Kapitel 9
In welchem Mrs. Emmaline Withers eine italienische Contessa verärgert
Venedig zeigte sich, wie Victoria erfahren musste, in den späten Sommermonaten nicht gerade von seiner besten Seite. Obwohl sich der September bei ihrer Ankunft schon dem Ende zuneigte, war es noch immer heiß und sonnig. Die Stadt selbst, die wie ein großer Fisch geformt war, dessen Schwanzflosse auf das Adriatische Meer zeigte, strahlte mit ihren schimmernden Gondeln, die über die Kanäle glitten, eine verträumte Ruhe aus, doch der Müllgestank, der vom Wasser aufstieg, wurde durch die Hitze noch verschlimmert.
»Und da beschwer ich mich drüber, wie’s in London stinkt, wenn’s heiß ist«, meckerte Verbena, die gerade in Victorias Handtasche nachsah, ob sich darin auch bestimmt eine Phiole mit gesalzenem Weihwasser befand. Seit ihre Herrin von einem Vampir gebissen worden war und die Wunde mit Weihwasser hatte behandelt werden müssen, hatte Verbena es sich zur Verantwortung gemacht, stets dafür zu sorgen, dass Victoria ein wenig davon bei sich trug. »Aber die Stadt hier ist ja noch viel schlimmer! Diese ganzen toten Fische, die überall rumtreiben, und dann dieses schleimige Seegras und dieses stinkige grüne Zeug, das da auf dem Wasser wächst, also ich kann mir wirklich nicht denken, warum irgendeiner im Sommer hier leben möchte! Aber dieser Oliver. Er sagt, es wär gar nicht so schlimm, weil er nämlich findet, dass es in der Stadt kein bisschen übler riecht als auf irgendnem Bauernhof. Das ist mir mal’n echter Landbursche. Hat seine Nase vermutlich auf seinem Hof in Cornwall vergessen.«
Kopfschüttelnd legte sie Victorias Täschchen zurück auf den Frisiertisch. »Ich versteh immer noch nicht, warum mein Vetter Barth seine Droschke nicht bei jemand anderem gelassen hat und mit uns gekommen ist, statt seinen Kumpel Oliver zu schicken. Vielleicht ist er ja nicht der beste Kutscher - es stimmt schon, Oliver fährt ein bisschen vorsichtiger - aber ganz sicher hat er seine Sinne beieinander, wenn es um Vampire geht. Hat immer ein Kruzifix und Weihwasser und’nen Pflock dabei. Er würde uns in der Stadt hier mehr nutzen als dieser Grünschnabel von einem Bauernlümmel.«
»Oliver scheint trotz seiner Größe ein sehr sanftmütiges Naturell zu haben«, entgegnete Victoria. »Hat er dir irgendwelchen Ärger gemacht?«
»Ärger? Nee, der doch nicht, Mylady. Ärger ist das Letzte, was der mir macht. Er ist einfach zu gefallsüchtig, wenn Sie wissen, was ich meine. Ständig fragt er, was er tun soll, wie er helfen kann. Er ist eben ein unbedarfter Bengel vom Land, der noch nie in’ner Stadt war, und das merkt man halt.«Verbena war inzwischen hinter ihre Herrin getreten und hatte begonnen, ihr die langen Locken auszukämmen. »Mich schaudert, wenn ich mir bloß vorstelle, was passiert, wenn er einem echten Vampir über den Weg läuft... Wahrscheinlich würde er ihn zum Tee hereinbitten! Hmpf. Also, wegen Ihrem Debüt hier heute Abend müssen wir dafür sorgen, dass Sie so gut wie möglich aussehen, Mylady. Ich werde mindestens zwei Pflöcke in Ihren Haaren verstecken, nur für den Fall, dass Sie über einen Vampir stolpern. Wer weiß, ob heute Abend welche ihr Unwesen treiben.«
»Ich habe seit unserer Ankunft nichts von ihrer Gegenwart gespürt. Abgesehen von der Seebrise nicht ein einziger kühler Hauch im Nacken. Ich frage mich langsam, ob die Tutela wirklich hier in Venedig ist. Und im Übrigen«, fügte Victoria mit einem warmen Lächeln hinzu, »sorgst du nicht stets dafür, dass ich so gut wie möglich aussehe?«
Sie war in guter Stimmung an diesem Abend und freute sich zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder auf ein gesellschaftliches Ereignis. Ihre erste Woche in Venedig war zäh und enttäuschend verlaufen. Sie hatten sich häuslich eingerichtet, ihre Ankunft sämtlichen englischen Auswanderern mitgeteilt und dann auf Einladungen gewartet.
