Kapitel 1
In welchem sich Lady Rockleys Waffe als erschreckend unwirksam erweist
Mehr aus alter Gewohnheit als aus einer Notwendigkeit heraus schloss Victoria die Finger um den Eschenpflock, bevor sie um die Ecke der groben Ziegelmauer spähte.Wie beinahe immer kurz nach Mitternacht, war es dunkel und nasskalt in London, und auf den müllübersäten Straßen jenseits der sicheren Drury Lane gingen einzelne Diebe, Prostituierte und andere zwielichtige Gestalten ihren Geschäften nach.
Unglücklicherweise fanden sich unter besagten dunklen Gestalten keine, die Unheil anrichteten, lange Finger machten oder in irgendwelche Hälse bissen.
Phillips Tod lag nun ein Jahr zurück, und Victoria war zum ersten Mal, seit sie ihre vis bulla abgelegt hatte, wieder auf den Straßen unterwegs, um Vampire zu jagen. Sie hatte die letzten zwölf Monate damit verbracht, ihre Kampftechniken zu verfeinern und zu lernen, wie sie den Zorn und die Trauer kontrollieren konnte, die sie beinahe dazu gebracht hätten, diesen Mann in St. Giles zu töten. Sie wollte sichergehen, dass sie bereit war, diese Emotionen zu zügeln, bevor sie ihr Stärkeamulett wieder anlegte. Das Silberkreuz tanzte bei jedem Schritt an ihrem Nabel, und Victoria fühlte sich wieder ganz. Sie war bereit.
Aus diesem Grund war sie nun spät in der Nacht auf den Stra ßen unterwegs, den Pflock in der einen Hand, die Pistole in der anderen. Auf der Suche nach einer Aufgabe. Nach jemandem, den sie retten konnte.
Sie würde niemals mehr aufhören, nach jemandem Ausschau zu halten, den sie retten könnte.
Victoria schüttelte unwillkürlich den Kopf, um die Erinnerung und das Schuldbewusstsein, die unentwegt an ihren Nerven nagten, zu vertreiben. Sie schürfte sich die Schläfe an dem Backstein auf, sodass kleine Mörtelsteinchen zu Boden fielen und ein dumpfer Schmerz über ihre Haut kroch. Sie wandte ihre Gedanken wieder der Gegenwart zu. Barth würde in Kürze mit seiner Droschke eintreffen, um sie abzuholen und zu dem grausam stillen Anwesen der Rockleys, bekannt als St. Heath’s Row, zurückzubringen, wo sie bis zur Ankunft des neuen Marquis’, der irgendwo in Amerika war und bislang nicht ausfindig gemacht werden konnte, weiter wohnen würde.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, als die fragliche Droschke bereits um die Ecke rumpelte und anschließend etwas langsamer als sonst zum Stehen kam. Es lag nicht daran, dass Barths Fahrkünste besser geworden wären, sondern dass er die Straßen auf der Suche nach Victoria durchkämmt hatte.
Beim Einsteigen traf sie eine Entscheidung, die sie seit einer Woche vor sich herschob. »Barth, ich bin noch nicht bereit, nach Hause zu fahren... Bring mich nach St. Giles. Zum Silberkelch.«
Bevor er protestieren konnte, schloss sie rasch die Tür.
Es gab eine kurze Verzögerung, so als erwäge er, zu widersprechen, aber dann hörte sie, wie er den Pferden zuschnalzte, bevor die Droschke in einem derart flotten Tempo anfuhr, dass Victoria zur Seite taumelte. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und versuchte, nicht an ihren letzten Besuch im Silberkelch zu denken. Mehr als ein Jahr war das nun her.
Mitternacht war längst verstrichen, und die Straßen von St. Giles waren wie ausgestorben. Nur wenige sehr dumme oder sehr mutige Menschen wagten sich im relativen Schutz des helllichten Tages in diesen Teil Londons; bei Nacht waren es noch weniger. Während sie über die St. Martins Lane holperten und jene sieben kreuzenden Straßen überquerten, die man The Dials nannte, richtete Victoria den Blick auf eine von ihnen. Sie hatte die Great St. Andrews Street nicht vergessen und auch nicht den Häuserblock, wo sie beinahe diesen Mann getötet hätte. Sie würde ihn im Schlaf wiederfinden, denn auch wenn sie sich nicht an das tatsächliche Ereignis mit all seinen schrecklichen Details erinnerte, hatte sich doch der Ort selbst unauslöschlich in ihr Gehirn eingebrannt.
