Kapitel 1
In welchem sich Lady Rockleys
Waffe als erschreckend unwirksam erweist
Mehr aus alter Gewohnheit als aus einer
Notwendigkeit heraus schloss Victoria die Finger um den
Eschenpflock, bevor sie um die Ecke der groben Ziegelmauer
spähte.Wie beinahe immer kurz nach Mitternacht, war es dunkel und
nasskalt in London, und auf den müllübersäten Straßen jenseits der
sicheren Drury Lane gingen einzelne Diebe, Prostituierte und andere
zwielichtige Gestalten ihren Geschäften nach.
Unglücklicherweise fanden sich unter besagten
dunklen Gestalten keine, die Unheil anrichteten, lange Finger
machten oder in irgendwelche Hälse bissen.
Phillips Tod lag nun ein Jahr zurück, und
Victoria war zum ersten Mal, seit sie ihre vis
bulla abgelegt hatte, wieder auf den Straßen unterwegs, um
Vampire zu jagen. Sie hatte die letzten zwölf Monate damit
verbracht, ihre Kampftechniken zu verfeinern und zu lernen, wie sie
den Zorn und die Trauer kontrollieren konnte, die sie beinahe dazu
gebracht hätten, diesen Mann in St. Giles zu töten. Sie wollte
sichergehen, dass sie bereit war, diese Emotionen zu zügeln, bevor
sie ihr Stärkeamulett wieder anlegte. Das Silberkreuz tanzte bei
jedem Schritt an ihrem Nabel, und Victoria fühlte sich wieder ganz.
Sie war bereit.
Aus diesem Grund war sie nun spät in der Nacht
auf den Stra
ßen unterwegs, den Pflock in der einen Hand, die Pistole in der
anderen. Auf der Suche nach einer Aufgabe. Nach jemandem, den sie
retten konnte.
Sie würde niemals mehr aufhören, nach jemandem
Ausschau zu halten, den sie retten könnte.
Victoria schüttelte unwillkürlich den Kopf, um
die Erinnerung und das Schuldbewusstsein, die unentwegt an ihren
Nerven nagten, zu vertreiben. Sie schürfte sich die Schläfe an dem
Backstein auf, sodass kleine Mörtelsteinchen zu Boden fielen und
ein dumpfer Schmerz über ihre Haut kroch. Sie wandte ihre Gedanken
wieder der Gegenwart zu. Barth würde in Kürze mit seiner Droschke
eintreffen, um sie abzuholen und zu dem grausam stillen Anwesen der
Rockleys, bekannt als St. Heath’s Row, zurückzubringen, wo sie bis
zur Ankunft des neuen Marquis’, der irgendwo in Amerika war und
bislang nicht ausfindig gemacht werden konnte, weiter wohnen
würde.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, als
die fragliche Droschke bereits um die Ecke rumpelte und
anschließend etwas langsamer als sonst zum Stehen kam. Es lag nicht
daran, dass Barths Fahrkünste besser geworden wären, sondern dass
er die Straßen auf der Suche nach Victoria durchkämmt hatte.
Beim Einsteigen traf sie eine Entscheidung, die
sie seit einer Woche vor sich herschob. »Barth, ich bin noch nicht
bereit, nach Hause zu fahren... Bring mich nach St. Giles. Zum
Silberkelch.«
Bevor er protestieren konnte, schloss sie rasch
die Tür.
Es gab eine kurze Verzögerung, so als erwäge er,
zu widersprechen, aber dann hörte sie, wie er den Pferden
zuschnalzte, bevor die Droschke in einem derart flotten Tempo
anfuhr, dass Victoria zur Seite taumelte. Sie lehnte sich in ihrem
Sitz zurück und versuchte,
nicht an ihren letzten Besuch im Silberkelch zu denken. Mehr als
ein Jahr war das nun her.
Mitternacht war längst verstrichen, und die
Straßen von St. Giles waren wie ausgestorben. Nur wenige sehr dumme
oder sehr mutige Menschen wagten sich im relativen Schutz des
helllichten Tages in diesen Teil Londons; bei Nacht waren es noch
weniger. Während sie über die St. Martins Lane holperten und jene
sieben kreuzenden Straßen überquerten, die man The Dials nannte,
richtete Victoria den Blick auf eine von ihnen. Sie hatte die Great
St. Andrews Street nicht vergessen und auch nicht den Häuserblock,
wo sie beinahe diesen Mann getötet hätte. Sie würde ihn im Schlaf
wiederfinden, denn auch wenn sie sich nicht an das tatsächliche
Ereignis mit all seinen schrecklichen Details erinnerte, hatte sich
doch der Ort selbst unauslöschlich in ihr Gehirn eingebrannt.