An den Abenden war sie gezwungen gewesen, zu Hause zu bleiben und im Salon ihr kalaripayattu zu üben, da sie die Stadt nicht gut genug kannte, um sie nach Vampiren zu durchstreifen. Außerdem kam noch erschwerend hinzu, dass die Hälfte der Straßen keine Straßen, sondern Kanäle waren.
Doch zumindest war Victoria gebeten worden, an einer Zusammenkunft teilzunehmen, die nirgendwo anders als in Lord Byrons Haus stattfand. Sie hatte mit einem solch raschen Erfolg nicht gerechnet, sondern vielmehr mit einer Teeeinladung hier, einer Dinnerparty dort, bevor sie mit Byron in Kontakt käme. Aber offensichtlich hatte ihre Erwähnung von Polidoris frühzeitigem Ableben ihr genau den Zugang zu Byrons Kreisen verschafft, den sie brauchte.
»Sie wissen, ich versuch mein Bestes, Mylady. Nicht, dass es schwer wäre, Sie schön aussehen zu lassen. Sie haben diese herrliche Haut von der Farbe einer hellen Rose, und dazu diese gro ßen grün-braunen Augen. Und dann noch all dies Haar! Wer könnte dieses Haar nicht prächtig finden?«
»Es gab Zeiten, da habe ich daran gedacht, es abzuschneiden«, gestand Victoria, während ihre Zofe eine Partie ihrer Mähne abteilte. »Es stört mich, wenn ich kämpfe.«
»Das dürfen Sie nicht!« Verbenas weit aufgerissene blaue Augen sahen aus wie Kornblumen in voller Blüte. »Das werde ich nicht zulassen, Mylady. Ich werde einen Weg finden, es so zu frisieren, dass es Ihnen nicht ins Gesicht fallen kann. Und abgesehen davon... Wenn Sie es abschneiden, wie soll ich dann noch Ihre Pflöcke drin verstecken? Da ist dann nichts mehr da, um sie oben zu halten, wenn Sie alles abschneiden! Ich kenne ein paar Damen, die so etwas gewagt haben, aber ich werde Sie das nicht tun lassen.«
Verbenas Geschnatter ebbte nicht ab, während sie ihre Herrin fertig frisierte und ankleidete.Victoria war froh darüber, denn es erlaubte ihr, in eine stille Tagträumerei zu versinken, die nur von gelegentlichem zu festem Ziehen, einer zu eng gesteckten Haarnadel oder einer Anweisung wie: »Stehen Sie bitte auf«, oder: »Heben Sie die Arme, Mylady« unterbrochen wurde.
Nur leider wollten ihre Gedanken bei ihrem letzten Intermezzo mit Sebastian in der Kutsche verharren und der Art, wie er sie angesehen hatte, als er sagte: Ich habe dir Zeit gegeben zu trauern.
Selbst jetzt fühlte ihr Magen sich wie ein Teigball an, der durchgeknetet wurde, wenn sie an diesen Blick zurückdachte. Nicht, dass sie je einen Teigball geknetet hätte, aber als sie klein war, hatte sie Landa, die Köchin zu Hause in Grantworth House, beobachtet, wie sie es mit solcher Begeisterung und Hingabe tat, dass sie nun dachte, es müsse sich wie ihr Magen anfühlen.
Sie würde niemals vollständig aufhören zu trauern. Der Schmerz würde nachlassen, und sie würde mit ihrem Leben fortfahren - auf gewisse Weise tat sie das bereits -, doch der Kummer würde nie ganz verschwinden. Er würde sie für immer begleiten.
Wenn sie anders veranlagt wäre, würde sie vielleicht eine neue Liebe finden.Viele Witwen taten das; so etwas war nicht ungewöhnlich. Sie vermutete, dass ihre eigene Mutter eine Zuneigung zu Lord Jellington gefasst hatte, nachdem Victorias Vater nun seit drei Jahren tot war.
Aber ihr selbst würde es nicht so ergehen.
Bestimmt hatten die meisten, die einen geliebten Menschen verloren, das Gefühl, nie wieder einen anderen lieben zu können. Nie wieder diese entsetzliche Qual der Trauer durchstehen zu wollen. Aber sie konnten wieder lieben, sobald der Schmerz erst einmal abgeklungen war.
