Kapitel 5
Von Balkonen und schwerem
Tadel
Victoria fuhr mit dem Daumen über die
Bronzescheibe. Es konnte kein Zufall sein, dass sie in Sebastians
Lokal eines gefunden hatte und das nächste nun hier... wo Sebastian
sich gerade aufhielt.
Die Lippen nachdenklich zusammengepresst, warf
sie einen letzten Blick zu George, der behaglich in seinem
Lehnsessel schnarchte, dann eilte sie aus der Bibliothek und die
Treppe hinauf.
Tante Eustacia hatte das Amulett betreffend noch
keine Antwort von Wayren erhalten, als Victoria aus London
abgereist war, ihr aber versprochen, sie sofort zu benachrichtigen,
sobald sie etwas erfuhr. Victoria hatte angenommen, dass das
Amulett dem Dämon gehörte, doch das schien nun doch nicht der Fall
zu sein, nachdem es hier auf Claythorne weder Dämonen noch Vampire
gab.
Victoria war so sehr in Gedanken versunken, dass
sie ihn erst bemerkte, als es zu spät war. Er trat nur ein paar
Schritte von ihrem Zimmer entfernt aus einem Alkoven, sodass sie
keine andere Wahl hatte, als stehen zu bleiben.
Wie nachlässig von ihr. Sie hätte damit rechnen
sollen, hätte es wissen müssen.
»Sebastian.« Sie betrachtete seine attraktiven
Züge. Das Licht
ihrer Kerze floss über sein Gesicht und verlieh seinem gewellten
Haar einen goldenen Schimmer. Auf seinen Lippen lag dieses
sinnliche, amüsierte Lächeln, das sie wahlweise ärgerte oder
bezauberte.
»Nun, Lady Rockley. Was für eine Überraschung,
Sie mitten in der Nacht hier im Flur herumwandern zu sehen.«
Sie war nicht in der Stimmung, sich bezaubern zu
lassen. »Ich schätze, mein rüdes Erwachen habe ich Ihnen zu
verdanken?«
Die Belustigung griff auf seine Augen über, als
er leicht den Kopf neigte. »Mr. Starcasset ist in ungestümer Liebe
zu Ihrer liebreizenden Person entbrannt, und ist, wie ich
festgestellt habe, recht handzahm, wenn man ihm genügend Brandy
einflößt.«
Victoria fiel erst jetzt auf, dass sie noch
immer im Flur standen, wo sie, so wenig wahrscheinlich das zu
dieser nachtschlafenden Zeit auch schien, leicht gesehen werden
konnten. Mit einem zornigen Blick marschierte sie an ihm vorbei und
griff nach der Türklinke, und Sebastian folgte ihr auf den
Fersen.
Sobald sie in ihrem Zimmer war, stellte sie die
Kerze auf ihren Frisiertisch, dann drehte sie sich mit vor der
Brust verschränkten Armen zu ihm um und sah ihn an, plötzlich sehr
froh darüber, die Weitsicht besessen zu haben, die Pelerine
überzuziehen. »Sie haben den armen Mann hier
hereingeschickt!«
»Lassen Sie uns nach draußen auf den Balkon
gehen«, schlug er vor. »Ungeachtet der Tatsache, dass Sie verwitwet
sind und man es nicht als übermäßig skandalös empfinden würde, wenn
man Sie mit einem Mann in Ihrem Schlafzimmer anträfe, ist es
wirklich eine wunderschöne Nacht. Abgesehen davon«, fügte er hinzu,
als er an ihr vorbei zu den Glastüren ging, die auf eine kleine
Terrasse hinausführten, »hege ich nicht den Wunsch, im selben
Zimmer mit Ihnen und einem Bett zu sein... es sei denn,
Sie sind bereit, es zu benutzen.« Er machte eine theatralische
Pause. »Sind Sie das?«
Victoria ignorierte den Stachel des Interesses,
der ihr einen warmen Schauder über den Rücken jagte, und drängte
sich an ihm vorbei auf die Terrasse.
