Kapitel 17
In welchem Max die
Gartenarbeit in Betracht zieht
Dergleichen hat es auch
schon früher gegeben, Eustacia«, erklärte Wayren nur. »So sehr es
mich auch bestürzt, es ist die Wahrheit. Immer wieder sind
Venatoren der Verlockung der Vampire erlegen. So wie es in jeder
Schlacht in der Geschichte Helden gegeben hat, gab es unter uns
auch stets Verräter.«
»Das mag sein, aber Max? Nach allem, was er
getan hat? Nein. Es gibt eine andere Erklärung.«
Wayren sah so nachdenklich aus, wie Eustacia
sich innerlich taub fühlte. »Ich würde es selbst auch nicht
glauben... Aber erinnere dich an seine Vorgeschichte. Und dass er
noch immer gegen Liliths Fesseln ankämpft; dass ihre Bisse
unvermindert in seinem Fleisch brennen. Es sind entsetzliche
Qualen, die ihn unerwartet überfallen und schwächen können.«
»Er hat gelernt, damit umzugehen. Zumindest
gelingt ihm das bisweilen.«
»Ich weiß. Er ist ein sehr starker Mann.
Trotzdem; ich fürchte, dass wenn es einen Venator gibt, der der
Tutela verfallen könnte, er der wahrscheinlichste Kandidat ist, und
zwar einfach aufgrund seiner Bindung zu Lilith, so grausam und
unerwünscht diese auch sein mag. Die Wunden, die sie ihm
beigebracht hat, als sie ihn vor Jahren zum ersten Mal biss, sind
nie verheilt, und sie
versucht, ihn unter ihrer Kontrolle zu halten. Als sie letztes
Jahr wieder von seinem Blut trank, hat sie ihn noch fester an sich
gebunden. Bislang ist es ihm gelungen zu widerstehen, aber alles
ist möglich. Absolute Gewissheit gibt es nicht.« Trotz ihrer
ernsten Worte wirkte sie so ruhig und ätherisch wie immer - wie
schon an jenem Tag vor fast sechzig Jahren, als Eustacia ihr zum
ersten Mal begegnet war.
Sie hatte keine Ahnung, wie alt Wayren war; aber
es war auch nicht wichtig. Sie wusste nur, dass Wayren irgendwie
immer da war, wenn sie sie brauchte. Sie war der weiseste Mensch,
den Eustacia je kennen gelernt hatte, und sie log niemals. Trotz
allem, was sie gerade gesagt hatte, war das
eine absolute Gewissheit.
Wayren hatte im Laufe der Jahre so vieles
gesehen; vielleicht konnte sie inzwischen nichts mehr
erschüttern.
»Möglicherweise wird er dich jetzt, da er weiß,
dass Victoria in Rom ist, ausfindig machen.Vielleicht gibt es einen
Grund, weshalb er nicht mit ihr spricht.« Ihr blassblondes Haar,
das ihr Gesicht mit vier schmalen, geflochtenen Zöpfen umrahmte,
fiel ihr über die Schultern bis hinab in den Schoß. Die Zöpfe
wurden von erlesenen Goldketten zusammengehalten, und an jeder hing
eine erbsengroße Perle.
Eustacia, die sich im Vergleich mit ihr alt und
unelegant fühlte, nickte. »Das wäre möglich. Hast du ansonsten
irgendetwas entdeckt, das uns weiterhelfen könnte? Und weißt du, wo
Lilith ist?«
Wayren kramte in ihrem allgegenwärtigen
Lederbeutel herum, dann zog sie ein Bündel welligen Papiers hervor.
Nachdem sie die eckige Brille aufgesetzt hatte, die sie stets beim
Lesen trug, begann sie, durch die Seiten zu blättern.
Eustacia musste einfach lächeln.Wenn sie
glaubte, dass sich das Alter auf ihre Erinnerung auswirkte, so war
dies nichts im Vergleich
zu Wayren, die schon viel länger lebte und sich vollkommen auf
ihre Notizen, Verweise und Bemerkungen verließ, die sie während
ihrer Recherchen niederschrieb.