Victoria konnte das nicht.
Nun, theoretisch könnte sie es. Es war möglich und vermutlich sogar wahrscheinlich, dass sie sich eines Tages wieder verlieben würde, denn sie war noch jung und anziehend, und falls ihre Reaktion auf Sebastian irgendein Hinweis war, so genoss sie es durchaus, von einem Mann begehrt zu werden.
Aber sie war ein Venator. Ihr Leben war ein Flickenteppich aus Gefahr und Täuschung, nächtlichen Streifzügen, unentwegter Jagd, Gewalt und Kämpfen gegen das Böse. Gegen üblere Kreaturen, als die meisten Menschen sich auch nur vorzustellen vermochten.
Wenn sie jemanden liebte, würde sie ihn damit in Gefahr bringen - und sich selbst auch, weil sie abgelenkt wäre. Die Lügen, die Ausflüchte, ihre Art zu leben würden jede Chance auf Glück, die sie sich vielleicht erträumte, zernagen und schließlich auslöschen.
Sie durfte sich auf keinen Fall erlauben, zu lieben - oder schlimmer, viel schlimmer noch, geliebt zu werden.
Mit ihren letzten Worten an Max hatte sie ihm gesagt, dass er Recht gehabt hatte. Er hatte Recht damit gehabt, dass sie Phillip aus all den Gründen, die sie nun verstand, nicht hätte heiraten dürfen.Victoria würde niemals aufhören zu trauern, weil sie sich niemals würde verzeihen können, ihn dennoch geheiratet zu haben.
Trotzdem vermisste sie die Berührung männlicher Lippen, die kraftvolle Umarmung und auch den Geruch eines Mannes. Breite Schultern und das Beschleunigen ihres Pulses, wenn ein attraktiver Mann sie ansah, als wollte er sie verschlingen, während er gleichzeitig über das Wetter redete, oder wie in Sebastians Fall über einen Geheimbund von Vampirschützern.
Sie musste nicht heiraten oder auch nur lieben, um sich solchem Vergnügen hinzugeben und damit Zuflucht vor ihrer Welt zu finden. Sie war nun eine Witwe, in der Liebe und - mehr als die meisten Frauen im Alter ihrer Mutter - im Leben erfahren.
Wenn sie einsam war, konnte sie durchaus eine Beziehung mit einem Mann eingehen. Sie würde dabei natürlich wählerisch sein. Diskret. Ohne die emotionale Verstrickung, die sie und ihren Partner gefährden könnte.
Sie mochte ein Venator sein, eine Witwe, eine Stütze der Gesellschaft. Aber sie war auch eine Frau, und das würde sie auch immer bleiben.

In La Villa Foscarini vorgestellt zu werden, war eine höchst ungewöhnliche Erfahrung für Victoria. Ohne männliche Begleitung, ganz allein auf einer Gesellschaft einzutreffen, wo sie niemanden kannte, war etwas, das sie innerhalb der Londoner Oberschicht nicht tun konnte, ohne dass man sich nach ihr umdrehen und über ihr unschickliches Betragen tuscheln würde.
Doch Eustacia hatte ihr erklärt, dass sich die feine Gesellschaft Italiens nicht annähernd so streng gab wie die englische und die herrschenden Sitten wesentlich entspannter waren, als Victoria dies kannte. Und dieser überschaubare Kreis von englischen Auswanderern, der Lord Byrons gesellschaftliches Umfeld in Miniaturform darstellte, erwies sich als noch nachsichtiger, was starre Regeln anbelangte.
Dennoch kam es ihr äußerst seltsam vor, als Mrs. Emmaline Withers vorgestellt zu werden und dieser kleinen Gruppe völlig unbekannter Gesichter gegenüberzutreten.
Um ihre Identität als Venator geheim zu halten, hatte Victoria Wayrens Rat befolgt, sich unter falschem Namen in der italienischen Gesellschaft zu bewegen. Lilith wusste natürlich, wer sie war, und auch wenn viele der Vampire, denen sie möglicherweise begegnen würde, ihren Namen kannten, wussten sie dennoch nicht, wie sie aussah. Wenn Victoria also Zugang zur Tutela bekommen wollte, musste sie sich davor hüten, enttarnt zu werden.
Andernfalls lagen die Konsequenzen, wie Eustacia gesagt hatte, auf der Hand.
