiegt, wie sie tief und bebend geatmet hatte, nachdem er gegangen war. Als sie geglaubt hatte, niemand würde es sehen.
»Ich bin überzeugt, dass sie sich nicht so leichtsinnig verhalten würde. Die Gardella-Frauen sind, wenn es um Herzensangelegenheiten geht, ganz gewiss nicht für ihre Impulsivität bekannt.«
Eustacia konnte ihr Lächeln nicht verbergen. »Was für eine zänkische strega ich doch geworden bin, vero? Das Alter setzt mir inzwischen zu und wird zu einer Bürde, die zu schwer für mich ist. Ich habe vergessen, wie es ist, jung zu sein und von einem gut aussehenden Mann in Versuchung geführt zu werden.«
»Ein gut aussehender Mann, der beinahe acht Jahre jünger ist als du.« Lachend drückte er ihr einen Kuss aufs Ohr. »Oh, wie du dagegen angekämpft hast, dich von mir angezogen zu fühlen. Ich war zu jung, viel zu jung, und außerdem nur ein Komitator, ein Trainer, kein Venator, und damit deiner Aufmerksamkeit nicht würdig.«
»Ich war außer mir vor Wut, als Wayren dich zu mir schickte! Als ob du mit siebzehn mehr davon verstehen könntest,Vampire zu jagen, als ich, ein auserwählter Venator, der schon vier Jahre zuvor, ich war gerade zwanzig, seine vis bulla erhalten hatte. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie viel ich von einem Komitator lernen würde.« Sie drehte sich halb zu ihm um, und er stellte sich neben sie, sodass sie einander gegen die Reling gelehnt ansahen. Sie waren exakt gleich groß: sein goldfarbener, muskulöser Körper und ihr schmaler, vom Alter leicht gebeugter.
»Ich weiß. Damals war ich bezaubert von deiner Schönheit und gleichzeitig abgeschreckt von deiner Grobheit, deiner dreisten Art und entsetzlichen Kampftechnik.«
»Ich bekomme nie genug davon, dich in Erinnerungen an meine umwerfende Schönheit schwelgen zu hören.«
»Und ich bekomme nie genug davon, dich sagen zu hören, wie viele Male dein Leben gerettet wurde, weil Wayren beharrlich genug darauf bestand, dass du von mir ausgebildet wurdest.«
Sie lächelten einander an, während sie in behaglicher Kameradschaft die Nacht und ihre Erinnerungen auskosteten. Obwohl ihre Gelenke stärker pochten als gewöhnlich und ihr davor graute, nach Rom zurückzukehren, sehnte Eustacia sich nicht nach ihrem jüngeren Ich zurück.
»Deine Nichte ist genauso schön, talentiert und starrköpfig, wie du es warst. Kein Wunder, dass Vioget sie auf diese Weise ansieht.«
»Ich weiß nicht, was alles zwischen ihnen vorgefallen ist, doch ich fürchte, es ist mehr, als mir gefallen würde, und hoffe bloß, dass es nicht zu einer dauerhaften Bindung kommt.«
»Du traust ihm nicht ganz.«
»Nein. Das kann ich nicht. Er ist ein wertvoller Verbündeter und hat uns bereits sehr geholfen, trotzdem kann ich ihm nicht uneingeschränkt vertrauen, denn er schlüpft wann immer es ihm beliebt in jede Rolle, die ihm einen Vorteil verschafft. Und er spielt sie gut. Er wird sagen und tun, was auch immer er muss, um zu bekommen, was er begehrt.«
»Und was ist es, das er begehrt?«
»Das beunruhigt mich am meisten, Kritanu. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie es wirklich in seinem Herzen aussieht.«
»Möglicherweise gehst du wegen Max’Verschwinden zu zaghaft mit deiner Intuition um. Ihm hast du blind vertraut.«
»Ich vertraue ihm blind. Das tue ich noch immer und werde ich bis ins Grab. Er ist entweder tot oder... Nun, ich möchte gar nicht daran denken. In Venedig habe ich nicht das Geringste über seinen Verbleib erfahren können; ich kann nur hoffen, dass wir ihn in Rom finden werden.«
»Und falls nicht, denkst du, dass sich die Prophezeiung bewahrheiten könnte?«
Sie nickte. »Wie unsere mystische Rosamund schrieb: ›Des Venators ruhmreiche Zeit wird in Rom zu Ende gehen.‹ Falls Nedas wirklich die ganze Kraft von Akvans Obelisken freisetzt, fürchte ich, dass diese Schlacht in Rom unser aller Ende sein wird.«