Vielleicht würde sie eines Tages zurückkehren.
Mehrere Straßen weiter hielt die Droschke an, sodass Victoria aus ihrer unbehaglichen Gedankenversunkenheit gerissen wurde. In Erwartung des Rucks hatte sie vorsorglich schon die Hand ausgestreckt, um sich abzufangen. Sie nahm die kleine Laterne von der Innenwand, dann schlüpfte sie aus der Kutsche und in die Nacht hinaus, bevor Barth sie ansprechen oder ihr folgen konnte.
Auf lautlosen Sohlen lief sie über das Kopfsteinpflaster, wich dabei Bergen von Abfall aus und stieg über die kleinen Pfützen, die der frühe Abendregen hinterlassen hatte. Der Gestank machte ihr inzwischen nichts mehr aus; ebenso wenig wie die Augen, die sie aus den Schatten beobachteten.
Sollten sie doch kommen. Sie war bereit für einen Kampf.
Sie überquerte die Straße, dann folgte sie deren Verlauf, den Kopf hoch erhoben, die Hand auf ihrer Pistole, die Beine ihrer Männerhose leicht gegeneinander reibend, während der Laternenschein durch ihren Schatten schnitt. Eine Sommerbrise trug ihrem Bewusstsein die Gerüche von verwesenden Kadavern und tierischen Ausscheidungen zu, dann wehte sie sie mit sich fort. Unter dem Biberhut, den sie trug, kühlte ihr Nacken ein wenig ab, aber das lag eher am Wind; es war kein Hinweis auf eine sich nähernde Gefahr.
Victoria stand vor den Überresten dessen, was einst der Eingang zum Silberkelch gewesen war. Sie hatte diesen Ort nicht mehr aufgesucht, seit sie in jener Nacht auf der Suche nach Phillip hergekommen und stattdessen auf die schwelenden Ruinen eines Lokals gestoßen war, in dem zuvor Vampire und Sterbliche gleichermaßen bedient worden waren.
Bildete sie es sich nur ein, oder hing noch immer der Geruch von Asche in der Luft? Es konnte nicht sein, nach all diesen Monaten -
Die Kälte in ihrem Nacken war zurückgekehrt.
Sie verharrte mit angehaltenem Atem, um zu lauschen. Um zu fühlen.
Ja, sie war da; diese Vorwarnung, die ihr die Nackenhärchen aufstellte und die sie seit zwölf Monaten nicht mehr wahrgenommen hatte, war real: Es befand sich ein Vampir in der Nähe. Dort unten.
Von der Erwartung vorwärtsgedrängt, kletterte Victoria über die klapprigen Überreste des Türrahmens, dann lief sie die Treppe hinunter in die höhlenartige Kammer. Sie tastete sich mit der linken Hand an der Mauer entlang, während die rechte die Laterne hielt, deren Schein die Holz- und Steintrümmer auf den Stufen beleuchtete. Wenn es ihr möglich gewesen wäre, sich ohne das Licht heranzupirschen, sie hätte es getan; aber im Dunkeln zu sehen, gehörte nicht zu den besonderen Fähigkeiten eines Venators. Ein Teil des Überraschungsmoments würde dadurch verloren gehen, doch das war immer noch besser, als zu versuchen, sich ihren Weg durch das Chaos leise und in der Finsternis zu bahnen.
Wie durch ein Wunder war die Decke nicht vollständig über der Treppe eingebrochen, sodass Victoria bald die unterste Stufe erreichte. Sie blieb stehen und hielt die Laterne hinter sich, um das Licht etwas zu dämpfen. Dann linste sie um die Ecke in den dunklen, ausgebrannten Keller.
In das, was von Sebastians Lokal noch übrig war.