»Ich glaube nicht, dass Lilith direkt in Nedas’
Vorhaben verwickelt ist; und falls doch, so ist sie zumindest nicht
hier in Italien. Sie versteckt sich noch immer tief in den
rumänischen Bergen, zusammen mit einer ganzen Stadt voller Vampire.
Ich bin sicher, sie weiß, dass Nedas Akvans Obelisken gefunden hat
und plant, ihn zu aktivieren. Er ist immerhin ihr Sohn. Sie haben
genau wie wir Mittel und Wege, um miteinander zu kommunizieren.«
Ihr verzagtes Lächeln brachte drei winzige Falten neben dem Kinn
zum Vorschein. »Nach allem, was ich seit meiner Ankunft in
Erfahrung bringen konnte, hatten Beauregard und seine Vampire die
Absicht, Nedas hier in Italien zu stürzen, aber als bekannt wurde,
dass er den Obelisken hat, war Beauregard zum Rückzug gezwungen.
Meiner Meinung nach wartet er ab, um zu sehen, was weiter
geschieht, bevor er ihm den Treueid leistet - oder versucht, ihn zu
unterwerfen.«
»Beauregard ist klüger und verfügt über mehr
Erfahrung, aber Nedas ist immerhin Liliths Sohn. Dio mio, wir dürfen den Obelisken keinem von beiden überlassen, Wayren. Wenn wir ihnen
nicht Einhalt gebieten, könnte uns eine ähnliche Tragödie wie in
Praga drohen.«
»Ich bete, dass es nicht so weit kommt.
Zwanzigtausend Menschen, die von den Vampiren und der Tutela
niedergemetzelt werden... hier in Rom. Ihr Ziel ist ohne Frage die
Vernichtung des Kirchenstaates, unseres Konsiliums und so vieler
Sterblicher wie möglich. Es wäre verheerend.« Wayren sah sie an,
und Eustacia las in ihren Augen, dass sie begriff. »Du denkst an
Rosamunds Prophezeiung, nicht wahr? Das... hmmm.« Sie beugte sich
wieder
zu ihrer Tasche hinunter und förderte fünf Bücher in verschiedenen
Größen, Formen und Zuständen zutage, die eigentlich unmöglich alle
in die Tasche gepasst haben konnten.
»Des Venators ruhmreiche Zeit wird in Rom zu
Ende gehen«, zitierte Eustacia die Worte, die sie nie vergessen
hatte. Nur ein kurzer Satz, einer von vielen, die sie über die
Jahrzehnte gelesen, studiert, geprüft hatte... Aber kein anderer
war ihr so nachhaltig im Gedächtnis geblieben wie dieser.
Von rechteckigen Brillengläsern umrahmte,
blau-graue Augen blickten in durchdringende schwarze. »Es könnte
alles Mögliche bedeuten, Eustacia.«
»Das könnte es.Trotzdem fürchte ich, dass dies
vielleicht unsere letzte Schlacht werden wird. Rosamund war mit
vielen Talenten gesegnet, und das Verfassen der mystischen
Schriften war nur eines davon.« Sie faltete die Hände auf dem
rabenschwarzen Kleid, welches, wie sie fand, genau zu ihrem Alter
passte. »Unsere einzige Hoffnung besteht darin, Nedas an der
Aktivierung des Obelisken zu hindern, oder aber ihn irgendwie zu
stehlen.«
»Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen,
ist, dass er sich seine Macht bisher noch nicht vollständig zunutze
gemacht hat. Er wartet auf etwas - auf den richtigen Zeitpunkt oder
auf eine andere Sache, die er noch braucht -, denn ansonsten hätte
er es inzwischen getan.«
»Ich muss Victoria zur Seite stehen; sie kann
das nicht allein schaffen.«
Wayren fixierte sie mit Augen, die sich binnen
eines Zwinkerns von blassem Mondsteingrau in funkelndes Saphirblau
verwandelt hatten. »Jede Chance, die wir haben, wird in dem Moment
vertan sein, in dem jemand die Verbindung zwischen dir
und Victoria herstellt. Exakt in der Sekunde, in der du dich bei
irgendeiner Zusammenkunft der Tutela oder in Nedas’ Nähe blicken
lässt, ist das Spiel aus. Du bist eine Legende.«
»Du denkst, ich bin zu alt zum Kämpfen.« Es
schmerzte, dies aus Wayrens Mund zu hören. Auch wenn sie wusste,
dass es stimmte.