»Mrs. Withers! Wie sehr es uns freut, dass Sie an unserer kleinen Party teilnehmen können.« Ein dynamischer Mann mit dunklem Haar, das sogar noch lockiger und widerspenstiger war als John Polidoris, stand eilig von seinem Stuhl auf und kam auf sie zu, um sie zu begrüßen, wobei er sein Hinken so unauffällig wie möglich hielt.
Dies also war Lord Byron, Dichter und, falls die Gerüchte stimmten, ein Meister der Liebeskunst.
Ganz ohne Zweifel hatte er sehr hübsches Haar. Und eine hohe Stirn. Allerdings war er relativ klein.
Und offensichtlich an die hinreißende rothaarige Frau vergeben, die ihm auf den Fersen folgte.
»Lord Byron, ich danke Ihnen vielmals für Ihre freundliche Einladung. Ich bin seit etwas mehr als einer Woche hier und habe mich langsam schon gefragt, ob ich jemals wieder unter Menschen komme.Was für triste Tage das doch waren! Aber Ihre Party ist ganz zauberhaft.« Sie knickste kurz, reichte ihm die Hand und lächelte dabei die Frau an, während sie darauf wartete, dass Byron sie einander vorstellte.
»Mein Liebling, dies ist Mrs. Emmaline Withers, eine Freundin von John. Sie hatte das Pech, vor ein paar Wochen bei jener Wochenendgesellschaft anwesend zu sein, bei der er starb. Mrs. Withers, darf ich Ihnen Teresa, die Gräfin Guccioli, vorstellen. So! Nun wollen wir mit der Lesung fortfahren!«
Mit einer Bewegung, die man nicht anders als schwungvoll bezeichnen konnte, wandte der Dichter sich wieder der Stuhlgruppe zu, wo die anderen sieben oder acht Gäste saßen.
»Er lässt sich nur ungern unterbrechen, wenn er eines seiner Werke vorträgt«, erklärte Teresa Victoria mit liebenswürdigem Lächeln. Ihr Englisch war perfekt, doch in den Silben klang ein trällernder Akzent mit. »Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, Mrs. Withers. Wie ich gehört habe, sind Sie in mein schönes Heimatland gekommen, um sich vom Tod Ihres Gatten zu erholen. Es tut mir sehr leid für Sie. Allerdings gibt es Momente, in denen es gar nicht schlecht ist, seinen Ehemann los zu sein. Ich bin überzeugt, dass Sie Venezia als wunderbaren Ort schätzen lernen werden. Hier können Sie es genießen, dass Sie mit einer hübschen Summe ausgestattet wurden, und das ohne einen Ehemann als lästige Begleiterscheinung. Nun kommen Sie mit mir, damit wir Ihnen einen Platz neben einem unserer attraktiven jungen Männer suchen können.«
Zum Glück hatte Eustacia Victoria vorgewarnt, was die Gräfin Guccioli betraf, denn ansonsten hätte sie sich zutiefst beleidigt gefühlt.Teresa und Byron hatten sich vor zwei Jahren ineinander verliebt und lebten seither in wilder Ehe zusammen, teilweise sogar im Palazzo Guccioli, während der Gatte der Gräfin ebenfalls anwesend war. Das, behauptete Eustacia, war ein typisches Beispiel für die großen Unterschiede zwischen der italienischen und englischen Vorstellung einer Ehe.
In Italien heiratete man den Eltern zuliebe und suchte sich anschließend einen Liebhaber. Diesem brachte man dann den Respekt und die Treue entgegen, die bei den meisten Engländern ihren Ehegatten vorbehalten waren - zumindest von außen betrachtet. Dementsprechend unterschied sich Teresa Guccioli gar nicht so sehr vom Rest ihrer Landsleute, nur hatte sie eine recht offene Art und Weise, das auch auszusprechen.
Victoria nahm auf einem Brokatsessel Platz, dann hörte sie zusammen mit den anderen weit länger als eine halbe Stunde zu, wie Byron seine neuesten Stanzen vorlas. Sie hatte für so etwas zwar nicht mehr übrig als dafür, untätig Musikdarbietungen zu lauschen, aber sie schaffte es, so zu tun, als gefiele es ihr. Es war nicht so, dass die Stanzen hölzern oder uninteressant gewesen wären, aber Victoria hatte eine Aufgabe zu erledigen, und ganz gewiss würde sie nicht herausfinden können, ob Byron ein Mitglied der Tutela war, während er über untergehende Sonnen und die fließenden Gewänder von Göttinnen rezitierte.