»Offensichtlich nicht.« Nachdem er die Türen
hinter ihnen geschlossen hatte, blieb Sebastian vor Victoria
stehen. »Und was Starcasset betrifft... Nun, in Anbetracht der
Situation erkannte ich, dass es wesentlich diskreter wäre, Sie aus
Ihrem Zimmer zu holen, um mit Ihnen zu sprechen, als zu versuchen,
dort selbst einzudringen. Ich hatte den Eindruck, Ihre
Gastfreundschaft könnte etwas... unterkühlt ausfallen.« Der
Mondschein erhellte sein Lächeln. »Und tatsächlich stehe ich nun
hier. Genau an der Stelle, die ich geplant hatte. Und es ist gar
nicht so kalt - ganz im Gegenteil. Ich finde die Luft recht
erfrischend.« Eine zarte Brise strich über die Spitzen seines
zerzausten Haars und über Victorias Wangen. Es war in der Tat eine
herrliche Nacht. Die Rosen und Lilien, die unter ihnen im Garten
blühten, umhüllten den Balkon mit ihrem Duft. Sie atmete tief ein
und roch frische Land- und Nachtluft; sie war durchdringend und
dunkel - so ganz anders als das Mosaik künstlicher Gerüche, das
London und der feinen Gesellschaft anhaftete.
Das silbrige Mondlicht unterstrich Sebastians
attraktive Erscheinung noch, was vermutlich der Grund war, weshalb
er überhaupt vorgeschlagen hatte, auf den Balkon zu gehen;
ungeachtet seiner Bemerkung über das Bett. Die Arme ausgestreckt
und die Hände auf der Brüstung, beobachtete er sie mit einer
Gelassenheit, die sie ärgerte. Das bleiche Licht der Himmelskörper
verwandelte die Spitzen seiner Locken in Silber, während es
gleichzeitig sein Gesicht teilweise verbarg.
Victoria wartete darauf, dass er etwas sagte,
aber das tat er nicht. Schließlich ergriff sie das Wort. »Nachdem
Sie eine solche Mühe auf sich genommen haben, um mich aus meinem
Bett zu zerren, wollen Sie mich doch gewiss nicht länger auf die
Folter spannen.«
»Also hast du London verlassen.« Er sah sie
eindringlich an, so als suchte er nach irgendetwas. »Wie geht es
dir,Victoria?«
Sie wandte den Blick ab. Seine schlichte Frage
war in Wahrheit sehr vielschichtig, doch wusste sie nicht, ob er
jede der Bedeutungen, die in ihr mitschwangen, auch beabsichtigte.
»Warum fragst du? Vielleicht, weil dein Plan, mich Liliths Vampiren
auszuliefern, nicht aufgegangen ist? Weil es dir peinlich ist, dass
du letztes Jahr aus dem Silberkelch geflohen bist und Max und
Phillip sich selbst überlassen hast, sodass sie sich den Vampiren
allein stellen mussten?« Obwohl sie betont ruhig sprach, war der
Zorn in ihrer Stimme nicht zu überhören.
Er hielt den Kopf leicht schräg, sodass seine
Augen im Schatten lagen und sie nicht sehen konnte, was wirklich in
ihnen stand. »Ah. Damit habe ich also die Antwort auf eine meiner
Fragen. Du denkst noch immer das Schlechteste von mir - dass ich so
abscheulich sein könnte, dich in einer Kutsche zu verführen,
während ich dich gleichzeitig den Vampiren ausliefere. Und das
ungeachtet der Tatsache, dass ich dich warnte, als dein Ehemann in
den Silberkelch kam.Trotz der Tatsache, dass ohne meine Hilfe bei
der Beschaffung des Buches des Antwartha Maximilian nun tot sein
und Lilith es mit hoher Wahrscheinlichkeit in ihrem Besitz haben
würde.« Seine Stimme klang kühl und gleichmä ßig, doch gleichzeitig
schwang eine unterschwellige Emotion in ihr mit, die Victoria nicht
genau benennen konnte. Sie war sich nicht sicher, ob sie es
überhaupt wollte.
