Kapitel 8
Von zerquetschten Zehen,
geschwätzigen Kutschern und steigenden Preisen
Also werden Sie nach
Italien reisen, Lady Rockley?«
»Das werde ich in der Tat, Mr. Starcasset«,
antwortete Victoria. Eigentlich wäre sie zu diesem Zeitpunkt schon
an Bord eines Schiffes gewesen, wäre ihre Abreise von St. Heath’s
Row nicht durch den Besuch der Geschwister Starcasset verzögert
worden. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir; ich habe einfach nicht die
Zeit gefunden, bekannt zu machen, dass ich London verlasse. Aber
meine Reise nach Venedig ist sehr dringend, denn es geht um das
Anwesen meiner Großtante dort.«
»Selbstverständlich. Ich hoffe, dass Sie alles
in bester Ordnung vorfinden werden.« George - sie würde nach der
Episode in ihrem Schlafzimmer nie wieder als Mr. Starcasset oder,
wenn er einmal erbte, als Viscount Claythorne von ihm denken können
- schien über ihre plötzliche Abreise schwer bestürzt zu
sein.
»Victoria, ich hoffe, die Ereignisse auf
Claythorne haben dich nicht erschreckt«, bemerkte Gwendolyn,
während sie vom Salon in das Foyer von St. Heath’s Row trat. Der
Grimasse nach zu urteilen, die über das Gesicht ihres Bruders
huschte, war sie ihm dabei gleichzeitig auf die Zehen getreten.
Wahrscheinlich hat er es verdient, dachte Victoria, denn er war
reichlich übereifrig gewesen und hatte ständig versucht, die
Unterhaltung an
sich zu reißen. »Ich kann mich gar nicht genug für den
entsetzlichen Schrecken entschuldigen, den wir alle durchlebt
haben, Victoria. Sich vorzustellen, dass so etwas auf Claythorne
geschehen konnte!«
»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagteVictoria
beschwichtigend und legte die Hand auf den Arm ihrer
Freundin.
Dank Eustacias funkelndem Goldmedaillon, mit dem
sie die Erinnerungen sämtlicher Anwesender auf Claythorne
ausgelöscht hatte, wusste Gwendolyn nicht einmal mehr die Hälfte
dessen, was sich tatsächlich zugetragen hatte. »Und nun, meine
liebe Gwendolyn, lieber G-, äh, Mr. Starcasset, muss ich mich
leider verabschieden. Meine Kutsche wartet bereits, und auf dem
Schiff, mit dem ich fahren werde, rechnet man jeden Moment mit
meiner Ankunft.« Victoria umarmte Gwendolyn zum Abschied, als ihr
plötzlich bewusst wurde, dass sie die einzige gleichaltrige
Freundin war, die sie hatte. Was nur wieder bewies, wie sehr sich
die andere Seite ihrer Welt von der unterschied, in der Gwendolyn
lebte.
Genau wie es mit Phillip gewesen war.
Wenn sie Eustacias Pendel bei Phillip benutzt
hätte, vielleicht wäre die Geschichte dann anders
ausgegangen.
Victoria wurde abrupt aus ihrer kummervollen
Tagträumerei gerissen, als George sich über ihre behandschuhten
Finger beugte und mit den Lippen darüberstrich.
Er hob das Gesicht, zog ihre Hand nach oben und
trat einen Schritt auf sie zu, sodass nur sie seine Worte hören
konnte. »Ihre Abreise wird meinen Werbungsabsichten einen
ziemlichen Dämpfer versetzen, Lady Rockley.« Er drückte einen Kuss
auf die Unterseite ihrer Finger, dann einen zweiten auf die
Spitzen. »Gute Reise,Victoria, wenn ich so verwegen sein darf, Sie
so zu
nennen... Und falls Sie das Bedürfnis verspüren, würde ich mich
über Korrespondenz während Ihrer Abwesenheit freuen.« Er konnte
nichts dafür, dass sein glattes, knabenhaftes Aussehen ihn eher wie
einen schüchternen Schuljungen als wie einen ernst zu nehmenden
Verehrer wirken ließ. Trotzdem musste sie zugeben, dass er trotz
des breiten Lächelns und der Bestürzung in seinen Augen recht
charmant war. Und ungeachtet der widrigen Umstände fühlte Victoria
sich insgeheim geschmeichelt, wieder die Aufmerksamkeit eines
Mannes zu genießen. Sie war einsam gewesen.