Dann endlich war der letzte Teil der Lesung vorüber, aber falls die anderen Gäste ebenso entzückt darüber waren wie sie, so zeigten sie es nicht. Alle standen auf und gesellten sich in kleinen Grüppchen zueinander, während Drinks und appetitliche kleine Antipasti serviert wurden.
Victoria unterhielt sich kurz mit Teresa, bevor diese weggerufen wurde, um die dilettantische Zeichnung einer ihrer Freunde zu bewundern. Sie beobachtete, wie Lord Byron mit einem unverkennbaren Humpeln in seinen Schritten das Zimmer verließ, dann positionierte sie sich in der Nähe der Tür.
Wo einer hinausging, musste er auch wieder hereinkommen.
Das tat er kurze Zeit später, und es gelang Victoria, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Mrs.Withers, ich hoffe Sie haben einen schönen Abend. Ein bisschen weniger überkorrekt als in der englischen Gesellschaft, finden Sie nicht?«
»In der Tat herrscht hier eine große Leichtigkeit. Ich unterhalte mich sehr gut.«
»Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich Sie frage, wie es meinem Freund John ging, als Sie ihn das letzte Mal trafen. Ich war entsetzt, als ich von seinem plötzlichen Tod erfuhr.«
Das Glitzern in seinen Augen und die Art, wie er mit seinem Glas Chianti gestikulierte, strafte seine Behauptung Lügen, aber Victoria war nur zu gerne bereit, mitzuspielen. Immerhin hatte auch sie selbst eine Rolle zu spielen. »Dr. Polidori war kerngesund, als ich ihn zuletzt sah.Wir waren bei einer Wochenendgesellschaft auf Claythorne, als... Nun, Sie haben ja von dem Unfall gehört. Ich möchte nicht darüber sprechen, denn es war wirklich entsetzlich. Aber wir führten ein sehr interessantes Gespräch über Vampire. « Sie senkte die Stimme bei dem letzten Wort fast zu einem Flüstern und lehnte sich dabei absichtlich näher zu ihm, sodass er einen guten Einblick in ihr tiefes Dekolleté bekam.
Er schluckte den Köder, schloss die Finger fest um ihr Handgelenk und trat zurück, den Blick unverwandt auf ihren Busen gerichtet, von dem sie durch frühere Erfahrungen wusste, wie sehr das andere Geschlecht ihn schätzte.Victoria bemerkte, dass sich hinter Byron ein kleiner, abgehängter Alkoven befand. Sie ließ sich von ihm behutsam hinter die Vorhänge ziehen, während sie unauffällig das Schultertuch entfernte, das Verbena in ihren Ausschnitt gesteckt hatte. Sie würde alles geben, wenn es nur ihrer Sache diente.
Sie hoffte nur, dass die Gräfin Guccioli das Ganze nicht mitbekam. Es mit einem Vampir aufzunehmen, war eine Sache; eine eifersüchtige italienische Contessa, die ihr an den Kragen wollte, eine ganz andere.
»Es war so faszinierend!« Victoria riss die Augen auf und entzog ihm sanft ihr Handgelenk. »Vampire! Ich hatte wirklich den Eindruck«, fuhr sie wieder im Flüsterton fort, um Byron zu zwingen, näher zu kommen, »Dr. Polidori war davon überzeugt, dass sie wahrhaftig existieren. Stellen Sie sich das einmal vor!«
»Tatsächlich?«, erwiderte Byron. Victoria war noch nie so dankbar dafür gewesen, dass tiefe Ausschnitte in Mode waren, wie in diesem Moment. Der Mann war ein wenig angetrunken und völlig abgelenkt von der Menge bloßer Haut, die sie zeigte, seit sie das Schultertuch abgenommen hatte. Dies war also einer der Vorteile, die man als Witwe gegenüber einem unschuldigen Mädchen hatte.
Sie war sich sicher, dass sie ihm jede beliebige Frage stellen könnte und er antworten würde.
»Es muss Sie sehr geärgert haben, als Der Vampyr veröffentlicht wurde und jeder annahm, Sie hätten das Buch geschrieben.«
»Das war nicht wichtig. Ich habe es schnell richtiggestellt. Obwohl die Idee eigentlich von mir stammte, machte es mir nichts aus, dass John sie zu diesem Unsinn verarbeitete. Lord Ruthven nach mir zu charakterisieren!« Lachend stolperte er auf sie zu - ob es absichtlich geschah, wusste sie nicht - und bekam eine Handvoll Brust zu fassen.