»Falls ich mich recht entsinne, hättest du
tatenlos zugesehen, wie Max gestorben wäre bei seinem Versuch, das
Buch an sich zu nehmen. Aber ganz unabhängig von diesem winzigen
Detail, was hätte ich sonst denken sollen?«
»Dass ich mich von deinem bildschönen Mund habe
hinrei ßen lassen und dich von diesem Schmerz ablenken wollte, der
dir so deutlich in die Augen geschrieben stand - und dass das
Auftauchen der Vampire ebenso wenig zu meinem Plan gehörte, wie
dich zu entkleiden.«
Nun konnte sie seine Augen sehen, und der
Ausdruck in ihnen ließ einen kleinen Schauder über ihren Rücken
rieseln. »Max zufolge würdest du immer die Gelegenheit ergreifen,
eine Frau zu entkleiden, besonders in einer Kutsche.«
»Ich habe kein Interesse an Maximilians Meinung,
denn das ist alles, was es ist, nur seine Meinung - und vermutlich
nichts als ein Hinweis auf seine eigenen Neigungen, wäre er nicht
so vehement entschlossen, ein Venator zu sein und sonst nichts. Ein
Jäger, ein Henker... ein Mann der Gewalt, der kaum einen Sinn für
etwas anderes - oder jemand anderen - hat. Ich hingegen,
Victoria... Ich bin kein Mann der Gewalt.«
»Eine Tatsache, die durch deine feige Flucht aus
dem Silberkelch letzten Sommer bestätigt wird.«
»Die Trauer hat dich hart gemacht, das tut mir
leid. Ich bedaure den Tod deines Mannes wirklich. Falls es dich
irgendwie tröstet, so möchte ich dir sagen, dass ich annahm,
Maximilian würde mir folgen, als ich mich durch den Hinterausgang
aus dem Lokal schlich.«
»Es ist wirklich sehr erhellend, mitten in der
Nacht auf meinem Balkon die Ereignisse des letzten Sommers Revue
passieren zu lassen, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass du
dir die
Mühe gemacht hast, Mr. Starcasset durch einen Trick in mein
Schlafzimmer zu locken, nur um mir zu zeigen, wie gut du im
Mondschein aussiehst.«
»Du findest, ich sehe gut aus im Mondschein? Was
für ein hübsches Kompliment!«
»Ich möchte dieses Gespräch jetzt beenden, und
es ist ohnehin längst überfällig, dass du dich verabschiedest.« Sie
drehte sich um und ging auf die Türen zu, bereit, sie hinter sich
zu verriegeln, falls er ihr nicht folgen sollte.Wenn er einer Horde
Vampire entkommen konnte, würde er bestimmt auch in der Lage sein,
einen Weg von ihrem Balkon zu finden.
Als er die Finger um ihren Oberarm legte, drehte
sie sich mit raschelnden Seidenröcken abrupt zu ihm um und schlug
sie weg. Es fühlte sich gut an, einem Teil der Anspannung Luft zu
machen, die sich in ihr angestaut hatte. Zwischen ihnen. Ihn wissen
zu lassen, dass sie diejenige war, die die Kontrolle hatte.
»Du trägst noch immer deine vis bulla.« Er trat näher zu ihr, und seine Stiefel
knirschten auf dem Mörtel des geziegelten Balkons.
»Überrascht dich das?« Sie fühlte den Türknauf
hinter sich, aber obwohl sie die Finger um das kühle Messing legte,
machte sie keine Anstalten, ihn zu drehen. Sebastian stand sehr,
sehr nahe vor ihr, aber sie war nicht beunruhigt. Immerhin hatte
sie schon zahllose Vampire und einen Dämon besiegt. Sogar die
Königin der Vampire. Ein sterblicher Mann war keine Gefahr für
sie.
»Ich war davon ausgegangen, dass du nicht nur
London, sondern auch deinen Status als Venator hinter dir gelassen
hättest. Aber vielleicht trägst du die vis
bulla ja nur, um dich vor blind verliebten Verehrern wie Mr.
Starcasset zu schützen.«
»George« - sie benutzte seinen Vornamen
absichtlich - »wäre
nicht blind verliebt, wenn du deine eleganten Finger von dem
ganzen Durcheinander gelassen hättest.«
»Du findest meine Finger also elegant?« Ein
Lächeln blitzte über sein Gesicht. »Gleich zwei Komplimente in
einer Nacht … wie gänzlich unerwartet.«
»Ich habe meinen Status als Venator nicht
aufgegeben.Warum sollte ich das tun?«
Er zuckte nonchalant mit den Schultern. »Ich
dachte, dass du vielleicht beschlossen hättest, dich von all dem
abzuwenden, nachdem Rockley starb. Schließlich hattest du deine
Pflicht erfüllt, und was ist geschehen? Du hast die Liebe deines
Lebens verloren.«
»Mich von all dem abwenden? Die Frage ist nicht,
ob ich das tun würde, sondern wie ich mich vor der Erfüllung meiner
Pflicht drücken könnte. Nachdem ich das Böse, das von den Vampiren
ausgeht, mit eigenen Augen gesehen habe. Wie
könnte ich?«
Sie merkte, dass er noch näher gekommen war. Sie
sah seine langen, dichten Wimpern und die schmale Kuhle seines
Grübchens, das kaum sichtbar war, wenn er, so wie jetzt, nicht
lächelte. »Es gibt immer eine Wahl,Victoria.«
»Ich habe meine getroffen. Ich werde mich nicht
abwenden. Nichts könnte mich jetzt, da Phillip fort ist, noch dazu
bringen.«
»Nichts?« Das Wort hing zwischen ihnen, so als
ob Sebastian die Wahrheit in ihren Augen erkannte und trotzdem
hoffte, sie daraus verbannen zu können. Doch Victoria hielt seinem
Blick trotzig stand.
