Kapitel 24
In welchem Lady Rockley Rachegedanken hegt
Als Victoria erwachte, war sie allein in der Finsternis.
Sie atmete tief ein und registrierte überrascht, wie sehr ihr ganzer Körper wehtat; sie war an solch heftige, kräftezehrende Schmerzen nicht gewöhnt. Ihre Arme waren zu schwach, als dass sie sich hätte aufsetzen können, deshalb blieb sie für eine lange Weile liegen, während sie versuchte, ihre Atmung zu beruhigen und irgendwelche Schemen in der Dunkelheit zu erkennen.
Die Erinnerung wartete einen Moment, dann stürmte sie auf sie ein und überwältigte ihren Geist mit all ihrem Blut und Sterben. Die durch die Luft sirrende Schwertklinge. Die an ihr herumtastenden, zerrenden, knuffenden Hände. Die unmenschlichen, rot geränderten blauen Augen. Der reißende Schmerz an ihrem Nabel.
Es war nicht weiter verwunderlich, dass sie sich schwach und wund fühlte. Ohne ihre vis bulla war sie so hilflos wie jede andere Frau.
Obwohl sie sie erst wenig länger als ein Jahr trug, hatte sie bereits vergessen, wie abhängig sie von dem Stärkeamulett war, wie sehr es ihr Leben beherrschte und welche Freiheit es ihr schenkte. Ja, sie hatte es schon einmal abgelegt, aber das war ein freiwilliger und zeitlich begrenzter Schritt gewesen, und sie hatte dabei zurückgezogen im Schutz ihres Hauses gelebt.
Das hier war Furcht einflößend.
Sie versuchte noch einmal, die Arme zu bewegen, und stellte überrascht fest, dass sie es konnte. Man hatte sie nicht gefesselt. Ihre Beine waren ebenfalls frei, sodass sie mit den Füßen ausreichend Erkundigungen anstellen konnte. Sie kam zu dem Schluss, dass man sie in irgendeinem geschlossenen Raum auf dem Boden abgelegt hatte.
Warum sollten sie sie auch fesseln? Sie stellte nun keine Bedrohung mehr für sie dar.
Keine Bedrohung.
Max zufolge war sie das selbst vor dem Herausreißen ihrer vis bulla nicht gewesen.
Die Wiederbelebung ihres Zorns machte ihre Atmung unregelmäßig, und ihr Magen fühlte sich an, als würde er von einer Kanonenkugel zermalmt.Victoria musste sich bewusst zwingen, den Hass beiseitezuschieben.
Sie würde sich zu gegebener Zeit um Max kümmern.
Das Erste, was sie tun musste, war, einen Weg hier heraus zu finden.
Wie spät mochte es sein? Waren sie jetzt gerade bei Akvans Obelisk, um seine ganze böse Macht freizusetzen? Jener Akt, der Nedas’ Worten zufolge die Venatoren überflüssig machen würde?
Sachte stemmte sie sich auf die Füße, dann versuchte sie, sich an der Wand abstützend, aufzustehen, aber Knie und Kopf wollten ihr nicht gehorchen. Sie sackte zurück auf den Boden, wobei sie sich an der rauen Mauer die Hand aufschürfte. Es war so dunkel, wie es nur sein konnte, doch die Steine neben und der Zement unter ihr ließen darauf schließen, dass sie sich in einem Kellerraum des Opernhauses befand.
Sie kroch auf allen vieren in der Finsternis herum, wobei sie gegen etwas stieß, das eine Pritsche oder ein großer Sessel zu sein schien, und entdeckte, dass zwei der Wände aus Stein und die beiden anderen aus Holz - eine davon mit einer Tür - waren.
Kaum hatte sie die Hand gehoben, um blind nach der Klinke zu tasten und vergebens daran zu rütteln, als sie über ihrem Kopf absteigende Schritte hörte, aus denen sie folgerte, dass sie in einem Kabuff unter einer Treppe eingesperrt sein musste.
Ihr blieb nicht die Zeit, sich zu fragen, ob die Schritte jemanden ankündigten, der zu ihr wollte, denn wenige Sekunden, nachdem sie den Fuß der Treppe erreicht hatten, fiel ein Lichtstreifen unter der Tür hindurch, bevor sich jemand leise an ihr zu schaffen machte. Dann ging die Tür auf.