»Ich danke Ihnen, Sir«, erwiderte sie. »Auch
wenn ich für mein Talent im Briefeschreiben nicht gerade berühmt
bin, werde ich versuchen, Sie nicht zu enttäuschen. Und sobald ich
zurück bin, können wir uns dann über Ihre Idee, mir den Hof zu
machen, unterhalten.« Mit einem Lächeln, das, wie sie bemerkte,
koketter war, als sie beabsichtigt hatte, entzog sie ihm die Hand,
bevor sie Filbert zunickte, damit er ihr die Haustür öffnete.
»Auf Wiedersehen, Gwendolyn. Ich werde mich mit
dir in Verbindung setzen, sobald ich zurück bin.«
Victoria sah zu, wie die Geschwister Starcasset
ihre reich verzierte, gut gefederte Kutsche bestiegen, dann öffnete
ihr der große blonde Mann namens Oliver die Tür ihrer
eigenen.
Sobald sie hinter ihr geschlossen war, sank
Victoria auf ihren Platz und stellte fest, dass sie nicht allein
war.
»Sebastian? Verdammt, wie um alles in der Welt
bist du hier reingekommen? Und schon wieder in Hemdsärmeln!«
Er lehnte gemütlich in der Ecke ihr gegenüber.
Sie hatte ihn beim Einsteigen nicht bemerkt, weil sie zu ihrem Sitz
geschaut hatte und er umsichtig genug gewesen war, seine Füße vom
Boden fernzuhalten - wo sie sie sicherlich entdeckt hätte.
Der Mann hatte wirklich ein Talent dafür,
unerwartet aufzutauchen - und dabei auch noch völlig gelassen zu
wirken.
Er hatte die Beine auf der Sitzbank ausgestreckt
und den Kopf gegen die Kutschenwand gelehnt. Sein Hut mit der
gewellten Krempe lag auf seinem Schoß, wo er ihn mit seinen
eleganten Händen festhielt. Die dunkle Jacke hatte er ausgezogen
und an einen Haken über seinen Füßen gehängt. Er lächelte träge,
als sie ihr Kleid ordentlich auf der Sitzbank arrangierte und beim
Anfahren der Kutsche leicht zur Seite schwankte.
»Zumindest ist er nicht so rücksichtslos wie
Barth«, murmelte sie.
»Wer? Ach so, dein neuer Kutscher. Ja, er ist
ein recht gefälliger Bursche, dieser Oliver. Es war nicht
sonderlich schwierig, seinen Namen und seine Herkunft in Erfahrung
zu bringen, während wir uns unterhielten. Und er ließ sich auch
ohne weiteres auf ein Schwätzchen zu dem anderen Kutscher schicken,
während du deinem Verehrer George Lebewohl gesagt hast; ich bin
übrigens sicher, er ist wegen deiner Abreise am Boden zerstört. Und
Olivers tiefschürfende Unterhaltung mit dem Kutscher der
Starcassets gab mir Gelegenheit, mir einen Platz in deiner Kutsche
zu sichern.« Seine Lippen verzogen sich zu einem verschwörerischen
Lächeln, während die Kutsche sanft um eine Ecke bog.
»Gewiss bist du nicht hier, um dich darüber zu
beklagen, dass du nicht um mich werben kannst, während ich in
Italien bin?« Victoria bemühte sich nach Kräften, den Blick von
Sebastians Lippen abzuwenden; sie erinnerte sich nur allzu gut
daran, wie sie sich anfühlten, auch ohne auf seinen Mund zu
starren.