»Nichts.«
Seine Schultern hoben und senkten sich, als er
tief ein- und dann langsam wieder ausatmete. »Du bist wirklich eine
bewundernswerte Frau, meine Liebe.Vielleicht sogar eine Nummer zu
groß für mich.« Ruhig und gemächlich griff er wieder nach ihr und
schloss die Finger um ihr Handgelenk. »Was ist das, das du die
ganze Zeit über darin verbirgst?«
Wieder entzog sie sich ihm, dieses Mal jedoch
nicht ganz so brüsk. Seine Finger waren überraschend kraftvoll; sie
hatte Mühe, seinen Griff zu brechen. Und dann öffnete sie die Hand,
damit er das glänzende Amulett darin sehen konnte. »Ich bin froh,
dass du fragst. Gehört das hier nicht dir?«
Er nahm es, betrachtete es flüchtig, dann
richtete er den Blick wieder auf sie. Noch immer stand er so nah,
dass sie die vereinzelten goldbraunen Haare am Rand seines
Ärmelaufschlags sehen konnte. »Weißt du, was das ist?«
Sie schüttelte den Kopf, und sein Ausdruck
entspannte sich ein wenig.
»Aha.Warum schreibst du es mir zu, wenn du gar
nicht weißt, was es ist?«
»Ich fand eines im Silberkelch und dann ein
zweites hier. Du bist das einzige Verbindungsglied zwischen beiden
Orten.«
»Und so bist du zu dem Schluss gelangt, dass das
hier meines ist. In diesem Fall werde ich vielleicht beschließen,
mich nicht beleidigt zu fühlen. Du sagst, du hast so eines im
Silberkelch entdeckt? Wann? Wo?«
Sie erklärte es ihm und erwähnte dabei auch,
dass sie dort einen Dämon angetroffen und geköpft hatte.
»Ein Dämon? Zusammen mit einem Vampir?« Er trat
ein Stück von ihr weg und durchbrach damit die Intimität, die seine
Nähe erzeugt hatte. »Nedas geht wirklich kein Risiko ein.«
»Wirst du mir jetzt sagen, was es ist, oder
willst du weiterhin über Dinge sprechen, die ich nicht verstehe -
und gegen die ich daher auch nichts ausrichten kann?«
»Ungeduldig wie immer, nicht wahr?« Ein
flüchtiges Lächeln brachte sein Grübchen zum Vorschein; dann
verschwand es, als seine Miene wieder ernst wurde. »Dieses Amulett
gehört einem Mitglied der Tutela. Weißt du irgendetwas über die
Tutela?«
»Nein.«
»Die Tutela ist ein Geheimbund, und zwar ein
uralter. Jahrhunderte alt, wie ich gehört habe. Sie wurde in Rom
begründet, vermutlich in den Katakomben dort, direkt neben den
Christen, falls du die Ironie erkennen kannst.«
Er stand ihr gegenüber auf dem Balkon, als er
nun aus seinem Mantel schlüpfte und das dunkle Tuch in die
Dunkelheit zu seinen Füßen gleiten ließ. Sein weißes Hemd, das
zugeknöpft aber ohne Krawatte war, fing das Mondlicht ein und
schimmerte leicht in der Finsternis, die ihn umgab. »Oh, keine
Sorge, ich habe nicht vor, über dich herzufallen. Aber dieser
Mantel ist ziemlich beengend, und es ist ja nicht so, als hättest
du mich nicht schon in der Vergangenheit in Hemdsärmeln
gesehen.«
Anstelle des Grinsens, das sie erwartete,
bedachte er sie mit einem Blick, der ihr ein Kribbeln in der
Magengegend bescherte. Als sie nichts erwiderte, fuhr er fort: »Die
Tutela beschützt Vampire.« Lässig knöpfte er die Manschetten seines
Hemds auf. »Sie tut das schon seit Jahrhunderten.«
»Sie beschützen? Wie? Bieten sie ihnen
vielleicht einen Ort, an den die Vampire kommen und mit Sterblichen
zusammen einen trinken können?«, fragte Victoria spitz.