Max schlüpfte herein und schloss sie hinter sich.
»Du!« Aller Geschwächtheit zum Trotz warf Victoria sich ihm entgegen und zog sich an ihm und der Wand hoch - die Rage, die sie bis dahin unter Kontrolle gehalten hatte, brach sich angesichts seiner Unverfrorenheit, zu ihr zu kommen, Bahn und verlieh ihr neue Kraft.
So als hätte er ihren Angriff erwartet, hielt er seine Laterne ein gutes Stück von sich weg und gestattete Victoria ein paar wirkungslose Hiebe gegen seine Brust und sein Gesicht, bevor er einen ihrer Arme in der Luft abfing. »Das reicht jetzt, und sei um Gottes willen still«, sagte er und stellte die Laterne ab. »Du verschwendest Zeit und Energie.« Als sie wieder auf ihn einschlagen wollte, packte er auch ihr anderes Handgelenk, dann kickte er ihr einen ihrer um sich tretenden Füße unter dem Körper weg, sodass sie das Gleichgewicht verlor und nur deshalb aufrecht blieb, weil er ihre Handgelenke umklammert hielt.
»Wie lange bist du schon bei der Tutela?«, zischte sie. »Du bist ein Verräter und ein Mörder.«
Seine Miene war ausdruckslos. »Du hast Nedas gehört. Ich war Mitglied der Tutela, bevor ich zum Venator wurde.«
»Wirst du mich nun umbringen?« Victoria ignorierte die schwarzen Flecken, die vor ihren Augen tanzten, und den Schmerz, der in ihrem Körper pochte. Schwäche und Angst pulsierten in ihr, aber sie würde es sich nicht anmerken lassen. Ihre Glieder zitterten, und sie hatte Mühe, die Worte zu formulieren. »Welche Belohnung wird Nedas dir geben, wenn du noch einen Venator tötest?«
Er schüttelte sie leicht, sodass ihr Kopf hin und her wackelte; dann stieß er sie, als müsse er um Beherrschung ringen, von sich und blieb auf Abstand, während er zusah, wie sie wieder zur Pritsche torkelte. »Ich habe genau zehn Minuten, um dich verdammt noch mal hier rauszuholen, denn sonst wirst du dich in einer wesentlich weniger appetitlichen Situation wiederfinden als vorhin deine Tante. Um Himmels willen, du kannst noch nicht einmal stehen, oder?«
Diese letzte Bemerkung bezog sich auf ihren Versuch, genau das zu tun, indem sie sich mit einer Hand an dem schmalen Feldbett hochzog. Er streckte den Arm nach ihr aus, aber sie schlug ihn weg und landete als entwürdigtes Häuflein Elend wieder auf dem Boden. »Fass mich nicht an.«
Er schenkte dem keine Beachtung, sondern zog sie kurzerhand auf die Füße und drückte sie wieder auf die Pritsche. »Victoria, du musst fort von hier. Du hast nicht die Zeit, die verschmähte Jungfer zu spielen.«
»Sobald ich dich und anschließend Nedas getötet habe, werde ich diesen Ort gern verlassen.«
»Angesichts der Tatsache, dass du noch nicht einmal in der Lage bist aufrecht zu stehen, zweifle ich daran, dass du jemanden würdest töten können, und schon gar nicht Nedas. Zumindest nicht jetzt«, fügte er mit schneidender Stimme hinzu. »Der Zeitpunkt wird kommen, aber nicht jetzt.« Mit langen Fingern begann er, sein weißes Hemd aufzuknöpfen, und Victoria glotzte ihn an, versuchte, den Blick um die schwarzen Flecken, die ihr die Sicht vernebelten, herum zu fokussieren.
»Was tust du da?«
»Er hat schon angefangen, den Obelisken zu aktivieren; man kann ihn nicht mehr aufhalten. Du wirst hinterher gebraucht werden, Victoria. Daran musst du denken und nicht an deine Rachegelüste, denn die werden sich bald schon erübrigen.« Er kam auf sie zu, und sie schreckte vor seiner hoch aufragenden Gestalt zurück. Sie hatte nie Angst vor Max gehabt, doch irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck, der entschlossene Zug um seinen Mund und die zornigen, schwarzen Augen weckten in ihr das Bedürfnis, zu fliehen.