Obwohl ihr Nacken noch immer kribbelte und damit ihren Instinkt bestätigte, spürte oder hörte sie keinerlei Bewegung. Sie hielt ihren Körper ganz still, mit Ausnahme der Finger, die sie in die tiefe Tasche ihres Mantels gleiten ließ.
Der Pflock fühlte sich gut an in ihrer Hand, aber sie zog ihn nicht hervor. Noch nicht. Sie umfasste das Holz, das von ihrem Körper erwärmt war, mit festem Griff, dann wartete sie, mit allen Sinnen lauschend.
Die Kälte in ihrem Genick intensivierte sich, und sie spürte die Nähe des Vampirs, zusammen mit der berauschenden Erwartung eines bevorstehenden Kampfes. Ihr Herz schlug schneller; ihre Nasenflügel bebten, so als witterten sie die Präsenz eines Untoten.
Sobald sie sicher sein konnte, dass sie allein war in dem Raum, brachte Victoria die Laterne nach vorn. Als sie sie herumschwenkte, bot sich ihr dasselbe Bild der Zerstörung wie Monate zuvor; nur dass ihre Wahrnehmung dieses Mal nicht vor Angst und böser Vorahnung wie gelähmt war. Jetzt bemerkte sie die schwarz verkohlten Deckenbalken, die zerschmetterten Tische, das zerbrochene Glas... Möglicherweise hing sogar der schwache Geruch von Blut in der Luft.
Der Schein der Laterne flackerte über die Wände, als sie über einen zertrümmerten Stuhl stieg, und unter ihren Füßen knirschte das Glas wie Kies. Sie bahnte sich ihren Weg bis zu der innersten, dunkelsten Mauer, die unter einem abgesackten Teil der Decke verborgen war. Die stärker werdende Empfindung in ihrem Nacken verriet ihr, dass sie sich in die richtige Richtung bewegte.
Sebastian Vioget war in derselben Nacht verschwunden, als im Silberkelch das Feuer gewütet hatte. Max war in jener Nacht ebenfalls hier gewesen, und er hatte Victoria später erklärt, dass er nicht wisse, ob Sebastian den Flammen entkommen sei; ganz offensichtlich hatte es ihn nicht im Mindesten interessiert, was mit dem Mann geschehen war.
Victoria wusste, dass es sie ebenso wenig kümmern sollte … Aber sie hatte den Franzosen mit dem bronzefarbenen Haar, der Vampire in seiner Schänke willkommen hieß, nie vergessen können. Er hatte Victoria gegenüber einmal behauptet, dass es besser sei, die Untoten zu kennen. Seiner Ansicht nach war es ratsam, ihnen einen Rückzugsort zu bieten, wo sie Ruhe finden konnten - einen Ort, an dem sich ihre Zungen lockerten und Informationen ausgetauscht wurden …
Sie entdeckte die Geheimtür, durch die Sebastian sie in der Nacht ihrer ersten Begegnung geführt hatte. Eingelassen zwischen den Steinmauern und unter einer niedrigen Decke verborgen, war sie nur schwer auszumachen. Nun stand die Tür, die von schwarzen Rußstreifen verunziert war, offen.
Die Kälte in ihrem Nacken wurde schneidend.
Victoria stellte die Laterne vor dem Durchgang ab, dann zwängte sie sich hindurch. Sie fühlte das Gewicht der Pistole - die natürlich gegen Vampire nutzlos, aber für andere Zwecke hilfreich war - in ihrer Tasche, als sie gegen eine Steinwand schrammte. Sobald sie in dem dunklen, engen Korridor stand, konnte sie nicht anders, als sich zu erinnern, wie sie hier mit Sebastian gestanden hatte, hinter ihr die klamme Mauer; er war ihr viel näher gewesen, als die Schicklichkeit erlaubte, bevor er dann die Hand ausgestreckt hatte, um ihr den Hut ihrer Männerverkleidung vom Kopf zu wischen.
Bei dieser Gelegenheit hatte er sie nicht geküsst.
Victoria lief eilig, so als wollte sie die Gedanken hinter sich zurücklassen, den schwach beleuchteten Gang hinunter, bis sie den kleinen Raum zur Linken erreichte, der Sebastian als Arbeitszimmer und Salon gedient hatte.