Obwohl seine breiten Schultern und die
dunkleren, muskulösen Arme im Mondschein schimmerten, als er die
Ärmel hochkrempelte, war sein Gesicht wieder von Schatten verhüllt.
Wie machte er das nur - seine körperlichen Vorzüge zur Schau zu
stellen, während er seinen Gesichtsausdruck verborgen hielt?
Oder vielleicht lag es auch nur daran, dass
Victoria nicht anders konnte, als zu bemerken, wie sich das Hemd um
seine Taille schmiegte und jene Schultern nachzeichnete, an denen
sich festzuklammern sie einmal die Gelegenheit gehabt hatte. Und
möglicherweise wollte sie auch gar nicht wissen, was in seinem Kopf
vor sich ging.
»Voilà, und schon versuchst du wieder, mich zu
beleidigen, meine Liebe. Gewiss hat dich deine Tante zu Besserem
erzogen. Nein, ihr Zweck besteht darin, die Vampire mit Sterblichen
zu versorgen, von denen sie sich ernähren. Sie bringen unschuldige
Menschen zu den Untoten, damit diese sich mit ihnen vergnügen und
ihr Blut trinken können. Tagsüber streifen sie umher und schützen
die Interessen und Geheimnisse der Vampire, während diese im Schutz
der Dunkelheit bleiben. Sie tun all das Böse, das die Untoten nicht
selbst verrichten können oder wollen, mit dem Ziel, deren Macht zu
sichern und zu mehren. Die Mitglieder der Tutela sind die Huren der
Untoten.«
»Aber warum? Aus welchem Grund sollte jemand so
etwas tun?«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Trotz allem, was
du erlebt und gesehen hast, bist du noch immer so arglos. Ich weiß
nicht, ob ich mir wünschen sollte, es wäre anders.« Er legte die
Hände wieder um das Geländer in seinem Rücken. »Es gibt Menschen,
die sich nach Unsterblichkeit verzehren. Die Lust empfinden, wenn
ein Untoter von ihnen trinkt. Die glauben, dass, wenn sie die
Vampire schützen, sie selbst im Gegenzug vor dem Übel, das in
unserer Welt lauert, geschützt sind.«
Eine beklemmende Erinnerung durchzuckte sie. An
blutüberströmte, zerfetzte Körper, zerrissen vom Hals bis zu den
Beinen.... an starrende Augen, klaffende Wunden an Kehle und
Brustkorb, an den widerlichen, metallischen Geruch von Blut. An
jenen Anblick, der sich ihr geboten hatte, als sie letzten Sommer
ein einziges Mal zu spät gekommen war, um eine Vampirattacke zu
verhindern, kurz nachdem sie und Phillip geheiratet hatten. Die
Bilder waren noch immer eindringlich genug, um ihr gallige Übelkeit
die Kehle hochkriechen zu lassen.
Victoria konnte nicht begreifen - konnte einfach
nicht fassen -, wie irgendein Mann oder eine Frau solche Kreaturen
beschützen, geschweige denn sich mit ihnen verbrüdern oder mit
ihnen Umgang haben konnte. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie
schließlich, nachdem die Erinnerung verblasst war und sich das
Schweigen lange genug ausgedehnt hatte.
»Victoria, ich habe den Silberkelch benutzt,
damit die Untoten sich dort treffen und in geselliger Laune
Informationen preisgeben. Wie ich dir schon einmal sagte, weiß ich
sie lieber an einem Ort, wo ich sie sehen und ausspionieren kann,
als ihre Pläne betreffend im Dunkeln zu tappen. Ich bin kein
Mitglied der Tutela und war es auch nie. Unabhängig von dem, was
ich sonst vielleicht getan haben mag, hoffe ich, dass du mir
zumindest das glaubst.«
Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, verdammt!