Aber sie war ein Venator. Selbst ohne ihre vis bulla war sie verdammt noch mal ein Venator.
Sie wusste nicht, was sie erwartete, als er sich neben sie setzte, aber auf keinen Fall, dass er ihre Hand nehmen und sie an seinen Körper führen würde. Er schob ihre widerstrebenden Finger unter sein offenes Hemd, und ihre Handfläche glitt über warme Haut, weiches Haar, dann über eine Brustwarze und etwas Hartes. Metall. Er drückte ihre Hand flach dagegen.
Eine Sekunde bevor sie realisierte, dass es seine vis bulla war, die dort am Warzenhof seiner muskulösen Brust hing, fühlte Victoria einen Energieschub durch sich hindurchströmen. Ihre Sicht hellte sich auf, und die schwarzen Flecken verschwanden. Ihre Schmerzen wurden zu leisem körperlichem Missbehagen abgemildert. Selbst die Verletzung an ihrem Nabel, wo ihr eigenes Stärkeamulett herausgerissen worden war, hörte auf zu pochen. Ihr Kopf fühlte sich klarer an.
Während ihr Schmerz und ihre Verwirrung nachließen, merkte Victoria plötzlich, dass ihre Hand ausgebreitet auf Max’ nackter Haut lag. Sie spürte, wie das Leinen seines Hemds im Rhythmus seiner Atmung über ihre Haut strich, spürte seinen stetigen, kraftvollen Herzschlag unter ihrer Hand und die Stärke seiner Finger um ihr Handgelenk. Er war warm und männlich, und ein rascher Blick in die Öffnung seines Hemdes verriet ihr, dass jede Menge schwarzer Haare seine Brust bedeckte.
Ein zweiter Blick zu seinem Gesicht hingegen verriet ihr, dass er völlig emotionslos war: Er hatte die Augen geschlossen, und um seinen Mund lag noch immer derselbe energische Zug. Sie fragte sich, ob der Energiestrom, den sie spürte, Max gleichzeitig schwächte. Er bewegte den Kiefer, einmal, zweimal, und dann, so als wüsste er, dass sie ihn beobachtete, schlug er die Augen auf. Mit einem Mal wurde Victoria sich ihrer Position auf der Pritsche bewusst - er ihr halb zugewandt, sein Knie an ihrem ruhend, seine Finger um ihr Handgelenk geschlossen -, und sie sah weg. Ihre Hand an seinem Fleisch fühlte sich plötzlich an, als würde sie brennen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Fühlst du dich besser?« Allerdings fragte er das nicht besorgt oder mit echtem Interesse, sondern so, als könnte er es nicht erwarten, von ihr fortzukommen.
»Stark genug, um gegen dich zu kämpfen.« Sie zog die Hand weg und fühlte augenblicklich den Energieverlust.
Er sah sie mit einer hochgezogenen Braue an, während er sich das Hemd zuknöpfte. »Steh auf.«
Sie stand auf; irgendwie schaffte sie es. Selbst ohne die Hilfe seiner vis bulla ging es ihr jetzt viel besser. Ihr drehte sich nicht mehr der Kopf, und ihre Sicht war klar. Ihre Verletzungen taten zwar wieder weh, aber nicht mehr so schlimm wie zuvor.
»Wenn du diese Kammer verlässt, geh nach rechts, dann an drei Türen vorbei den langen Gang hinunter.An dessen Ende wirst du eine Treppe finden, die zurück zum Erdgeschoss des Opernhauses führt; oder was noch von ihm übrig ist.« Er förderte einen Pflock und eine Pistole zutage und warf beides auf die Pritsche. »Nimm das, und dann verschwinde von hier. Ich muss wieder zu ihnen zurück, bevor man mich vermisst, und ich verlasse mich darauf - Gott weiß warum -, dass du jetzt auch wirklich gehen wirst, wenn ich dir schon die Chance dazu gebe. Mal wieder.«
»Ich hasse dich, Max. Sei dir dessen bewusst.« Victoria hob die Pistole auf, spannte den Hahn und richtete sie auf seine Brust. Sie war im Umgang mit Schusswaffen um einiges geübter, seit sie im Jahr zuvor gezwungen gewesen war, bei ihrer Flucht vor Lilith eine zu benutzen. »Ich würde nichts tun, wovon du profitieren könntest.« Die Waffe war schwer, doch Victoria erlaubte ihr nicht, in ihrer Hand zu zittern. Noch wenige Minuten zuvor hätte sie ohne zu zögern gefeuert.