Vielleicht würde sie eines Tages
zurückkehren.
Mehrere Straßen weiter hielt die Droschke an,
sodass Victoria aus ihrer unbehaglichen Gedankenversunkenheit
gerissen wurde. In Erwartung des Rucks hatte sie vorsorglich schon
die Hand ausgestreckt, um sich abzufangen. Sie nahm die kleine
Laterne von der Innenwand, dann schlüpfte sie aus der Kutsche und
in die Nacht hinaus, bevor Barth sie ansprechen oder ihr folgen
konnte.
Auf lautlosen Sohlen lief sie über das
Kopfsteinpflaster, wich dabei Bergen von Abfall aus und stieg über
die kleinen Pfützen, die der frühe Abendregen hinterlassen hatte.
Der Gestank machte ihr inzwischen nichts mehr aus; ebenso wenig wie
die Augen, die sie aus den Schatten beobachteten.
Sollten sie doch kommen. Sie war bereit für
einen Kampf.
Sie überquerte die Straße, dann folgte sie deren
Verlauf, den
Kopf hoch erhoben, die Hand auf ihrer Pistole, die Beine ihrer
Männerhose leicht gegeneinander reibend, während der Laternenschein
durch ihren Schatten schnitt. Eine Sommerbrise trug ihrem
Bewusstsein die Gerüche von verwesenden Kadavern und tierischen
Ausscheidungen zu, dann wehte sie sie mit sich fort. Unter dem
Biberhut, den sie trug, kühlte ihr Nacken ein wenig ab, aber das
lag eher am Wind; es war kein Hinweis auf eine sich nähernde
Gefahr.
Victoria stand vor den Überresten dessen, was
einst der Eingang zum Silberkelch gewesen war. Sie hatte diesen Ort
nicht mehr aufgesucht, seit sie in jener Nacht auf der Suche nach
Phillip hergekommen und stattdessen auf die schwelenden Ruinen
eines Lokals gestoßen war, in dem zuvor Vampire und Sterbliche
gleichermaßen bedient worden waren.
Bildete sie es sich nur ein, oder hing noch
immer der Geruch von Asche in der Luft? Es konnte nicht sein, nach
all diesen Monaten -
Die Kälte in ihrem Nacken war
zurückgekehrt.
Sie verharrte mit angehaltenem Atem, um zu
lauschen. Um zu fühlen.
Ja, sie war da; diese Vorwarnung, die ihr die
Nackenhärchen aufstellte und die sie seit zwölf Monaten nicht mehr
wahrgenommen hatte, war real: Es befand sich ein Vampir in der
Nähe. Dort unten.
Von der Erwartung vorwärtsgedrängt, kletterte
Victoria über die klapprigen Überreste des Türrahmens, dann lief
sie die Treppe hinunter in die höhlenartige Kammer. Sie tastete
sich mit der linken Hand an der Mauer entlang, während die rechte
die Laterne hielt, deren Schein die Holz- und Steintrümmer auf den
Stufen beleuchtete. Wenn es ihr möglich gewesen wäre,
sich ohne das Licht heranzupirschen, sie hätte es getan; aber im
Dunkeln zu sehen, gehörte nicht zu den besonderen Fähigkeiten eines
Venators. Ein Teil des Überraschungsmoments würde dadurch verloren
gehen, doch das war immer noch besser, als zu versuchen, sich ihren
Weg durch das Chaos leise und in der Finsternis zu bahnen.
Wie durch ein Wunder war die Decke nicht
vollständig über der Treppe eingebrochen, sodass Victoria bald die
unterste Stufe erreichte. Sie blieb stehen und hielt die Laterne
hinter sich, um das Licht etwas zu dämpfen. Dann linste sie um die
Ecke in den dunklen, ausgebrannten Keller.
In das, was von Sebastians Lokal noch übrig
war.