Mit ihm darin wirkte die Kutsche viel kleiner,
als sie tatsächlich war, und wenn sie aufmerksamer gewesen wäre,
anstatt über den unerwarteten Besuch der Starcassets nachzudenken,
hätte sie
gleich beim Einsteigen den scharfen Nelkengeruch in der Luft
bemerkt.
Sie zerbrach sich gar nicht erst den Kopf
darüber, woher er wusste, dass sie im Begriff war nach Italien
aufzubrechen. Da er derjenige war, der Polidoris Notizen gefunden
hatte, hatte er bestimmt eine vage Ahnung, weshalb sie dorthin
reiste, aber sein Zeitplan war wie immer abscheulich perfekt. Es
musste ein Geschenk des Himmels für ihn sein, dass Victoria Verbena
mit dem Großteil ihres Gepäcks und einigen Möbelstücken
vorausgeschickt hatte, um ihre Kabine auf dem Schiff herzurichten,
denn sonst hätte er einen Weg finden müssen, sie loszuwerden. Das
Schlimme daran war, dass es ihm gelungen wäre.
»Werben? Das ist ein ziemlich starkes Wort für
das, was ich im Sinn hatte.«
Er musste seine Position in der Kutsche bewusst
gewählt haben, um sein Gesicht so gut es ging im Dunkeln zu
verbergen. Wieder einmal. Aber sie würde schon dafür sorgen, dass
sie sich irgendwann einmal bei vollem Tageslicht begegneten.
»Was auch immer es ist, das du im Sinn hattest,
es wird auf Eis gelegt werden müssen, während ich weg bin«,
antwortete sie kühl. »Es sei denn, du hattest vor, es jetzt auf der
Fahrt zum Hafen zu Ende zu bringen.«
Ihre spöttische Neckerei überraschte sie selbst
ebenso sehr wie ihn, seinen geweiteten Augen und dem plötzlichen
Grinsen nach zu schließen.
»Na schön.« Er schwang die Füße zu Boden und
setzte sich aufrecht. »Das war zwar nicht der eigentliche Grund,
warum ich mich in deine Kutsche geschlichen habe,Victoria... Aber
wenn du darauf bestehst, bin ich dir nur allzu gern zu
Diensten.«
»Ich versuche nur zu verstehen, weshalb du in
meine Kutsche
eingedrungen bist, obwohl ich heute das Land verlasse. Auf keinen
Fall wollte ich damit sagen, dass ich mich auch darauf einlassen
würde.«
Seine Augen waren nun nicht mehr in der
Dunkelheit verborgen, und sie konnte ihr tiefes Bernstein und das
Interesse, das in ihnen funkelte, erkennen. »Natürlich wolltest du
das nicht,Victoria. Zumindest nicht mit Worten. Der Rest von dir
spricht jedoch eine andere Sprache.Aber leider muss ich dir
mitteilen, dass trotz meiner überaus großen Bereitschaft, dort
weiterzumachen, wo wir letzten Sommer aufgehört haben... in einer
sehr ähnlichen Umgebung«, fügte er mit einer ausholenden
Handbewegung hinzu, »dies nicht der Grund war, aus dem ich in deine
Kutsche eingedrungen bin, wie du das ausdrückst. Ich wollte dir
lediglich keinen Besuch zu Hause abstatten, aus Sorge, gesehen zu
werden -«
»Von wem?«
Er zuckte mit den Schultern und spreizte dabei
die wohl geformten Finger, die wirkten, als hätten sie noch keinen
Tag Arbeit gesehen. »Von irgendwem. Ich weiß nicht, wer oder was da
draußen lauert, deshalb halte ich es für besser, wenn wir weiter so
tun, als würden wir uns nicht kennen.«
»Ich denke, du nimmst das nur als Ausrede, um
weiterhin aus dem Nichts auftauchen zu können.« Victoria sah aus
dem Fenster. »Wir sind fast am Hafen.Wenn es also etwas gibt, das
du mir sagen möchtest, dann wäre jetzt der Moment, um mit den
Ausflüchten aufzuhören und es bitteschön auch zu tun,
Sebastian.«
»Ich liebe es, dich so nett bitten zu hören.