»Ein Venator ist niemals zu alt zum Kämpfen.
Aber es gibt eine bessereVerwendung für dich und deine Erfahrung,
als durch deine Anwesenheit unsere Absichten zu verraten. Ich liebe
dich, Eustacia, aber das hier ist etwas, das Victoria allein wird
tun müssen.«
»Allein? Wie um alles in der Welt... Nein, ich
werde das Konsilium einberufen. Und vielleicht lässt Vioget sich
zur Mithilfe überreden. Der Punkt wird kommen, an dem er sich für
eine Seite entscheiden muss.«
»Vielleicht wird er das. Vielleicht auch nicht.
Ich setze kein großes Vertrauen in ihn.«
Keine von beiden erwähnte Max.
Das Opernhaus unterschied sich nicht von den
Theatern, die Victoria in London besucht hatte: Es war prunkvoll,
überladen und von fein herausgeputzten Angehörigen der Oberschicht
bevölkert, die sich mehr dafür interessierten, zu sehen und gesehen
zu werden, als für die Oper selbst.
Sie war von den Tarruscelli-Zwillingen und Baron
Galliani mit einer Kutsche abgeholt worden und hatte sich zur
offenkundigen Freude des barone auf den
freien Platz neben ihm gesetzt. Er überschüttete sie augenblicklich
mit Entschuldigungen, sie nicht schon früher besucht zu haben, aber
er habe erfahren, dass sie krank gewesen sei.
Victoria gestattete ihm während der Fahrt, so
aufmerksam zu
sein, wie er wollte, was ihr mehr als einen abschätzenden Blick
von Portiera und Placidia eintrug. Sie lächelte bescheiden, als er
mit großem Gewese ihren Arm und den einer der Schwestern - sie sah
nicht, welche - nahm, um sie durch das Foyer der Oper zur Loge der
Regalados zu geleiten.
Im Inneren des kleinen Sitzraumes, der sich in
etwa zweifacher Mannshöhe gleich links neben der Bühne befand, also
nahe genug, dass Sara jeden einzelnen Kostümknopf im Detail würde
sehen können, warteten Graf Regalado und seine Tochter.
»Wie schön, dass Sie uns Gesellschaft leisten«,
begrüßte er sie mit einem Lächeln, das Victoria an Sirup denken
ließ. Er verbeugte sich, dann küsste er nacheinander den Zwillingen
die Hand. Anschließend wandte er sich ihr zu, verbeugte sich
wieder, nahm ihre Hand auf dieselbe Weise, ließ sie jedoch nach dem
Kuss nicht los. »Mrs.Withers, es ist mir eine besondere Ehre, dass
Sie der Einladung meiner Tochter heute Abend gefolgt sind. Zu
meiner Enttäuschung hatten wir während meiner Vernissage nicht
ausreichend Gelegenheit, uns zu unterhalten.«
»Conte Regalado.« Victoria machte einen Knicks,
während er weiterhin ihre Hand festhielt, so als habe er nicht die
Absicht, sie jemals wieder freizugeben. »Ich kann Ihnen gar nicht
sagen, wie sehr es mich entzückt, von Ihnen, Ihrer Familie und
Ihren Freunden hier in Rom so herzlich willkommen geheißen zu
werden. Und ich hatte noch nicht die Möglichkeit, Ihnen zu sagen,
wie außergewöhnlich ich Ihr Porträt finde.« ›Außergewöhnlich‹ war
definitiv eine zutreffende Beschreibung für einen Mann, der die
Brustwarzen seiner Tochter malte.
»Ich hoffe darauf, Sie überreden zu können,
eines Tages für mich Modell zu sitzen. Ich denke, Sie würden eine
herrliche Diana abgeben.«
Die Jägerin. Wie passend. »Ich fühle mich sehr
geschmeichelt und werde Ihrer Bitte gerne nachkommen.« Victoria
fragte sich, ob seine Darstellung der Diana dasselbe
durchscheinende Gewand vorsah, wie es seine Parzen trugen.