Obwohl ihr Nacken noch immer kribbelte und damit
ihren Instinkt bestätigte, spürte oder hörte sie keinerlei
Bewegung. Sie hielt ihren Körper ganz still, mit Ausnahme der
Finger, die sie in die tiefe Tasche ihres Mantels gleiten
ließ.
Der Pflock fühlte sich gut an in ihrer Hand,
aber sie zog ihn nicht hervor. Noch nicht. Sie umfasste das Holz,
das von ihrem Körper erwärmt war, mit festem Griff, dann wartete
sie, mit allen Sinnen lauschend.
Die Kälte in ihrem Genick intensivierte sich,
und sie spürte die Nähe des Vampirs, zusammen mit der berauschenden
Erwartung eines bevorstehenden Kampfes. Ihr Herz schlug schneller;
ihre Nasenflügel bebten, so als witterten sie die Präsenz eines
Untoten.
Sobald sie sicher sein konnte, dass sie allein
war in dem Raum, brachte Victoria die Laterne nach vorn. Als sie
sie herumschwenkte, bot sich ihr dasselbe Bild der Zerstörung wie
Monate zuvor; nur dass ihre Wahrnehmung dieses Mal nicht vor Angst
und böser Vorahnung wie gelähmt war. Jetzt bemerkte sie die
schwarz verkohlten Deckenbalken, die zerschmetterten Tische, das
zerbrochene Glas... Möglicherweise hing sogar der schwache Geruch
von Blut in der Luft.
Der Schein der Laterne flackerte über die Wände,
als sie über einen zertrümmerten Stuhl stieg, und unter ihren Füßen
knirschte das Glas wie Kies. Sie bahnte sich ihren Weg bis zu der
innersten, dunkelsten Mauer, die unter einem abgesackten Teil der
Decke verborgen war. Die stärker werdende Empfindung in ihrem
Nacken verriet ihr, dass sie sich in die richtige Richtung
bewegte.
Sebastian Vioget war in derselben Nacht
verschwunden, als im Silberkelch das Feuer gewütet hatte. Max war
in jener Nacht ebenfalls hier gewesen, und er hatte Victoria später
erklärt, dass er nicht wisse, ob Sebastian den Flammen entkommen
sei; ganz offensichtlich hatte es ihn nicht im Mindesten
interessiert, was mit dem Mann geschehen war.
Victoria wusste, dass es sie ebenso wenig
kümmern sollte … Aber sie hatte den Franzosen mit dem
bronzefarbenen Haar, der Vampire in seiner Schänke willkommen hieß,
nie vergessen können. Er hatte Victoria gegenüber einmal behauptet,
dass es besser sei, die Untoten zu kennen. Seiner Ansicht nach war
es ratsam, ihnen einen Rückzugsort zu bieten, wo sie Ruhe finden
konnten - einen Ort, an dem sich ihre Zungen lockerten und
Informationen ausgetauscht wurden …
Sie entdeckte die Geheimtür, durch die Sebastian
sie in der Nacht ihrer ersten Begegnung geführt hatte. Eingelassen
zwischen den Steinmauern und unter einer niedrigen Decke verborgen,
war sie nur schwer auszumachen. Nun stand die Tür, die von
schwarzen Rußstreifen verunziert war, offen.
Die Kälte in ihrem Nacken wurde
schneidend.
Victoria stellte die Laterne vor dem Durchgang
ab, dann zwängte sie sich hindurch. Sie fühlte das Gewicht der
Pistole - die natürlich gegen Vampire nutzlos, aber für andere
Zwecke hilfreich war - in ihrer Tasche, als sie gegen eine
Steinwand schrammte. Sobald sie in dem dunklen, engen Korridor
stand, konnte sie nicht anders, als sich zu erinnern, wie sie hier
mit Sebastian gestanden hatte, hinter ihr die klamme Mauer; er war
ihr viel näher gewesen, als die Schicklichkeit erlaubte, bevor er
dann die Hand ausgestreckt hatte, um ihr den Hut ihrer
Männerverkleidung vom Kopf zu wischen.
Bei dieser Gelegenheit hatte er sie nicht
geküsst.
Victoria lief eilig, so als wollte sie die
Gedanken hinter sich zurücklassen, den schwach beleuchteten Gang
hinunter, bis sie den kleinen Raum zur Linken erreichte, der
Sebastian als Arbeitszimmer und Salon gedient hatte.