Wenn ich ablehne, wärst du dann vielleicht gewillt, mich
anzuflehen? Nein? Das dachte ich mir schon.« Er lehnte sich wieder
in seinem Sitz zurück. »Ich habe vergessen, dir noch etwas anderes
zu sagen, das
ich über Polidori herausfand, als ich mich um den Tatort kümmerte.
Er trug das Zeichen der Tutela. Er war eines ihrer
Mitglieder.«
»Zeichen?«
»Ein in die Haut geritztes Symbol. Man
bezeichnet es als Tätowierung; es wird mit Tinte eingestochen und
kann nicht entfernt werden. Er hatte auf seinem Oberarm ein
verschnörkeltes T, um das sich eine Schlange windet - das
historische Zeichen der Tutela. Der Hund auf dem Amulett dagegen
symbolisiert die neue Bewegung, die sich gerade in Italien
erhebt.«
»Jetzt verstehe ich. Diese Vampire und Dämonen
waren hinter Polidori her, weil er die Tutela verlassen hatte und
sie befürchteten, er könnte ihre Geheimnisse preisgeben.Vielleicht
wusste er mehr über Akvans Obelisken, als er in seinen Notizen
enthüllt.«
»Das nehme ich auch an.« Er blickte aus dem
Fenster, dann zurück zu ihr. »Als ich damals gebeten wurde, ihm bei
seiner Rückkehr nach England behilflich zu sein, hat man mich nicht
darüber informiert, dass er zur Tutela gehörte. Das fand ich erst
heraus, als ich mich um seinen Leichnam kümmerte.«
»Aber das bedeutet, dass er derjenige sein
könnte, der auf Claythorne das Amulett verloren hat.«
»Das wäre sehr gut möglich... Es sei denn, es
waren noch andere Mitglieder der Tutela anwesend. In diesem Fall
hätten sie jedoch nicht derart Angst vor den Vampiren gehabt. Und
dann ist da noch eine Sache. Ich bin mir zwar nicht sicher, habe
aber den Verdacht, dass Byron ebenfalls einer von ihnen ist.«
»Lord Byron... Ja, das könnte Sinn ergeben.
Byron und Polidori standen sich so nahe, dann sind sie plötzlich
keine Freunde mehr, und Polidori verlässt Italien.«
»Eine Bekanntschaft mit Byron könnte dir helfen,
die Tutela
aufzuspüren, denn das muss der wahre Grund sein, weshalb du nach
Italien reist. Es sei denn, du willst deinen Kollegen Maximilian
besuchen.«
Sie sah ihn eindringlich an. »Weißt du
irgendetwas über Max?«
»Ich weiß eine ganze Menge über den Mann... Was
genau würde dich denn interessieren?«
»Diese Begriffsstutzigkeit steht dir nicht gut
zu Gesicht«, fuhr sie ihn an. Der Geruch von Fisch drang ihr in die
Nase, als sie sich dem Meer näherten, und sie hörte das Kreischen
der Möwen. Tante Eustacia hatte ihnen eine Passage auf einem
Frachter gebucht, der Italien direkt ansteuerte, statt ein
Postschiff zu nehmen, das sie von Dover in die Normandie brachte,
von wo aus sie dann auf dem Landweg weiterreisen müssten. Sie
hoffte, dass sie damit anonym bleiben und während der Überfahrt
nicht von der Tutela verfolgt oder auf andere Weise behindert
werden würden.