Woher sollte sie wissen, ob sie ihm tatsächlich glauben konnte?
»Stell dich ins Licht, damit ich dich sehen kann.«
»Aber gerne.« Er trat von der Balkonbrüstung
weg, blieb jedoch weder nach einem, zwei oder drei Schritten
stehen, sondern erst, als er die Hände um ihre Oberarme gelegt
hatte und seine Stiefel ihre Pantoffeln berührten. »Victoria.« Sein
französischer Akzent klang in jeder einzelnen Silbe mit und ließ
ihr den Atem stocken.
Er beugte sich zu ihr, und sie schloss
erwartungsvoll die Augen.
Es war schon mehr als ein Jahr her, seit sie zuletzt die Hände
eines Mannes gespürt hatte. Ein ganzes Jahr, in dem sie nicht auf
diese ganz besondere Weise berührt worden war. Sie hatte keinen
Gedanken daran verschwendet, wie sehr es ihr fehlte. Doch jetzt
wurde es ihr klar.
Ein winziges Keuchen entschlüpfte ihr, bevor er
mit dem Mund über ihren streifte, hin und wieder zurück. Ihn so
perfekt mit ihren Lippen verschmelzen ließ, dass sie die Finger um
seine Arme legen wollte.
Dann zog er sich zurück, gab sie frei und
öffnete die Augen. Zum ersten Mal in dieser Nacht sah sie nun das
Begehren in ihnen, und sie wollte weglaufen... wollte ihn an sich
ziehen, um mehr zu bekommen.
Er hatte sich wieder sein gelassenes, charmantes
Selbst übergestülpt. »Denke nicht für einen einzigen Moment, dass
ich nicht mehr wollen würde,Victoria«, sagte er so leichthin, als
versuchte er, es gleichzeitig zu leugnen. »Aber es gibt wichtige
Dinge zu besprechen.«
»Wichtige Dinge?«
Als müsste er eine Benommenheit abschütteln,
drehte er sich um und ging auf dem Balkon auf und ab, wobei er
einen Ärmel, der heruntergerutscht war, wieder hochkrempelte. »Du
hast dieses Amulett im Silberkelch gefunden, und das bedeutet, dass
jemand dort war, der mit der Tutela in Verbindung steht...
vermutlich der Dämon oder der Vampir, die du getötet hast,
vielleicht auch beide. Es sind derzeit keine anderen Vampire in
London, nicht wahr?«
»Ich war während der zwei Wochen vor meiner
Abreise hierher jede Nacht auf Patrouille. Dabei stieß ich auf den
Dämon und den Vampir in den Ruinen des Silberkelchs, außerdem sah
ich noch einen einzelnen Vampir, der mir entwischte... ansonsten
jedoch keine. Lilith ist nicht zurückgekehrt.« Sie musterte ihn
neugierig. »Ich weiß nicht, wo du während des letzten Jahres warst,
Sebastian, aber vielleicht hast du nicht mitbekommen, dass Lilith
sich zusammen mit ihrem Gefolge in ihren Schlupfwinkel in den
Bergen zurückgezogen hat, nachdem es ihr nicht gelungen war, das
Buch des Antwartha an sich zu bringen.«
»Ich habe das durchaus mitbekommen, auch wenn
ich nicht in England war. Ich habe mich, kurz nachdem mir die
Vampire in meinem Lokal einen Besuch abgestattet hatten, aufs
Festland begeben.« Er betrachtete die unter ihnen gelegenen Gärten,
dann wandte er sich wieder zu Victoria um. »Sie suchen nach
Polidori. Und irgendjemand ist hier. Jemand von der Tutela. Dieser
Jemand muss das Amulett fallen gelassen haben. Aber es sind keine
Vampire hier.«
»Nein, das stimmt. Und auch keine Dämonen,
glaube ich.«
»Du kannst also auch Dämonen wittern. Gut.
Polidori wird erleichtert sein, das zu hören.«
»Willst du mir erzählen, warum sie hinter ihm
her sind? Oder soll ich raten?«
Sein einnehmendes Lächeln war wieder da. »Ich
glaube, es dürfte dir nicht schwerfallen, dieses Rätsel zu
lösen.«
»Es muss an seinem Buch liegen. Der Vampyr. Es enthüllt zu viel Wahres über Vampire.