»Es ist nicht mehr wichtig, was du von mir denkst.« Erschöpfung und Ungeduld verdunkelten seine Stimme. »Geh jetzt,Victoria. Mich nun umzubringen, hilft niemandem. Und falls du diesen Abzug drückst, werden sie schneller hier unten sein, als du dir vorstellen kannst.« Ein spöttisches Grinsen zuckte über sein Gesicht. »Was glaubst du wohl, weshalb ich dir eine Schusswaffe und kein Messer gegeben habe?«
»Warum hast du es getan?« Entsetzt spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen traten.
»Ich hatte die Wahl zwischen ihr und dir.« Max drehte sich um, marschierte aus dem Kabuff und zog mit einem leisen Klicken die Tür hinter sich ins Schloss.
Victoria wischte die unwillkommenen Tränen weg, schnappte sich den Pflock und wollte Max, dessen Schritte sie erneut über ihrem Kopf hörte, folgen, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie zog noch einmal an, dann sprang sie auf und gab die Sicht auf einen finsteren Korridor frei. Max hatte die Laterne zurückgelassen, die Victoria nun vom Boden aufhob, bevor sie sich auf den Weg machte.
Sie ging nicht nach rechts, wie er ihr befohlen hatte. Stattdessen folgte sie ihm seinen Schritten lauschend die Treppe hinauf, wobei sie die Laterne verdunkelte, so gut es ging. Sie würde sich schützen, indem sie außer Sichtweite blieb, aber sie musste einfach in Erfahrung bringen, was dort oben geschah. Musste herausfinden, ob Max die Wahrheit gesagt hatte. Und... Vielleicht gab es ja doch etwas, das sie tun konnte.
Sie durfte nicht einfach weglaufen.
Ein leises, fernes Knarzen brachte sie zu einem weiteren Korridor am oberen Ende der Treppe. Sie brauchte die Laterne nicht mehr, denn es war hier nicht so stockfinster wie in der Kammer, die sie gerade verlassen hatte, deshalb blies sie die Flamme aus, sobald sich ihre Augen an die grauen Schemen und Schatten des Halbdunkels gewöhnt hatten. Sie kam an einer angelehnten Tür vorbei, warf einen flüchtigen Blick ins Innere und entdeckte Gestelle, an denen Kleider, vermutlich Kostüme, hingen. Der Geruch von Rauch schwängerte die Luft, während sie auf leisen Sohlen weiterlief, um Max einzuholen.
Nach einer Weile stellte sie bestürzt fest, dass sie ihn verloren hatte. Alles war totenstill.
Enttäuscht und von neuer Schwäche übermannt, kehrte Victoria um, wobei sie sich dieses Mal mehr Zeit nahm, ihre Umgebung zu erforschen. Sie befand sich definitiv im unteren Bereich des Theaters, der offensichtlich als Fundus benutzt wurde. Kostüme, Requisiten, Stühle, Instrumente... All diese Dinge wurden ordentlich in den verschiedenen Räumen verwahrt.
Victoria stieß auf eine weitere Treppe, eine breitere diesmal, die für größeren Publikumsverkehr gedacht zu sein schien. Langsam und mit gespitzten Ohren stieg sie die Stufen hinauf. Das Frösteln war nie aus ihrem Nacken verschwunden, aber jetzt wurde er immer kälter, deshalb setzte sie ihre Erkundungen mit größerer Vorsicht fort. Sie hielt in einer Hand den Pflock und hatte die Pistole in den Bund ihrer Hose gesteckt. Ihr Gewicht zog sie beim Gehen nach unten, aber Victoria wollte zumindest eine Hand frei haben.
Die Treppe mündete in einen Gang, der zum hinteren Teil einer Bühne führte. Aber es war nicht dieselbe, auf der Eustacia wenige Stunden zuvor hingerichtet worden war; bei dieser hier handelte es sich um jene größere, höhere Hauptbühne, auf der sie erst zwei Nächte zuvor die Oper gesehen hatte.Versengte Kulissen hingen eine hinter der anderen von der Decke herab, und auf den Seitenbühnen standen mit verrauchten Requisiten und Kostümen beladene Tische. Dann hörte sie Stimmen.