Er, sie oder es... war in diesem Zimmer.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem erbitterten Lächeln, und die Erwartung ließ ihren Puls hochschnellen. Seit Monaten wartete sie auf diesen Moment.
Die Tür war angelehnt, sodass sie einen Blick in den Raum erhaschen konnte. Er war von innen beleuchtet; nur eine große Laterne würde den Salon ausreichend erhellen, sodass sie von ihrem Standpunkt aus das komplizierte Muster des Brokats auf dem Sofa erkennen konnte. Interessant, dass ein Vampir eine Laterne benutzen sollte.
Nach dem zu urteilen, was sie von dem Zimmer sah, war es vom Feuer verschont geblieben, abgesehen von einem schwachen Rauchgeruch, der vermutlich in den Polstern des Sofas und der Sessel haften geblieben war. Es gab keinerlei Anzeichen von Verwüstung... Die Bücher standen noch immer in den Regalen, die Kissen waren perfekt auf den Möbeln arrangiert... Selbst das Silbertablett mit den Kognak- und Sherryflaschen befand sich noch auf der gegenüberliegenden Seite des Salons.
Das Einzige, was fehl am Platz wirkte, waren die beiden Gestalten, die sich über Sebastians Schreibtisch beugten. Denn mindestens einer von ihnen war ein Vampir.
Victoria zog den Pflock aus der Tasche, versteckte ihn in den Falten ihrer Jacke und trat ein.
»Guten Abend, Gentlemen«, sagte sie, als sie sich umdrehten. »Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?«
Ihr Jahr der Trauer hatte sie ein wenig langsam gemacht.
Einer der beiden war bei ihr, noch bevor sie es erwartete, seine Augen blutrot, die Fangzähne blitzend.Victoria sprang nach hinten, fühlte die Wand in ihrem Rücken und wich zur Seite aus. Er kam ihr nach, und sie stolperte über ein Stuhlbein, sodass sie um ein Haar zu Boden stürzte. Dieses Missgeschick machte sie umso entschlossener, und mit der Geschmeidigkeit eines viel getragenen Handschuhs strömten all die Fertigkeiten, die Kritanu ihr beigebracht hatte, in ihre Muskeln zurück.
Als Victoria ihre Balance wiedergefunden hatte, streckte der Vampir den Arm nach ihr aus und verschaffte ihrem Pflock damit unbeabsichtigt Zugang zu seiner Brust.Victoria stieß ihn hinein, fühlte das vertraute Plopp und trat zurück, als er zu Staub zerfiel.
Mit angehaltenem Atem sah sie zu dem anderen Mann, der sich nicht gerührt hatte. Er beobachtete sie mit funkelnden, schwarzen Augen und dem Anflug eines Grinsens, dann rückte er seine Jacke zurecht.
»Sie sind gut vorbereitet, stimmt’s?« Er kam gelassen um den Schreibtisch herum auf sie zu. Nicht bedrohlich, nicht bedroht. »Was tun Sie hier?« Victoria wollte ein paar Antworten, bevor sie ihn ebenfalls pfählte. Es konnte kein Zufall sein, dass die beiden ausgerechnet diese Nacht gewählt hatten, um Sebastians ehemaligem Lokal einen Besuch abzustatten; und der Menge an Staub sowie der Ordnung in dem Zimmer nach zu urteilen, war dies das erste Mal, dass jemand hier eindrang.
»Reine Neugier.« Er stand so, dass das Sofa zwischen ihnen war. »Das ist also alles, was von dem berüchtigten Silberkelch noch übrig ist; es hat mich interessiert, Sebastian Viogets Schänke mit eigenen Augen zu sehen.«
Seine Fangzähne waren nicht ausgefahren; seine Iris blieb ungewöhnlich dunkel.