»Emmaline!« Sara hatte die Zwillinge begrüßt und
drängte sich nun an ihrem Vater vorbei, um Victoria willkommen zu
hei ßen. »Sie müssen unbedingt neben mir sitzen, damit wir ein
wenig plaudern können. Padre, bitte
entschuldige uns.«
»Guten Abend... Mrs. Twitters, nicht wahr?« Max’
dunkle Stimme ließ Victoria zusammenzucken. Er war an der Seite im
Halbdunkel gestanden, wo man ihn nicht leicht ausmachen konnte. Sie
war überzeugt, dass er sich des Effekts wegen absichtlich dort
positioniert hatte.
»Max, unterlass die Scherze. Du bist einfach
stupido. Natürlich kennst du ihren Namen.
Dies ist Mrs.Withers; du erinnerst dich doch bestimmt an sie; sie
war bei Papas Ausstellung.«
»Gewiss tue ich das.« Doch er klang so
geradeheraus unsicher, dass Victoria ihm am liebsten sein träges
Lächeln vom Gesicht geschlagen hätte. Aber als sich ihre Blicke
dann trafen, war sie so schockiert über die Feindseligkeit in
seinen Augen, dass sie beinahe zurückgetaumelt wäre.
Victoria wandte sich zu Sara um und erkundigte
sich heiter: »Haben Sie Ihren Verlobten wegen der Rose
gefragt?«
»Ach, nein, das hatte ich ja ganz vergessen.«
Sara legte die Hand um Max’ Arm und blickte mit einem
verführerischen Lächeln zu ihm hoch. »Silvio, il malfattore« - sie kicherte an dieser Stelle und
nahm der Beleidigung ihres Cousins damit jede Bösartigkeit - »hat
beschlossen, den Namen meiner Rose zu ändern und sie nach Emmaline
zu benennen, deshalb hat sie vorgeschlagen, dass du selbst eine für
mich züchten könntest. Ich sagte ihr,
dass du bestimmt zustimmen würdest.« Victoria registrierte
fasziniert, dass sie tatsächlich mit den Wimpern klimperte.
Max sah Victoria mit hochgezogenen Brauen an.
»Tatsächlich?«
»Nun, eigentlich hat es sich nicht exakt auf
diese Weise zugetragen, aber« - Victoria legte den Kopf schräg, so
als dächte sie über seine Tauglichkeit nach - »ich erkenne jetzt,
dass es Ihnen gut zu Gesicht stehen würde, von Blumen umgeben in
der Erde herumzuwühlen.«
Es geschah so schnell, dass Victoria sich nicht
sicher war, ob sie es tatsächlich gesehen hatte, doch sie hätte
schwören können, dass da ein Aufblitzen von Humor oder Bewunderung
oder etwas anderem war, etwas von dem alten Max, das die Härte aus
seinen Zügen nahm... Aber sie konnte sich auch geirrt haben, denn
er hatte schon wieder diese schrecklich arrogante, kalte Miene
aufgesetzt. »Ich verstehe. Nun, adorate
mio, für dich werde ich es in Betracht ziehen.«
In diesem Moment ging die Tür ein weiteres Mal
auf, und Sebastian trat ein. »Es tut mir furchtbar leid, dass ich
zu spät komme«, sagte er und ließ den Blick über die Loge
wandern.
Er sah fantastisch aus. Seine volle Löwenmähne
war ordentlich aus der Stirn gekämmt und ringelte sich im Nacken
und an den Ohren. Seine Jacke war von einem prächtigen Topas, die
Hose rostbraun und die Krawatte in einer Kombination aus Fuchsrot,
Khaki und Gold gehalten. Wie stets war das gesamte Ensemble perfekt
geschneidert. Und dann sein Lächeln, die Art, wie seine Oberlippe
die Unterlippe beschattete, das leise Zucken in einem Mundwinkel
…
Victoria fühlte eine Hitzewelle über ihren Busen
bis hinauf zu ihrem Hals und den Wangen jagen. Sie hatte ihn seit
ihrem
erotischen Intermezzo in der Nacht nach der Party weder gesehen
noch von ihm gehört. Und das Einzige, woran sie denken konnte, war,
wo seine Hände gewesen waren und was seine Finger getan
hatten.
Und was zwischen ihnen noch unerledigt
war.