Er, sie oder es... war in diesem Zimmer.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem erbitterten
Lächeln, und die Erwartung ließ ihren Puls hochschnellen. Seit
Monaten wartete sie auf diesen Moment.
Die Tür war angelehnt, sodass sie einen Blick in
den Raum erhaschen konnte. Er war von innen beleuchtet; nur eine
große Laterne würde den Salon ausreichend erhellen, sodass sie von
ihrem Standpunkt aus das komplizierte Muster des Brokats auf dem
Sofa erkennen konnte. Interessant, dass ein Vampir eine Laterne
benutzen sollte.
Nach dem zu urteilen, was sie von dem Zimmer
sah, war es vom Feuer verschont geblieben, abgesehen von einem
schwachen Rauchgeruch, der vermutlich in den Polstern des Sofas und
der Sessel haften geblieben war. Es gab keinerlei Anzeichen von
Verwüstung... Die Bücher standen noch immer in den Regalen,
die Kissen waren perfekt auf den Möbeln arrangiert... Selbst das
Silbertablett mit den Kognak- und Sherryflaschen befand sich noch
auf der gegenüberliegenden Seite des Salons.
Das Einzige, was fehl am Platz wirkte, waren die
beiden Gestalten, die sich über Sebastians Schreibtisch beugten.
Denn mindestens einer von ihnen war ein Vampir.
Victoria zog den Pflock aus der Tasche,
versteckte ihn in den Falten ihrer Jacke und trat ein.
»Guten Abend, Gentlemen«, sagte sie, als sie
sich umdrehten. »Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?«
Ihr Jahr der Trauer hatte sie ein wenig langsam
gemacht.
Einer der beiden war bei ihr, noch bevor sie es
erwartete, seine Augen blutrot, die Fangzähne blitzend.Victoria
sprang nach hinten, fühlte die Wand in ihrem Rücken und wich zur
Seite aus. Er kam ihr nach, und sie stolperte über ein Stuhlbein,
sodass sie um ein Haar zu Boden stürzte. Dieses Missgeschick machte
sie umso entschlossener, und mit der Geschmeidigkeit eines viel
getragenen Handschuhs strömten all die Fertigkeiten, die Kritanu
ihr beigebracht hatte, in ihre Muskeln zurück.
Als Victoria ihre Balance wiedergefunden hatte,
streckte der Vampir den Arm nach ihr aus und verschaffte ihrem
Pflock damit unbeabsichtigt Zugang zu seiner Brust.Victoria stieß
ihn hinein, fühlte das vertraute Plopp und
trat zurück, als er zu Staub zerfiel.
Mit angehaltenem Atem sah sie zu dem anderen
Mann, der sich nicht gerührt hatte. Er beobachtete sie mit
funkelnden, schwarzen Augen und dem Anflug eines Grinsens, dann
rückte er seine Jacke zurecht.
»Sie sind gut vorbereitet, stimmt’s?« Er kam
gelassen um den Schreibtisch herum auf sie zu. Nicht bedrohlich,
nicht bedroht.
»Was tun Sie hier?« Victoria wollte ein paar Antworten, bevor sie
ihn ebenfalls pfählte. Es konnte kein Zufall sein, dass die beiden
ausgerechnet diese Nacht gewählt hatten, um Sebastians ehemaligem
Lokal einen Besuch abzustatten; und der Menge an Staub sowie der
Ordnung in dem Zimmer nach zu urteilen, war dies das erste Mal,
dass jemand hier eindrang.
»Reine Neugier.« Er stand so, dass das Sofa
zwischen ihnen war. »Das ist also alles, was von dem berüchtigten
Silberkelch noch übrig ist; es hat mich interessiert, Sebastian
Viogets Schänke mit eigenen Augen zu sehen.«
Seine Fangzähne waren nicht ausgefahren; seine
Iris blieb ungewöhnlich dunkel.