Victoria schloss die Finger um seine und zog sie weg, dann drückte sie sie flach gegen das nackte Fleisch ihrer Schulter. Eine wesentlich sicherere Region, wo er nicht zu sehr abgelenkt werden und sich gleichzeitig nicht völlig abgewiesen fühlen würde. Es war seltsam, die Hand eines Mannes an ihrer Haut zu spüren, vor allem, da sie ihn nicht kannte.
Aber es spielte keine Rolle. Niemand würde sie sehen, und falls es ihr half, an die Informationen zu gelangen, die sie benötigte, würde sie es eben erdulden.
»Ich finde, Sie würden einen bezaubernden Vampir abgeben«, bemerkte sie mit einem Kichern, das eher zu einer frisch gebackenen Debütantin passte als zu einer Vampire jagenden Witwe. »So dunkel und gefährlich... Ich hoffe, Sie werden jetzt nicht Ihre Fangzähne ausfahren und mich in den Hals beißen, oder, Mylord?«
Er grinste lüstern, und ein dickes Büschel widerspenstigen schwarzen Haars fiel ihm in die Stirn, mischte sich mit seinen Brauen und tanzte vor seinen Augen. Er sah kein bisschen gefährlich aus, eher etwas dümmlich, mit der hellen Haut und den allzu weiblichen Lippen. »Und wenn ich das täte, würden Sie dann schreiend davonlaufen... Oder würden Sie mich lassen?«
»Ich würde Sie lassen.«
Seine Pupillen weiteten sich, wurden schwarz wie die Nacht, und seine Finger zuckten auf ihrer entblößten Haut. »Mrs. Withers... Sie führen mich wirklich in Versuchung.«
Geschickt entfernte sie seine Hand, schob ihn ein Stück von sich weg und schüttelte den Kopf. »Aber es gibt ja gar keine Vampire, nicht wahr? Was wirklich schade ist, denn ich finde sie unglaublich romantisch.«
»Romantisch?« Er wirkte verwirrt, so als verstünde er nicht, wie er seiner Beute gerade noch so nahe gewesen war und jetzt ein gutes Stück entfernt von ihr stand, ohne dass es einen Stoß oder ein Gerangel gegeben hatte.
»Ach, es würde mir wirklich gefallen, einen zu treffen. Einen Vampir.Verraten Sie mir doch... Sind Sie je einem begegnet? Denn seit ich mit Dr. Polidori gesprochen habe, bin ich überzeugt, dass es sie wirklich gibt.«
Als er sie nun ansah, war sein Blick etwas klarer. »Ich bin sicher, Sie würden sich furchtbar ängstigen, wenn Sie wirklich einem begegneten, Mrs.Withers.«
»Aber nein, warum sollte ich? Schließlich wollen sie nur überleben und können nichts dafür, dass sie sich von frischem Blut ernähren müssen. Das ist nun einmal ihre Natur.« Sie lächelte verheißungsvoll. »Ich stelle es mir recht... erotisch vor... zu spüren, wie sich zwei Fangzähne ganz langsam in meinen Hals graben.«
Byron war einen Schritt nach hinten getreten und hatte die Hände ganz aus ihrer Nähe entfernt. Er sah aus, als erwartete er, dass ihr jeden Moment spitze Eckzähne wachsen würden. »Um Ihnen die Wahrheit zu gestehen, liebe Mrs. Withers, es würde mich nicht überraschen, wenn sie tatsächlich existierten.« Er hustete. »Ich denke, dass Sie Recht haben. Auch John Polidori glaubte an sie, und ich bin fast sicher, dass er welche gesehen hat. Aber leider weiß ich es nicht mit Bestimmtheit.«
Verdammt. Sie hatte geglaubt, Fortschritte gemacht zu haben!
»Vielen Dank für Ihre poetische Lesung heute Abend, Mylord.« Sie wollte ihn loswerden, bevor er wieder nach ihr greifen konnte. »Ich bin etwas durstig. Würden Sie mich bitte entschuldigen, damit ich mir noch etwas Tee holen kann?«
»Selbstverständlich, Mrs.Withers. Ich werde Sie gerne begleiten.«
Die Gräfin Guccioli wirkte nicht gerade erfreut, als sie hinter dem Vorhang des Alkovens auftauchten, aber sie stürzte sich auch nicht auf sie, wie Victoria es erwartet hatte, bereit, ihren Geliebten einer im fremden Revier wildernden Frau zu entreißen.