»Mrs.Withers, geht es Ihnen gut? Sie wirken
recht... erhitzt.« Max hatte sich irgendwie von hinten
angeschlichen, und als er jetzt in ihr Ohr sprach, wäre sie beinahe
zusammengezuckt.Wieder. »Es ist ziemlich unangenehm, wenn Menschen
an Orten auftauchen, an denen sie nicht sein sollten und auch
nicht willkommen sind, habe ich
Recht?«
Victoria schluckte, dann wandte sie den Kopf
gerade weit genug zur Seite, um zu sehen, wie nahe sein seidiges,
blau-graues Halstuch war. Es berührte beinahe ihre Schulter. »Ich
habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, war die einzige Antwort,
die ihr einfiel.
Als sie sich anschließend wieder umdrehte, fand
sie sich dem Mann, um den es ging, genau gegenüber. »Mrs.Withers,
was für eine Freude, Sie wiederzusehen.« In Sebastians Tonfall
schwangen so viele verschiedene Nuancen mit, dass Victoria nicht
wusste, ob sie erröten oder ihm eine Ohrfeige verpassen
sollte.
»Die Freude ist ganz meinerseits.« Sie machte
einen Knicks und gestattete ihm, ihr die Hand zu küssen. Aber als
er sie wieder losließ, zog er dabei ihren Handschuh mit, sodass er
wie eine ungestärkte Krawatte von ihrem Arm baumelte.
»Ach herrje«, erklärte Sebastian heiter, während
er ihn anstarrte. »Sie neigen wirklich dazu, Ihre Handschuhe zu
verlieren, nicht wahr?«
Natürlich spielte er damit auf jenen Abend an,
als er ihr fast auf dieselbe Weise einen anderen Handschuh
ausgezogen hatte.
Den sie im Übrigen nie zurückbekommen hatte. »Ich besitze schon
einen, der zu keinem anderen passt«, erwiderte sie leichthin. »Ich
hoffe wirklich, Sie bescheren mir nicht noch einen.«
»Aber dann könnten Sie Ihren einzelnen mit
diesem hier zusammentun und hätten wieder ein perfektes Paar. Und
ich … tja, vielleicht finde ich einen Gefährten für diesen hier.«
Damit steckte er ihn ein. »Guten Abend, Maximilian.«
»Sebastian.« Max nickte kühl und knapp, dann
schlenderte er davon.
Victoria konnte nicht weiter auf ihren Handschuh
eingehen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, deshalb musste sie sich
damit begnügen, Sebastian einen finsteren Blick zuzuwerfen und
ihren anderen Handschuh abzustreifen, was in Rom zum Glück nicht
als so großes Vergehen betrachtet wurde, wie es in London der Fall
gewesen wäre. Die Italiener waren in Bezug auf derartige
Benimmregeln ein bisschen weniger streng als die Engländer.
Sebastian sah sie mit sanfter Miene an, bevor er
sich anschlie ßend den Tarruscelli-Zwillingen zuwandte, die ihrem
Händeklatschen und leisem Jauchzen nach hocherfreut sein mussten
über seine Ankunft.
Für einen kurzen Moment fragte Victoria sich, ob
Sebastian nach ihrem unbefriedigenden Stelldichein im Salon wohl
Ernst gemacht hatte mit seiner Drohung, sich an Portiera und
Placidia zu halten.
Als sie ihn nun verstohlen betrachtete, wie er
da zwischen den beiden dunkelhaarigen Schönheiten mit den Grübchen
neben den Mündern stand, stellte sie fest, dass ihr die Vorstellung
ganz und gar nicht gefiel.Tatsächlich machte sie sie ziemlich
nervös.
Und wütend.
So wütend, dass sie die traditionelle weibliche
Vergeltungsmaßnahme
in Betracht zog, ihnen mit den Nägeln die hübschen Augen
auszukratzen. Obwohl sie als Venator vermutlich eher aushöhlen denn
kratzen würde und das Ganze damit ein wenig blutiger als normal
verlaufen dürfte …
»Mrs. Withers, sind Sie sich wirklich sicher,
dass Sie sich ganz auf der Höhe fühlen? Vielleicht sollten Sie
besser nach Hause zurückkehren; es ist unverkennbar, dass Sie sich
noch nicht von Ihrer Krankheit erholt haben. Diese Art von
Unbehagen überkommt Menschen oft, wenn sie sich in eine Situation
begeben, die sie besser meiden sollten.« Max war zurückgekehrt und
sah sie mit dieser ausdruckslosen Miene an. Die anderen machten
sich bereit, ihre Plätze einzunehmen.