Und aus welchem Grund reist du mit ihm zusammen? Doch bestimmt
nicht, um auf ihn aufzupassen.«
»Nun,Victoria... Versuche nicht, meine
Fähigkeiten in Frage zu stellen; vor allem, da du das ganze
Spektrum meiner Talente gar nicht kennst.« Der letzte Rest
Ernsthaftigkeit schwand aus seinen Zügen, als er fortfuhr:
»Wenngleich nicht mangelnde Begierde
meinerseits der Grund für deine Unkenntnis ist. Jedenfalls ja, ich
habe ihn in Italien kennen gelernt. Byron hatte ihn aus seinen
Diensten entlassen, allerdings nicht, weil er keinen Arzt mehr
brauchte, sondern weil er um sein Leben fürchtete.« Sebastian
seufzte. »Ich werde John die Geschichte erzählen lassen. Er kennt
sämtliche Details. Es ist wohl überflüssig, zu erwähnen, dass ich
nicht mit einer ruhigen, gefahrlosen Wochenendeinladung gerechnet
hatte. Ein Angehöriger der Tutela ist hier. Wer auch immer es ist,
er hat es auf Polidori abgesehen, und ich werde ihn nicht aus den
Augen lassen, bis wir wissen, um wen es sich handelt.«
»Warum reist der Doktor nicht einfach ab?«
»Das ist es, was er das ganze letzte Jahr lang
getan hat - er versuchte, ihnen zu entkommen. Irgendwie müssen sie
wohl herausgefunden haben, dass ich involviert bin; deshalb haben
sie mich im Silberkelch gesucht.« Er stieß sich von der Brüstung
ab. »Aber zumindest ahnt niemand, dass unter uns ein Venator ist.«
Um seine Lippen zuckte es schelmisch. »Polidori wird froh sein, das
zu hören; und solange du hier bist, wird er es nicht eilig haben,
abzureisen. Er ist sicherer hier mit dir als irgendwo sonst.«
»Das ist wahr. Kannst du es einrichten, dass ich
morgen die Gelegenheit bekomme, mit ihm zu sprechen?«
»Selbstverständlich.Wenn du uns in der Früh auf
die Jagd begleitest, werden wir sicherlich ein paar Minuten
ungestört miteinander reden können.«
»Abgemacht.«
Er bewegte sich auf sie zu, und plötzlich wurde
sie sich seiner, ihrer selbst, der Stille und Intimität der Nacht
in höchstem Maße bewusst.Victoria hätte zur Seite treten oder die
Tür öffnen und vor ihm in ihr Zimmer schlüpfen können... Aber sie
tat
es nicht. Während er näher kam, blickte sie ihm unverwandt und mit
klopfendem Herzen ins Gesicht.
»Wenn du mich weiterhin auf diese Weise
ansiehst, Victoria, werde ich dir mit Vergnügen das geben, wonach
es dich verlangt.« Der Unterton in seiner Stimme war rau und
unvertraut. »Immerhin bist du inzwischen keine Unschuld
mehr.«
Sie blieb, wo sie war, fasste nach oben und
streichelte ihm mit den Fingerspitzen sachte über die Wange. Sie
hatte nie zuvor unaufgefordert einen Mann berührt... mit Ausnahme
von Phillip. Sie wollte Sebastians Arme um sich spüren, nicht nur
das zaghafte Streifen seiner Lippen über ihre. Sie wollte ihn
spüren und vergessen. Sie wollte mehr sein
als nur ein Venator, mehr als eine Witwe, mehr als eine
gelangweilte Marquise, die sich beim Teekränzchen über das Wetter
unterhält und darüber, wer sich gerade mit wem vergnügt.
Sebastian gestattete die Berührung für einen
kurzen Moment, dann umfasste er mit vorgespielter Gleichgültigkeit
ihr Handgelenk und hob es an seinen Mund. Ein Kuss darauf und einer
auf die innere Wölbung ihrer Hand brachte Victoria die Erinnerung
an jene Nacht zurück, als er ihren Handschuh abgestreift und
dasselbe getan hatte. Sie hatte diesen Handschuh nie
zurückbekommen.
»Wenn ich nicht zu Polidori gehen müsste, wärst
du jetzt in ernsthaften Schwierigkeiten, meine Liebe.« Er ließ sie
los, dann eilte er, ohne sie noch einmal anzusehen, an ihr vorbei
und durch die Glastüren.