»Kennen Sie ihn?«
Der Vampir, der nicht größer war als die meisten
Männer Londons, trug sein unscheinbar braunes Haar nach hinten
gekämmt. Die Nase, die ein bisschen zu groß war, als dass sein
Gesicht hätte attraktiv wirken können, war an der Spitze gerundet
wie eine Knoblauchknolle. Die Brauen bildeten gerade, dünne
Streifen über den Augen. Er schüttelte als Antwort auf ihre Frage
den Kopf. »Ich bedaure, aber ich hatte nicht das Vergnügen,
Monsieur Vioget kennen zu lernen. Und nach allem, was ich gehört
habe, bin ich mir keineswegs sicher, dass ich noch Gelegenheit
haben werde, das nachzuholen.«
»Ich habe seit Monaten keinen Vampir mehr in
London gesehen.« Victoria ließ ihn nicht aus den Augen. »Seit
Lilith zusammen mit ihren Anhängern das Weite gesucht hat. Hat sie
Sie geschickt, damit Sie feststellen, ob es für sie sicher wäre
zurückzukehren?«
Er musterte sie einen Moment lang, dann dämmerte
Erkenntnis in seinen schwarzen Augen. Nicht rot, noch nicht. Sie
waren
vollkommen normal. Er unterschied sich durch nichts als seine
schlecht sitzende Kleidung von einem durchschnittlichen englischen
Gentleman. »Sie sind der weibliche Venator.«
Victoria nickte.
Er blickte sie nachdenklich, mit schmalen Augen
an. »Was für ein gelungener Streich es doch wäre, wenn ich Sie zu
Nedas brächte. Er würde mich großzügig entlohnen.«
Freudige Erwartung durchzuckte sie. »Warum
versuchen Sie es nicht? Ich bin sicher, dass, wer auch immer Nedas
ist, er Ihren Märtyrertod zu schätzen wüsste.«
»Ich bin nicht ganz so unbedacht wie mein lieber
verschiedener Gefährte«, erwiderte er. »Dafür bin ich umso stärker
und schneller.«
Und schon war er bei ihr, mit einem Satz direkt
neben ihr, und griff nach ihrem Hals. Victoria wollte ausweichen,
aber er packte sie am Arm, und er war tatsächlich sehr
kräftig.
Gebannt von seinen nun glimmend roten Augen,
versuchte sie ihn abzuschütteln; dann fühlte sie das Sofa an ihren
Beinen. Sie täuschte vor zu stolpern, sprang zur Seite und
versetzte ihm einen Stoß, sodass er aus dem Gleichgewicht geriet.
Ohne ihr die Chance zu geben, auch nur Luft zu holen, folgte er ihr
auf den Fersen; doch dann drehte sie sich blitzschnell wieder
um.
Sie hob den Pflock auf Schulterhöhe und sah den
Vampir an, bereit ihm die Waffe ins Herz zu stoßen, als sie
plötzlich zurücktaumelte. Phillip.
Es war Phillip.
Ihr kam es vor, als würde ihr Körper zu Eis.
Dann zu Feuer. Der Pflock fiel ihr aus den tauben Fingern, doch ihr
Schrei wurde erstickt, als der Vampir sie zur Seite stieß, sodass
sie zu Boden stürzte.
Victoria lag auf dem Teppich, atmete Staub und
Fusseln in ihre panischen Lungen, und starrte zu der Gestalt
hoch.Wie war das möglich?
Aber es war nicht Phillip, der da über ihr
aufragte. Es war derselbe unscheinbare Mann wie zuvor, nur dass
seine Augen jetzt glühten und sein Mund ein grimmiger Strich
war.
Sie tastete nach ihrem Pflock... Gewiss war er
auf dem Teppich nicht weit gerollt. Als die Kreatur sich auf sie
stürzte, drehte Victoria sich zur Seite und saß damit zwischen dem
Vampir und der Ecke des Sofas in der Falle. Sie fühlte etwas unter
ihrer Hüfte, etwas Rundes, Hartes, Langes; unvermittelt warf sie
sich nach links auf seine Füße zu und grabschte nach dem
Pflock.
Die Wucht ihrer Bewegung brachte ihn aus dem
Gleichgewicht, und sie sprang mit dem Pflock in der Hand auf. Sich
das Kraftmoment ihrer Beine zunutze machend, kreiselte sie um die
eigene Achse, dann verlagerte sie das Gewicht und stieß ihm den
Pflock mitten in die Brust. Sie zog ihn wieder heraus und trat
zurück, um zuzusehen, wie er zerfiel.
Nichts geschah.