»Meine Tante hat schon seit Monaten nichts mehr
von Max gehört. Ich weiß nicht, wie und woher du deine Kenntnisse
bekommst, aber falls du irgendetwas über seinen Verbleib weißt,
wünschte ich, du würdest es mir sagen.«
»Ständig willst du etwas von mir, nicht wahr?«
Dann verlosch der letzte Funken Humor auf seinem Gesicht. »Ich habe
mich schon gefragt, warum nicht er derjenige ist, der sich um das
Problem mit der Tutela kümmert. Ich habe nichts über ihn gehört,
aber das muss nichts heißen. Du fürchtest, er könnte tot
sein?«
»Ich weiß es nicht. Meiner Tante zufolge haben
wir schon seit acht Monaten keine Nachricht mehr von ihm. Ah, wir
sind da«, bemerkte Victoria mit einem Blick aus dem Fenster. »Danke
für deine Informationen, Sebastian. Ich werde deinen Rat befolgen
und mit Byron anfangen, sobald ich Venedig erreiche. Aber du
hättest mir das in einem kurzen Schreiben mitteilen können, anstatt
dir die Mühe zu machen, mich persönlich aufzusuchen.«
Da war es wieder, dieses Lächeln. »Leider fällt
es mir schwer, mir eine Gelegenheit, dich zu sehen, entgehen zu
lassen.«
Sie sah ihn strafend an, dann wandte sie den
Kopf zur Seite. Sie hatte Mühe, dieses intensive Kribbeln in ihrem
Bauch zu ignorieren. »Ich bin sicher, du hast dich während deines
einjährigen, höchst gelegen kommenden Verschwindens vor Sehnsucht
nach mir verzehrt.«
»Nein... Ich habe dir Zeit gegeben zu
trauern.«
Diese schlichten, nüchternen Worte ließen sie
den Blick wieder auf ihn richten. Er schien näher gekommen zu sein;
vielleicht saß er auf der Kante seiner Sitzbank, vielleicht beugte
er sich nach vorne... Oder vielleicht war auch die Kutsche bloß
noch ein Stückchen kleiner geworden.
Er machte nicht den Eindruck, als wartete er auf
eine Erwiderung oder hielte den Atem an, um zu sehen, wie sie
reagieren würde. Er sah sie einfach an, als wollte er ihr Antlitz
in sich aufsaugen. Erschrocken stellte sie fest, dass ihre Finger
zitterten; sie sah nach unten und verschränkte sie im Schoß. »Ein
derartiges Einfühlungsvermögen hätte ich dir gar nicht zugetraut«,
entgegnete sie mit bewusst ruhiger Stimme.
Plötzlich wollte sie gar nicht mehr fort. Es
würde einsam sein in Venedig, mit niemandem als Verbena, Oliver und
natürlich Eustacia zur Gesellschaft; allerdings würde sie nicht mit
ihrer Tante zusammenwohnen, denn sie mussten vorgeben, sich nicht
zu kennen, um zu verhindern, dass die Tutela Victoria als Venator
identifizierte.
Sie traute Sebastian zwar nicht vollständig,
aber trotzdem verband
sie eine Art von Nähe. Zumindest ließ er sie... irgendetwas
empfinden. Bei ihm fühlte sie sich lebendig. Attraktiv.
Und immer wenn er sie so ansah, wie er es jetzt
gerade tat, gab er ihr das Gefühl, dass sie mehr war als eine
Jägerin, eine Kriegerin.
»Ich möchte dich nicht gern enttäuschen, meine
Liebe«, erwiderte er mit trockener Stimme, »aber meine
Nächstenliebe war von eigennützigerer Natur, als du möglicherweise
denkst.«
Die Kutsche hatte schon lange angehalten, und
Victoria spürte das Ruckeln und Schaukeln, als Oliver ihre
restlichen Gepäckstücke ablud. Sie hörte die Rufe, Befehle und
dumpfen Geräusche, als ihre Koffer hochgehoben und nicht gerade
sanft auf den Kai befördert wurden.