Stattdessen tat sie etwas gänzlich Unerwartetes. Sie richtete all ihren Charme, ihre Schönheit und Koketterie auf die beiden Herren neben ihr, ohne Byron auch nur mit einem Wimpernaufschlag oder einem Naserümpfen zu bedenken. Sie ignorierte ihn einfach.
Victoria beobachtete sie fasziniert. Sie hatte nicht viel Erfahrung in der Kunst des Flirtens sammeln können, doch die Gräfin Guccioli war offensichtlich eine Meisterin des Fachs. Armer Byron. Er machte einen ziemlich jämmerlichen Eindruck, als Victoria schließlich ging... was zwei Stunden später war.
Sie hatte nach Oliver und der Kutsche rufen lassen und trat nun gerade aus der Tür der Villa, begierig darauf, die frische Nachtluft tief in ihre Lungen zu saugen, als sie hinter sich jemanden spürte.
»Sie verlassen uns schon so bald, Signora
»Graf Alvisi. Ist es nicht eine herrliche Nacht, mit all den Sternen am Himmel? Und ja, es tut mir sehr leid, aber ich bin ziemlich müde. Ich habe heute einen wunderbaren Abend verbracht.«
Er war genauso groß wie sie und hatte denselben dunklen, italienischen Teint wie Max. Doch seine Augen funkelten schlichtweg ein wenig zu heftig, und seine Lippen waren zu einem widerwärtigen *Lächeln gekräuselt. Außerdem roch er scheußlich intensiv nach Lavendelwasser.
Entweder hatte er darin gebadet oder er war einer Frau, die darin gebadet hatte, viel zu nahe gekommen.
So oder so war Victoria mit ihrer Geduld am Ende und bereit, kurzen Prozess mit ihm zu machen, sollte er vertraulich werden. Und genau das schien er im Sinn zu haben, der Art nach zu schließen, wie er sie musterte.
»Aber Sie haben nicht bekommen, wofür Sie hergekommen sind, oder?«
Sie sah ihn scharf an. Er nickte wissend und strich sich mit der Hand über seine Hemdbrust. »Was meinen Sie damit, Sir?«
»Ich hatte das Vergnügen, einen Teil Ihrer Unterredung mit unserem wunderbaren Gastgeber mitzuhören.«
»Tatsächlich?«
»Und dass Sie gern einen echten Vampir treffen würden.« Er kam näher und mit ihm der Geruch von Lavendel und... war das Zitrone?
»Ich stelle mir vor, dass es faszinierend sein würde. Meinen Sie, dass sie wirklich existieren?«
»Ich weiß, dass sie es tun. Ich habe sie gesehen.«
Sie riss die Augen auf und stieß ein mädchenhaftes Quieken aus. »Wirklich? Wo haben Sie sie gesehen? Sind sie gefährlich? Wurden Sie gebissen?«
»Das wurde ich. Soll ich Ihnen meine Narben zeigen?« Und tatsächlich waren da vier kleine Male an seinem Hals. Die recht frisch wirkten.
»Wie? Wo?«
»Wir haben da so eine... Gruppe.Wir treffen die Vampire und verbringen Zeit mit ihnen - nur mit ein paar von ihnen, um genau zu sein. Denn wir verstehen sie, wissen Sie? Es sind nämlich die missverstandensten Geschöpfe, denen ich je begegnet bin.«
»Das kann ich mir vorstellen! Die Menschen halten sie seit jeher für Bestien. Aber das sind sie nicht, oder? Sind sie genauso romantisch und gefährlich, wie ich es mir ausmale?«
»Das sind sie. Und wenn Sie möchten, kann ich es arrangieren, dass Sie uns eines Abends Gesellschaft leisten.«
»Dafür wäre ich Ihnen zutiefst verbunden, Graf Alvisi.«
Er drückte ihr etwas Hartes und Flaches in die Hand. »Damit wird man Ihnen Einlass gewähren. Was Zeitpunkt und Ort betrifft, werde ich Sie noch benachrichtigen.«
Längst ahnend, was sie in ihrer Hand erblicken würde, sah Victoria nach unten. Es war ein Tutela-Amulett.
Sie war ihm wirklich zutiefst verbunden.