Jemand befand sich auf der Bühne.Victoria hoffte, dass es Nedas war.
Angestrengt lauschend schlich sie weiter und wäre dabei um ein Haar gegen eine Holzleiter geprallt. Sie sah hoch, und ihre Haut begann zu kribbeln, als ihr eine Idee kam. Die Leiter schien nach oben in die vollkommene Dunkelheit zu führen, dorthin, wo die Seile, die die Bühnenbilder und Vorhänge hielten, befestigt waren. Darauf achtend, dass die Pistole nicht aus ihrem Hosenbund rutschte und zu Boden polterte, kletterte Victoria nach oben. Um beide Hände benutzen zu können, musste sie den Pflock an der anderen Seite ihrer Hose verstauen; sie wünschte sich, noch immer den Bogen und die Pfeile zu haben.
Dreißig Fuß über der Bühne strebten die Stufen immer noch weiter nach oben, aber Victoria entdeckte einen schmalen Steg, der in die Dunkelheit jenseits der Seitenbühnen und vermutlich in den Bereich über der Bühne führte. Der Rauchgeruch war hier oben noch stärker, und sie entdeckte an den Kulissen, an dem Steg und den Seilen, die als sein Geländer dienten, schwarze Schmauchflecken. Es war wirklich ein Wunder, dass das Theater nicht bis auf die Grundmauern niedergebrannt war.Von der Bühne drang Licht herauf, das ihr half, ihren Weg leichter zu finden.
Während sie lautlos über den schmalen, leicht federnden Holzsteg krabbelte, wurden die Stimmen allmählich lauter und deutlicher. Eine Eisschicht überzog ihren Nacken, und sie verspürte plötzlich dasselbe Gefühl von Ekel wie zuvor, als Nedas aufgetaucht war.
Dann endlich erreichte sie die schwarzen Vorhänge, die die Hinterbühne von den Zuschauern abschirmten, sodass sie nun über der Hauptbühne kauerte.
Das Erste, was sie erblickte, war Akvans Obelisk.
Er stand auf einem hüfthohen, runden Tisch in der Mitte der Bühne und sah exakt so aus, wie sie ihn sich vorgestellt hatte: eine Obsidianskulptur, die im Licht der fünf Laternen, die sie umringten, blau und schwarz schimmerte. Sie war schmal und spitz, hatte etwa den Umfang eines Arms und die Länge eines Beins. Funkelnd und böse ragte sie in leicht schrägem Winkel nach oben.
Die Bühne selbst hatte durch das Feuer großen Schaden erlitten. Eine der dem Publikum zugewandten Seiten war verkohlt und eingestürzt, sodass dort nun ein schartiges, pechschwarzes Loch klaffte. Im selben Teil hatte das Feuer eine Schneise versengter Stühle hinterlassen, und auch die Logen darüber - jene, in denen Victoria den Imperialvampir gesehen hatte - waren völlig ausgebrannt. Nichtsdestotrotz waren zwei Drittel der Arena lediglich verrußt und mit Asche bedeckt, wiesen ansonsten jedoch keine weiteren Beschädigungen auf. Die Hälfte der Stühle hier war mit Vampiren und Mitgliedern der Tutela besetzt.
An fünf Stellen um die Bühne mit dem Obelisken in ihrer Mitte herum waren schüsselartige Gefäße gruppiert. Rauch stieg von den kleinen Feuern auf, die in ihnen brannten, und würzte die Luft mit jenem süßlichen Geruch, der Victoria auf unangenehme Weise an das Tutela-Treffen erinnerte. Das Theater war zu groß, als dass er so wie damals bis in den letzten Winkel hätte vordringen können, aber trotzdem nahm sie ihn wahr, und so musste sie unweigerlich wieder daran denken, wie sie fast völlig hilflos den Händen und Fangzähnen der Vampire ausgeliefert gewesen war.
Victoria schloss die Augen und schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verdrängen, dass sie in dieser Nacht sogar noch hilfloser war. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne und sah sich die unter ihr Versammelten genauer an.