Stattdessen kam er erneut auf sie zu, die Zähne
zu einem Furcht einflößenden, tödlichen Grinsen gebleckt.
Völlig außer sich taumelte Victoria nach hinten
und strauchelte dabei über eine umgeschlagene Ecke des dicken
Perserteppichs. Sie stürzte zu Boden und schlug sich beim Fallen
den Kopf an der Wand an; dann stierte sie voller Entsetzen zu dem
rotäugigen Mann hoch.
Er näherte sich ihr mit langsamen Schritten,
während Victoria noch immer zu begreifen versuchte, dass sie auf
ihn eingestochen, ihren Pflock in seiner Brust versenkt hatte, und
nichts passiert war.
Er hatte weder geblutet, noch war er zu einem Aschehäuflein
geworden... Er griff einfach von Neuem an.
Während sie ihn gegen die Wand gekauert
beobachtete - den Pflock gezückt, um einen weiteren Versuch zu
wagen -, wandte er ihr wieder das Gesicht zu.
»Phillip?«, wisperte sie.
»Venator.« Er beugte sich geschmeidig zu ihr
herunter. »Komm jetzt... ganz ruhig... Ich werde dir nicht
wehtun.«
»Nein!« Mit aller Kraft stieß sie den Pflock
nach oben.
Sie stoppte ihn, pfählte seinen Körper auf das
Eschenholz, aber er zersetzte sich nicht. Seine Bewegungen wurden
langsamer... Doch er starb nicht. Mit einem Schrei der Verzweiflung
und des Entsetzens benutzte sie den Pflock und ihre Hand, um ihn
wegzustoßen. Der Pflock kam frei, und sie sprang mit einem Satz auf
die Füße.
Sie brauchte eine andere Waffe. Die Pistole in
ihrer Tasche … Sie zog sie heraus und richtete sie auf die Kreatur,
dann betätigte sie den Abzug. Mit einem heftigen Rückstoß löste
sich die Kugel und durchschlug die Brust ihres Angreifers.
Der konzentrierte Teil ihres Selbst war nicht
überrascht, als er kaum innehielt... sich wieder hochrappelte und
erneut auf sie zukam.
Victoria warf sich rücklings über das Sofa und
suchte verzweifelt nach irgendetwas, das sie als Waffe benutzen
konnte … aber was?
Er war so schnell, so kräftig... Sie hatte keine
Chance.
Er jagte hinter ihr her, war auf ihr, und sie
wälzten sich auf dem Boden, krachten gegen Möbelstücke. Das
scharfkantige Silbertablett mit dem Kognak und dem Sherry polterte
herunter, und die penetrant riechenden Spirituosen ergossen sich
auf den Teppich.
Von Panik und Schock umnebelt, tastete sich
Victorias Geist durch ein Wirrwarr von Möglichkeiten, von Gedanken,
die um ihren Überlebenswillen und den Zorn darüber, überrumpelt
worden zu sein, kreisten. Sie fühlte das schwere Tablett hinter
sich und legte die Finger um seinen scharfen Rand. Ohne sich ganz
sicher zu sein, was sie da eigentlich tat, riss Victoria es hoch
und nach vorn, dann schlug sie es dem Mann, der sich gerade wieder
zu ihr beugte, gegen den Kopf.
Er wankte, verlor den Halt, und sie sprang, noch
immer das Tablett im Griff, auf die Füße. Die Hände aufs Sofa
gestützt, fand er sein Gleichgewicht wieder. Dann drehte er sich zu
ihr um, die Augen flammend rot, der Mund grimmig. Victoria sprach
ein Gebet, dann rammte sie das Tablett mit einer einzigen,
kraftvollen Bewegung in und durch seinen Hals und schlug ihm mit
diesem einen mächtigen Hieb den Kopf ab.
Seine Augen rollten nach hinten, sein Kopf
polterte zu Boden, und Victoria blieb auf das Schlimmste gefasst
abwartend stehen, zitterte und keuchte dabei, als ob sie gegen zehn
Vampire gekämpft hätte.
Während sie zusah, veränderte sich das Gesicht…
Es schrumpfte und fiel in sich zusammen, wurde ledrig braun mit
eingesunkenen Augen und runzligen Lippen, dann pechschwarz... bevor
es schließlich im Fußboden verschwand.