Die Demütigung, keine rasche Erwiderung parat zu
haben - die Dinge waren derart aus den Fugen geraten, dass von
ihrer Schlagfertigkeit nicht mehr viel übrig war -, blieb ihr
erspart, denn Graf Regalado trat auf sie zu. »Mrs.Withers, darf ich
Sie zu Ihrem Platz begleiten?« Er nahm ihre Hand und legte sie in
die Beuge seines Ellbogens.
»Aber mit Vergnügen«, rief sie über ihre
Schulter, als sie sich entfernten. Nicht gerade die originellste
aller Erwiderungen, aber wenigstens hatte sie das letzte Wort
gehabt.
Doch nachdem Graf Regalado sie zu ihrem Platz in
der ersten Reihe der Loge geführt und sich neben sie gesetzt hatte,
hörte sie Max, der es sich mit Sara hinter ihnen bequem machte,
unschuldig fragen: »Wann kehrt deine Freundin eigentlich nach
London zurück, Liebling? Ich bin sicher, sie kann es gar nicht
erwarten.«
Galliani nahm mit einer kleinen Verbeugung und
einem der Tarruscelli-Zwillinge - Portiera, wie sie an ihrem
kornblumenblauen Kleid erkannte - am Arm auf ihrer anderen Seite
Platz.
Das Mädchen trug stets die dunkleren Farben. Und dahinter saß
Sebastian mit Placidia in Himmelblau.
Durch diese Anordnung war Victoria von einer
bunt gemischten Männerschar umgeben: ein unerträglicher Grobian,
ein Vater, der im Detail die Brüste seiner Tochter malte und mit
Vampiren Umgang pflegte, ein Baron, der Rosen züchtete, und ein
Mann, der sie erst vor wenigen Tagen vor Leidenschaft hatte erbeben
lassen und der nun mit einer anderen Frau flirtete.
Graf Regalado verlangte nach ihrer
Aufmerksamkeit, was sie wieder an ihren Plan erinnerte, ihm schöne
Augen zu machen, in der Hoffnung, mehr über die Tutela zu erfahren.
»Die Oper wird gleich beginnen«, sagte er. Er roch nach Wein und
Lavendel. »Ich hoffe, Sie werden es genießen.«
Die Oper war lang, und Victoria wurde immer
unruhiger. Sie fragte sich, warum sie überhaupt gekommen war. Der
Hauptgrund hatte darin bestanden, dass sie Max wiedersehen und sich
vielleicht eine Gelegenheit ergeben würde, mit ihm zu sprechen,
aber das erschien ihr nun immer unwahrscheinlicher.
Als sie am Ende des ersten Aktes eine Bewegung
hinter sich bemerkte, drehte sie sich um und sah, wie Sebastian,
der den Kopf vertraulich zum Gesicht seiner Begleiterin neigte,
Placidia aus der stickigen Loge führte. Leider war es keine
offizielle Pause, sodass Victoria sich ihnen hätte anschließen
können. Es würde seltsam wirken, wenn sie darauf bestünde, die
beiden zu begleiten.
Wenn sie gewusst hätte, dass Sebastian hier sein
würde, wäre sie zu Hause geblieben, allein schon um der
Peinlichkeit einer Begegnung zu entgehen.
Nein, in Wahrheit wäre sie trotzdem gekommen,
denn sie konnte einfach nicht aufhören, an ihn, seinen sinnlichen
Mund
und seine geschickten Finger sowie an die Tatsache zu denken, dass
es wirklich eine Schande war, wie kühl und zurückhaltend er ihr
gegenüber geworden war. Und dass er beschlossen hatte, neben einer
der Schwestern zu sitzen. Und sie nach draußen zu
eskortieren.
Dann plötzlich schärfte sich ihre Wahrnehmung,
und sie merkte, dass ihr Nacken kalt wurde. Die Härchen stellten
sich auf, als ob eine eisige Brise über sie hinwegstreichen würde.