Neben dem Tisch mit dem Obelisken standen fünf Männer. Nedas erkannte sie an seiner geringeren Körpergröße, der dunkleren Haut und daran, dass sie sich am ganzen Körper krank fühlte, als sie jetzt den Blick auf ihn richtete. Max war der Größte von ihnen, außerdem stach er mit seinem zu langen, nach hinten gebundenen Haar und dem weißen Hemd aus der Masse schwarzer Kleidung und dunklen Haars heraus. Regalados Kopf schimmerte wie ein fleischfarbener Totenschädel, und sein buschiger Bart ragte so weit nach vorn, dass Victoria ihn sehen konnte, obwohl der Mann direkt unter ihr stand. Die anderen beiden, die sie für Vampire hielt, kannte sie nicht.
Allem Anschein nach gehörte Max nun tatsächlich zu Nedas’ innerem Kreis, also musste er direkt in die Geschehnisse, die gleich folgen würden, involviert sein.Victorias Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, wenn sie daran dachte, was er dafür geopfert hatte, um sich mit Nedas verbünden zu können: ihre Tante Eustacia.
Und weshalb hatte er so vehement darauf bestanden, dass sie nicht hier sein sollte? Was kümmerte es ihn überhaupt?
Ich hatte die Wahl zwischen ihr und dir.
Aber warum überhaupt zwischen ihnen wählen? Aus welchem Grund sollte er die Venatoren verraten?
Vom Tutela zum Venator zum Tutela.
Waren die Jahre, in denen er Vampire gejagt hatte, nur eine Finte gewesen, um auf genau dieses Ende hinzuarbeiten? Um das Vertrauen ihrer Tante zu gewinnen und ihr dann den Tod zu bringen?
Aber warum?
Hatten sie Akvans Obelisken schon damals in ihrem Besitz gehabt?
All diese Gedanken wirbelten in Victorias Kopf umher; sie fühlte sich wieder schwach, und die Rauchschwaden aus den Schalen schienen ihr direkt in die Nase zu dringen, ihre Sinne zu umhüllen und sie so trüb wie den Londoner Nebel zu machen. Vielleicht war sie ohne ihre vis bulla empfänglicher für die Essenz. Oder möglicherweise lag es daran, dass sie durch ihre Verletzungen nicht nur schwächer, sondern auch leichter zu irritieren war.
Sie wurde sich irgendeines Gesangs unter ihr bewusst. Er kam von den Vampiren im Zuschauerraum, die weit genug von der Bühne entfernt saßen, dass sie zwar zusehen, sich aber nicht in das bevorstehende Ereignis einmischen oder es stören konnten.
Victoria kam ein Gedanke, und sie verbrachte ein paar lange Augenblicke damit, im Publikum nach Sebastian Ausschau zu halten. Sie sollte eigentlich ebenso wütend auf ihn sein wie auf Max, aber das war sie nicht.
Ja, er hatte sie entführt und die Gelegenheit genutzt, um sie zu verführen. Zum Glück hatte sie nicht mehr von ihm erwartet, denn andernfalls hätte sie eine Enttäuschung erlebt.
Ja, er war verschwunden, und das in einem überaus günstigen Moment - für ihn. Und ja, er hatte sie im Stich gelassen, sodass sie sich allein gegen die Vampire hatte wehren müssen. Aber zumindest war er aufrichtig ihr gegenüber gewesen. Er war kein Mann der Gewalt und würde deshalb nicht kämpfen oder töten. Noch nicht einmal einen Vampir. Außerdem verfügte er nicht über die Fähigkeiten eines Venators, um sich selbst zu schützen.
Deshalb musste er in solch gefährlichen Situationen natürlich Deckung suchen; hätte er das nicht getan, wäre er vermutlich ebenfalls überwältigt worden.
Aber sie hätten ihm nichts angetan, wenn das, was er ihr über Beauregard gesagt hatte, der Wahrheit entsprach. Oder doch?
Vielleicht hätten sie es doch, wenn Beauregard und Nedas tatsächlich Rivalen waren.
Victoria drehte sich der Kopf, und ihr Körper pochte wieder vor Schmerz. Sie konnte die Gedanken nicht bändigen, die in ihr tobten, ihren Verstand lähmten und jedes klare Urteil unmöglich machten.