»Kennen Sie ihn?«
Der Vampir, der nicht größer war als die meisten Männer Londons, trug sein unscheinbar braunes Haar nach hinten gekämmt. Die Nase, die ein bisschen zu groß war, als dass sein Gesicht hätte attraktiv wirken können, war an der Spitze gerundet wie eine Knoblauchknolle. Die Brauen bildeten gerade, dünne Streifen über den Augen. Er schüttelte als Antwort auf ihre Frage den Kopf. »Ich bedaure, aber ich hatte nicht das Vergnügen, Monsieur Vioget kennen zu lernen. Und nach allem, was ich gehört habe, bin ich mir keineswegs sicher, dass ich noch Gelegenheit haben werde, das nachzuholen.«
»Ich habe seit Monaten keinen Vampir mehr in London gesehen.« Victoria ließ ihn nicht aus den Augen. »Seit Lilith zusammen mit ihren Anhängern das Weite gesucht hat. Hat sie Sie geschickt, damit Sie feststellen, ob es für sie sicher wäre zurückzukehren?«
Er musterte sie einen Moment lang, dann dämmerte Erkenntnis in seinen schwarzen Augen. Nicht rot, noch nicht. Sie waren vollkommen normal. Er unterschied sich durch nichts als seine schlecht sitzende Kleidung von einem durchschnittlichen englischen Gentleman. »Sie sind der weibliche Venator.«
Victoria nickte.
Er blickte sie nachdenklich, mit schmalen Augen an. »Was für ein gelungener Streich es doch wäre, wenn ich Sie zu Nedas brächte. Er würde mich großzügig entlohnen.«
Freudige Erwartung durchzuckte sie. »Warum versuchen Sie es nicht? Ich bin sicher, dass, wer auch immer Nedas ist, er Ihren Märtyrertod zu schätzen wüsste.«
»Ich bin nicht ganz so unbedacht wie mein lieber verschiedener Gefährte«, erwiderte er. »Dafür bin ich umso stärker und schneller.«
Und schon war er bei ihr, mit einem Satz direkt neben ihr, und griff nach ihrem Hals. Victoria wollte ausweichen, aber er packte sie am Arm, und er war tatsächlich sehr kräftig.
Gebannt von seinen nun glimmend roten Augen, versuchte sie ihn abzuschütteln; dann fühlte sie das Sofa an ihren Beinen. Sie täuschte vor zu stolpern, sprang zur Seite und versetzte ihm einen Stoß, sodass er aus dem Gleichgewicht geriet. Ohne ihr die Chance zu geben, auch nur Luft zu holen, folgte er ihr auf den Fersen; doch dann drehte sie sich blitzschnell wieder um.
Sie hob den Pflock auf Schulterhöhe und sah den Vampir an, bereit ihm die Waffe ins Herz zu stoßen, als sie plötzlich zurücktaumelte. Phillip.
Es war Phillip.
Ihr kam es vor, als würde ihr Körper zu Eis. Dann zu Feuer. Der Pflock fiel ihr aus den tauben Fingern, doch ihr Schrei wurde erstickt, als der Vampir sie zur Seite stieß, sodass sie zu Boden stürzte.
Victoria lag auf dem Teppich, atmete Staub und Fusseln in ihre panischen Lungen, und starrte zu der Gestalt hoch.Wie war das möglich?
Aber es war nicht Phillip, der da über ihr aufragte. Es war derselbe unscheinbare Mann wie zuvor, nur dass seine Augen jetzt glühten und sein Mund ein grimmiger Strich war.
Sie tastete nach ihrem Pflock... Gewiss war er auf dem Teppich nicht weit gerollt. Als die Kreatur sich auf sie stürzte, drehte Victoria sich zur Seite und saß damit zwischen dem Vampir und der Ecke des Sofas in der Falle. Sie fühlte etwas unter ihrer Hüfte, etwas Rundes, Hartes, Langes; unvermittelt warf sie sich nach links auf seine Füße zu und grabschte nach dem Pflock.
Die Wucht ihrer Bewegung brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und sie sprang mit dem Pflock in der Hand auf. Sich das Kraftmoment ihrer Beine zunutze machend, kreiselte sie um die eigene Achse, dann verlagerte sie das Gewicht und stieß ihm den Pflock mitten in die Brust. Sie zog ihn wieder heraus und trat zurück, um zuzusehen, wie er zerfiel.
Nichts geschah.