Vampire. Irgendwo in der Nähe. Einer, vielleicht zwei.
Mit angehaltenem Atem hielt Victoria den Blick
auf die Bühne gerichtet. Dachte nach. Sie musste etwas tun.
Obwohl Eustacia ihr eingeschärft hatte, wie
wichtig es war, sich nicht als Venator zu erkennen zu geben, hatte
Verbena ihr nicht erlaubt, die Villa zu verlassen, ohne wenigstens
einen Pflock mitzunehmen, den sie unter ihr Strumpfband gesteckt
hatte.
Es war der Beginn des zweiten Aktes; der Vorhang
hatte sich gerade gehoben. Die einzige Pause würde erst am Ende
dieses Aktes eingeläutet werden, aber bis dahin konnte noch eine
ganze Stunde vergehen. So lange durfte sie nicht warten.
Die Empfindung wurde stärker.
Max musste es ebenfalls fühlen.
Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum, um irgendwie
Blickkontakt mit ihm herzustellen, und stieß dabei gegen Gallianis
Arm.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, murmelte er, sich
nah zu ihr beugend. »Möchten Sie ein wenig an die frische
Luft?«
Dem Himmel sei Dank.
Nickend erwiderte sie: »Das wäre wundervoll.« Sobald sie die Logen
verlassen hatten, würde sie Galliani irgendwie abschütteln und
herausfinden, was vor sich ging.
Victoria wollte aufstehen, aber sie konnte
nicht. Irgendetwas hielt sie an ihrem Kleid fest.Von hinten.Tief
auf ihrem Sitzplatz.
Graf Regalado richtete nun den Blick auf sie.
»Stimmt etwas nicht, Mrs. Withers?« Er legte ihr seine schwere Hand
auf den Arm.
»Ich brauche nur... etwas frische Luft. Es ist
so stickig hier drinnen. Lord Galliani war so freundlich, mir sein
Geleit anzubieten.« Wieder versuchte sie aufzustehen, und wieder
gelang es ihr nicht.
Galliani wartete mit erwartungsvoller
Miene.
Ihr Nacken war noch kälter geworden; eine
Gänsehaut überzog die Rückseite ihrer Schultern, woran sie
erkannte, dass die Vampire näher kamen.
Die Diva auf der Bühne unter ihnen sang weiter,
ihre Stimme klar und durchdringend, ihre rundlichen Hände vor
Ringen und Armbändern funkelnd.
Victoria musste den übermächtigen Drang
bezwingen, sich zu Max umzudrehen und ihn aufzufordern, ihr Kleid
loszulassen. Sie wollte es, aber irgendetwas ließ sie zögern.
Er hielt sie aus einem bestimmten Grund
auf.
Und Eustacia hatte sie gewarnt, ihre Identität
als Venator selbst bei drohender Gefahr auf keinen Fall
preiszugeben. Sie würde das Risiko eingehen und den Dingen ihren
Lauf lassen müssen.
Aber wie konnte sie das?
Galliani stupste sie sanft an. »Mrs. Withers?
Haben Sie es sich anders überlegt?«
»Es geht mir jetzt besser«, entgegnete sie
zögernd, während sie entschied, Eustacias Anweisung zu befolgen.
Ihr Magen fühlte sich komisch an, so als ob irgendeine zähe,
schwere Flüssigkeit darin herumschwappen würde.
Was, wenn die Vampire einen der Gäste angriffen
und töteten, ohne dass sie ihnen Einhalt gebot? Könnte sie wirklich
einfach
hier sitzen bleiben und es geschehen lassen? Verfügte sie über so
viel Abgebrühtheit?
Das Frösteln intensivierte sich, und Victoria
krallte die Finger in ihren Rock, bis die zarte Seide zerknitterte,
während sie weiter unverwandt zur Bühne starrte, ohne etwas zu
sehen oder zu hören, sich keiner anderen Sache bewusst als der
zunehmenden Kälte in ihrem Nacken.
Dann wurde die Tür zur Loge geöffnet.
Zwei Männer traten ein.
Ihre Augen waren nicht rot, ihre Fangzähne nicht
ausgefahren, trotzdem wusste Victoria, dass es Vampire waren.