Der Gesang war lauter und kräftiger geworden, und der süßliche Rauch verteilte sich nicht, sondern schien weiterhin direkt nach oben zu steigen.
Vage registrierte sie, dass er farbig war. Die schwarzen und blauen Schwaden flochten sich ineinander, während sie sich nach oben zu dem Steg schlängelten, um ihr in Nase und Lunge zu kriechen. Victoria unterdrückte ein Husten, hielt sich den Ärmel ihrer Tunika über Nase und Mund und versuchte, die gefilterte Luft einzuatmen; vielleicht hatte sie zu lange damit gewartet, aber zumindest half es, den Geruch abzuwehren.
Wie sollte sie sie bloß aufhalten?
Er kann nicht aufgehalten werden.
Es musste einen Weg geben. Sie brauchte unbedingt einen klaren Kopf.
Victoria atmete tief ein, dann durch gespitzte Lippen langsam und leise wieder aus, um den Rauch von sich wegzupusten, um ihn von dort fortzuscheuchen, wo sie atmete.
Die Bühnenbilder hingen von schweren Holzträgern herab. Sie könnte einen von ihnen lösen und ihn auf die Bühne krachen lassen. Das müsste ihnen wenigstens für den Moment Einhalt gebieten. Vielleicht würde es ihr gelingen, sie zu überrumpeln, indem sie nach unten sprang und einen oder zwei Vampire pfählte. Nedas würde ihr erstes Ziel sein.
Allerdings bestand wenig bis gar keine Aussicht darauf, dass es ihr gelingen würde, den Obelisken zu stehlen, selbst wenn Nedas tot war. Sie wusste nicht, wie lange es dauern würde oder was geschehen musste, um seine Macht auf eine andere Person zu übertragen.
Und... sie hatte ihre vis bulla nicht mehr. Sie konnte nicht einfach nach unten springen, ohne sich dabei zu verletzen; sie könnte von Glück reden, wenn ihr zerschlagener Körper anschließend noch die Kraft hätte, den Pflock in einen normalen, rotäugigen Vampir zu stoßen, aber auf keinen Fall in Liliths Sohn.
Um die Träger, an denen die Kulissenleinwände hingen, waren Seile geschlungen.
Den unentwegten Gesang ausblendend, musterte Victoria die schweren Bühnenbilder, dann bewegte sie sich, während in ihrem Kopf ein Plan heranreifte, behutsam auf das zu, welches genau über der Stelle hing, an der Nedas stand. Vielleicht konnte sie sich mithilfe des Seils nach unten schwingen und sich das Überraschungsmoment zunutze machen. Wenn sie ihr Ziel genau anpeilte, könnte sie auf Nedas landen und ihn erstechen, noch bevor er wusste, wie ihm geschah.
Natürlich wäre sie anschließend auf Gedeih und Verderb den restlichen Vampiren und Tutelas ausgeliefert, und schwach, wie sie war, würde sie ihnen keinen Widerstand leisten können. Somit wäre der Obelisk noch immer für einen anderen nutzbar.
Ihr Verlangen, den Pflock durch Nedas’ Herz zu treiben, ihn zu Asche zerfallen zu sehen, war so übermächtig, dass sie erwog, das Risiko einzugehen. Aber was war mit Max? Er war es, der das Schwert geführt hatte! Er war derjenige, der die Tat begangen hatte.
Er verdiente es ebenfalls zu sterben.
Sie hätte ihn erschießen können, verdammt sollten die Vampire sein.
Ihre Mundwinkel zuckten, als sie sich der Ironie dieses Gedankens bewusst wurde. Dann wurde sie wieder ernst, denn dies war nicht der rechte Zeitpunkt für Witze. Ihre Tante war tot.
Sie könnte Max von hier aus erschießen. Diese Erkenntnis ließ sie die Pistole aus dem Hosenbund ziehen. Sie könnte auf ihn feuern und dann über den Steg flüchten, bevor er überhaupt realisierte, was geschehen war oder von wo aus sie geschossen hatte.
Dann hätte sie wenigstens einen Teil ihrer Rachegelüste befriedigt.