Victoria bemerkte den verschlossenen Ausdruck
auf Sebastians Gesicht und überlegte, weshalb er sich wohl
plötzlich wieder in sich zurückzog.Vielleicht war die Intensität
echter Gefühle zu viel für ihn. Sie zog eine Braue hoch und folgte
seinem Beispiel, indem sie antwortete: »Du? Eigennützig? Das kannst
du doch nicht ernst meinen?«
»Aber natürlich. Der Grund war
selbstverständlich der, dass nicht einmal ich eine... Belohnung...
für meine Hilfe und Unterstützung erwarten konnte, solange sich
keine passende Gelegenheit ergab. So wie sie nun durch Polidori und
die derzeitige Situation eingetreten ist.«
Victoria spürte, wie Röte ihre Haut vom
Dekolleté bis zum Hals zu überziehen begann. Sie gebot ihr Einhalt,
indem sie sich auf ihre wachsende Verärgerung konzentrierte. »Du
erwartest eine Belohnung für deine Informationen über
Polidori?«
»War das nicht von jeher unsere
Vereinbarung?«
»Du magst eine solche Vereinbarung getroffen
haben, ich
nicht. Was verlangst du - möchtest du meine vis bulla noch einmal sehen?«
Er bedachte sie mit einem derart wilden Grinsen,
dass es Victoria durch Mark und Bein ging. »Ich habe sie nicht nur
gesehen, sondern auch geküsst, wie du sehr wohl weißt.« Seine
Worte, die Erinnerung, schienen die ganze Luft in der Kutsche
aufzubrauchen. Victorias Handflächen wurden feucht, ihr Gesicht
glühte. Seine Stimme entsprach seinem Grinsen, als er fortfuhr:
»Tatsächlich ist mein Preis gestiegen.«
»Das soll wohl ein Scherz sein.« Sie musste den
Mantel der Empörung um sich legen, um die ambivalenten,
beunruhigenden Gefühle zu kaschieren, die in ihr tobten. Da die
Worte, Argumente, alle Logik ihr den Dienst versagten, fiel ihr
keine bessere Erwiderung ein, als: »Ich begebe mich in Kürze an
Bord eines Schiffes!« Der Satz war durch das Gekreische der Möwen
und die Rufe der Seeleute kaum zu hören.
»Ich nehme gern eine Vorauszahlung entgegen.« Er
hatte während dieser letzten Momente kaum geblinzelt, sondern sie
mit den Augen gefangen gehalten. »In Anbetracht deiner früheren
Bereitwilligkeit sollte dir das nicht allzu viel ausmachen.«
Sie hätte widersprechen, hätte ihm mit dem
gleichen Spott begegnen oder sich beleidigt zeigen können... Aber
sie tat nichts dergleichen. Sie entschloss sich willentlich, es zu
unterlassen und die Dinge stattdessen selbst in die Hand zu nehmen,
so wie sie es sich in anderen Bereichen ihres Lebens zur Gewohnheit
gemacht hatte.
Ihr Atem schien in ihren Lungen anzuschwellen
und sie ganz zu füllen, als sie sich auf ihn zubewegte. Sie lehnte
sich auf ihrer Sitzbank nach vorn, fasste nach seinen Schultern und
schloss die Finger um das feine, schwarze Leinen, das sie
umhüllte.
Er schmeckte nach den Nelken, die auch seine
Kleidung parfümierten, und fühlte sich weich, schlüpfrig,
gefährlich an. Es war kein ungezwungener Kuss, kein sanftes
Aufeinandertreffen von Lippen. Er war weder zärtlich noch
zögerlich. Er war heiß und gierig, die Entladung aufgestauter
Begierde.
Als Victoria wieder zu sich kam und den
Lippenkontakt beendete, war ihr Gesicht nahe an seinem, und ihre
Hände lagen an seinem Hinterkopf. Er sah sie mit seltsamer Miene
an, dann entließ er sie sanft aus seiner Umarmung.
»Für den Anfang wird das zweifellos genügen.«
Trotz seiner leichten Worte flackerte seine Stimme wie eine
Kerzenflamme in einem Bett aus Wachs. »Ich kann es kaum erwarten,
den Restbetrag einzufordern.«
Sie glättete ihm das lohfarbene Haar, das durch
ihre ungestümen Finger noch mehr in Unordnung geraten war. »Da
wirst du dich eine sehr lange Zeit gedulden müssen, Sebastian.«
Damit schlüpfte sie aus der Kutsche.