Stattdessen kam er erneut auf sie zu, die Zähne zu einem Furcht einflößenden, tödlichen Grinsen gebleckt.
Völlig außer sich taumelte Victoria nach hinten und strauchelte dabei über eine umgeschlagene Ecke des dicken Perserteppichs. Sie stürzte zu Boden und schlug sich beim Fallen den Kopf an der Wand an; dann stierte sie voller Entsetzen zu dem rotäugigen Mann hoch.
Er näherte sich ihr mit langsamen Schritten, während Victoria noch immer zu begreifen versuchte, dass sie auf ihn eingestochen, ihren Pflock in seiner Brust versenkt hatte, und nichts passiert war. Er hatte weder geblutet, noch war er zu einem Aschehäuflein geworden... Er griff einfach von Neuem an.
Während sie ihn gegen die Wand gekauert beobachtete - den Pflock gezückt, um einen weiteren Versuch zu wagen -, wandte er ihr wieder das Gesicht zu.
»Phillip?«, wisperte sie.
»Venator.« Er beugte sich geschmeidig zu ihr herunter. »Komm jetzt... ganz ruhig... Ich werde dir nicht wehtun.«
»Nein!« Mit aller Kraft stieß sie den Pflock nach oben.
Sie stoppte ihn, pfählte seinen Körper auf das Eschenholz, aber er zersetzte sich nicht. Seine Bewegungen wurden langsamer... Doch er starb nicht. Mit einem Schrei der Verzweiflung und des Entsetzens benutzte sie den Pflock und ihre Hand, um ihn wegzustoßen. Der Pflock kam frei, und sie sprang mit einem Satz auf die Füße.
Sie brauchte eine andere Waffe. Die Pistole in ihrer Tasche … Sie zog sie heraus und richtete sie auf die Kreatur, dann betätigte sie den Abzug. Mit einem heftigen Rückstoß löste sich die Kugel und durchschlug die Brust ihres Angreifers.
Der konzentrierte Teil ihres Selbst war nicht überrascht, als er kaum innehielt... sich wieder hochrappelte und erneut auf sie zukam.
Victoria warf sich rücklings über das Sofa und suchte verzweifelt nach irgendetwas, das sie als Waffe benutzen konnte … aber was?
Er war so schnell, so kräftig... Sie hatte keine Chance.
Er jagte hinter ihr her, war auf ihr, und sie wälzten sich auf dem Boden, krachten gegen Möbelstücke. Das scharfkantige Silbertablett mit dem Kognak und dem Sherry polterte herunter, und die penetrant riechenden Spirituosen ergossen sich auf den Teppich.
Von Panik und Schock umnebelt, tastete sich Victorias Geist durch ein Wirrwarr von Möglichkeiten, von Gedanken, die um ihren Überlebenswillen und den Zorn darüber, überrumpelt worden zu sein, kreisten. Sie fühlte das schwere Tablett hinter sich und legte die Finger um seinen scharfen Rand. Ohne sich ganz sicher zu sein, was sie da eigentlich tat, riss Victoria es hoch und nach vorn, dann schlug sie es dem Mann, der sich gerade wieder zu ihr beugte, gegen den Kopf.
Er wankte, verlor den Halt, und sie sprang, noch immer das Tablett im Griff, auf die Füße. Die Hände aufs Sofa gestützt, fand er sein Gleichgewicht wieder. Dann drehte er sich zu ihr um, die Augen flammend rot, der Mund grimmig. Victoria sprach ein Gebet, dann rammte sie das Tablett mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung in und durch seinen Hals und schlug ihm mit diesem einen mächtigen Hieb den Kopf ab.
Seine Augen rollten nach hinten, sein Kopf polterte zu Boden, und Victoria blieb auf das Schlimmste gefasst abwartend stehen, zitterte und keuchte dabei, als ob sie gegen zehn Vampire gekämpft hätte.
Während sie zusah, veränderte sich das Gesicht… Es schrumpfte und fiel in sich zusammen, wurde ledrig braun mit eingesunkenen Augen und runzligen Lippen, dann pechschwarz... bevor es schließlich im Fußboden verschwand.