Die Waffe war schwer, so unendlich schwer. Ein Auge zugekniffen, das andere auf Max fokussiert, versuchte sie, seine hochgewachsene Gestalt ins Visier zu nehmen. Doch er stand nie still, sondern bewegte sich mit der Kraft und dem Selbstvertrauen, die ihn für die Venatoren so unersetzlich gemacht hatten.
Er war der Beste unter ihnen gewesen.
Wie hatte er sie alle täuschen können?
Plötzlich schossen Flammen von unten herauf und lenkten Victorias Aufmerksamkeit von ihrem Ziel weg. Schwarz und blau loderten sie in die Höhe und vertrieben die Rauchschwaden aus den fünf kleinen Schalen. In gespenstischen, heißen Feuersäulen stiegen sie hoch in die Luft, eine von ihnen bis knapp unter die Stelle, wo Victoria kauerte. Das war also der Grund, warum Nedas den großen Opernsaal gebraucht hatte.
Der Gesang hielt noch immer an, doch verebbte er zu leiser Hintergrunduntermalung, als Nedas in dem Kreis, den die Feuerschalen bildeten, zu sprechen begann. Er strich dabei anmutig mit gespreizten Fingern durch die Luft, so als versuchte er, sie in Richtung des Obelisken zu drängen, erzeugte auf diese Weise kleine Wölkchen von Bewegung, die die Hitze auf den schmalen Tisch und seine Bürde zutrieben.
Victoria verstand seine Worte nicht, aber sie musste nicht wissen, was er sagte. Sie wusste, was er tat.
Der süßliche Geruch war verschwunden, ersetzt durch die Hitze und das ohrenbetäubende Knistern der Flammen. Max, Regalado und die beiden anderen Vampire standen außerhalb des Kreises und beobachteten das Geschehen.
Victoria sah, wie unter ihr die Flammen anfingen, auf den Obelisken zuzustreben. Umringt von blauen und schwarzen Feuersäulen, die die Farbe des bösen Objekts nachahmten, setzte Nedas seinen Sprechgesang fort, während sich die Flammen immer enger zusammendrängten.
Am Ende verschmolzen die fünf Feuerstränge an der Spitze des Obelisken zu einer einzigen, riesigen Stichflamme, die fast bis zum höchsten Punkt der gewölbten Decke reichte.
Das Feuer tobte, und direkt auf Augenhöhe konnte Victoria sehen, wie das Schwarz und das Blau sich wütenden Schlangen gleich zischend und züngelnd ineinanderwanden, während sie noch aus Metern Entfernung die sengende Hitze auf ihrem Gesicht spürte.
Akvans Obelisk begann zu glühen und zu schwitzen. Grüne und blaue Funken stoben in einem willkürlichen Muster aus ihm hervor. Nedas streckte die Hand aus, um einen zu berühren, dann lachte er, als der Funke nach seinem Finger schnappte. Er intonierte weiter und weiter, und das Feuer loderte heißer und heißer; immer tiefer wurde das grüne und blaue Leuchten des Obelisken. Kleine Tropfen glitzerten auf dem Obsidian, rannen nach unten und fielen zu Boden.
Der ganze Opernsaal wurde von den merkwürdigen blauen und schwarzen Flammen erhellt, die überall seltsam farbige Schatten und Lichtspiele erzeugten. Die Vampire auf den Stühlen hatten aufgehört zu singen und starrten nun in die Flammen, als wollten sie ihre Energie in sich selbst aufsaugen.
Dann veränderten sie sich, und mit der Heftigkeit eines Platzregens ergossen sich große, schwarze Tropfen aus dem Feuer. Immer neue Tropfen strömten den glimmenden Obelisken hinab und verschmolzen mit ihm.
Victoria registrierte unter sich eine plötzliche Bewegung; etwas Ungewöhnliches. Sie sah an dem Feuer, das ihre Aufmerksamkeit gebannt hatte, vorbei nach unten und beobachtete fassungslos, wie Max mit etwas Langem, Glänzendem in der Hand durch die Flammenwand hindurchstürzte.
Er stolperte in den Kreis hinein, sprang wieder auf die Füße und hieb das Schwert in einem weiten Bogen durch den Obsidianturm.
Der Obelisk zischte, dann explodierte er. Die Flammen erloschen, und Nedas’ Zorngebrüll hallte in dem plötzlich stillen Theater wider.