Kapitel 27
In welchem Maximilian sich unfreiwillig verschuldet
Max war bereit.
Er war so verdammt müde, konnte kaum noch klar sehen.
Er hatte beobachtet, wie Victoria mit Vioget geflohen war, und wusste, dass dieser all seinen Schwächen zum Trotz nicht zulassen würde, dass ihr etwas zustieß.
Vioget würde sie hier rausbringen, und dann konnten die Dinge wieder ihren Lauf nehmen.Victoria würde als Oberhaupt der Venatoren ebenso Respekt einflößend sein, wie Eustacia es gewesen war.
Der Vampir ragte über der Stelle auf, an der Max schließlich kollabiert war; das zerbrochene Stuhlbein, das er als Pflock benutzt hatte, war ihm längst aus der Hand gerutscht. Die mit tödlichen Nägeln bewehrten Finger des Untoten waren zu bedrohlichen Klauen gekrümmt, und seine Fangzähne schimmerten wie gelbe Säbel.
Sobald er erst einmal tot war, würde Lilith niemanden mehr haben, den sie quälen konnte. Max verzog den Mund zu einem trockenen Lächeln, als er daran dachte. Dann schloss er die Augen. Er war bereit.
Aber der Schmerz kam nicht.
Max öffnete die Lider und entdeckte Vioget, der mit einem Pflock in der Hand über ihm stand. Er zog ihn auf die Füße, während hinter ihnen die Vampire auf der Bühne ihre Schlacht fortsetzten. Max schüttelte seine Hand ab. »Victoria?«
»Sie ist in Sicherheit. Draußen.«
Ein lauter Schrei lenkte ihre Aufmerksamkeit auf zwei Vampire, die mit Zähnen und Klauen gegeneinander kämpfend auf sie zurollten. »Gehen Sie«, befahl Sebastian, aber Max trat bereits die Flucht in Richtung Seitenbühne an. Dann drehte er sich noch einmal um.
»Ich schulde Ihnen für das hier keinen Dank,Vioget.«
»Was exakt der Grund ist, weshalb ich es getan habe. Ich sagte Victoria, dass es für mich keine Bedeutung hat, ob Sie leben oder sterben.«
»Warum lassen Sie dann nicht zu, dass man mich von meinem Elend erlöst? Warum spielen Sie den Helden? Das verstößt so sehr gegen Ihre Grundsätze.«
»Ich habe es nicht für Sie getan. Ich tat es für Victoria.« Damit wandte Sebastian sich wieder dem Kampfgeschehen hinter ihm zu.

Als die Tür zum Theater geöffnet wurde und ein in die Sonne blinzelnder Max ins Freie trat, konnte Victoria nicht anders, als ihn fassungslos anzustarren.
Er blieb stehen, als er sie bemerkte.
Victoria machte einen Schritt auf ihn zu. Zusammen standen sie dort in den langen Schatten der Bäume, während die Sonne gerade über den Horizont stieg.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Er hatte ihre Tante getötet, aber dennoch hatten sie Seite an Seite gekämpft. Er hatte Akvans Obelisken unschädlich gemacht und ihr bei der Flucht geholfen. Sie war weggegangen, hatte ihn seinem sicheren Tod überlassen.
»Wie -«
»Das ist nicht wichtig.« Die Hände in die Hüften gestemmt, stand er zerschlagen und unverkennbar erschöpft vor ihr. »Ich habe dir gesagt, dass sich deine Rache erübrigen würde - ich war nie davon ausgegangen, die Bühne lebend zu verlassen, nachdem ich diesen Schwerthieb vollbracht hatte.«
»Aber das tatest du. Ich habe dich gerettet.«
»Also habe ich noch einen weiteren Grund, dir dankbar zu sein, ist es das? Aber da irrst du dich.«
»Es gab doch bestimmt noch einen anderen Weg.«
Er sah auf. »Um in exakt dem einen Moment, in dem der Obelisk zerstört werden konnte, vor Ort zu sein, musste ich meine Vertrauenswürdigkeit beweisen und die entsetzlichste Tat begehen, die man sich vorstellen kann. Es gab keinen anderen Weg,Victoria.«
Lang und hässlich dehnte sich das Schweigen aus. Eine sanfte Brise strich über Victorias Nacken, und sie bemerkte, dass die Schatten bereits anfingen, kürzer zu werden.
»Du sagtest, Lilith würde ihren Bann von dir nehmen, wenn du der Tutela beitrittst.«
Sein Lachen war kurz, seine Worte bitter. »Du denkst doch nicht wirklich, dass ich das geglaubt habe, oder? Sie sagte das zwar, aber ich hatte große Zweifel. Nun ja, vielleicht besteht ja trotzdem die Hoffnung...« Er lachte wieder. »Nein, natürlich nicht. Und es war ohnehin unerheblich, da ich nicht damit gerechnet hatte, zu überleben, ganz gleich, ob es mir gelang, den Obelisken zu zerstören oder nicht.«
Sie starrten einander an, dann trat er zu ihr und umfasste ihre Schultern. Ihr halb aufgelöster Zopf verfing sich unter seinen Fingern, wurde straff gezogen, als sie zu ihm hochsah. »Du wirst mir niemals vergeben, was ich deiner Tante antat, und ich werde dir niemals vergeben, dass du mich zwingst, weiterzuleben. Glaubst du ernsthaft, ich könnte jemals vergessen, was ich getan habe?«
Sie entwand sich ihm, und er wich zurück, als hätte er sich verbrannt. Er griff mit beiden Händen unter sein zerfetztes Hemd, dann zog er sie wieder hervor und hielt ihr etwas entgegen. Seine vis bulla.
»Nein, Max.«
»Doch. Es ist vorbei. Ich höre auf.«
»Das kannst du nicht tun.«
Zornig starrte er sie an. »Meinst du, ich könnte nach alledem je wieder dem Konsilium gegenübertreten? Ich will noch nicht einmal daran denken, dass ich mit mir selbst leben muss. Ich habe meine Mentorin, meine Lehrerin, meine Freundin getötet. Deine Tante.« Seine Augen glänzten, und er drehte den Kopf zur Seite.
»Max.«
»Du wirst Wayren, Kritanu und die anderen an deiner Seite haben. Vielleicht sogar Sebastian, falls er es lebend dort herausschafft. Du kannst niemanden gebrauchen, dessen Loyalität für immer in Frage gestellt werden wird. Herrgott noch mal, denk an das Konsilium und seine Zukunft, nicht an deine Gefühle. Lebwohl,Victoria. Andare con Dio
Zum zweiten Mal ließ sie ihn nun ziehen. Beobachtete, wie er davonging, hinein in die Dämmerung, groß, dunkel und einsam.