Kapitel 11
Zwei rettende Türen
Zähne bohrten sich in ihr
Fleisch, einmal, zweimal, dann ein drittes Mal. Victoria fühlte
einen Strom warmen Blutes über ihren Halsansatz und durch die Kluft
zwischen ihren Brüsten sickern, das weiche, einlullende Gefühl von
Erlösung... eine behagliche Benommenheit, die sie verlockte,
loszulassen.
Aber sie konnte nicht aufhören, zu kämpfen; ihr
Körper wurde bewegt und gekippt, während sie sie begrapschten, an
ihr nagten. Sie fühlte, wie unter ihrem Mieder etwas Schweres zur
Seite rutschte und dann mit einem sanften Ruck in ihrem Genick
freikam.
Überraschte und panische Schreie ertönten, die
Hände, die sie festhielten, verschwanden, und Victoria spürte, wie
sie fiel, bevor sie ein zweites Mal unsanft auf dem Boden
landete.
Ihr Kruzifix schlug gegen ihre Brust, und sie
griff unwillkürlich danach und hielt es wie einen kleinen
Schutzschild vor sich hoch, während sie die andere Hand auf die
hölzerne Empore stemmte.
Obwohl sein plötzliches Auftauchen die Vampire
überrumpelt hatte, würde das Kruzifix sie nicht lange aufhalten;
jeder der anwesenden Sterblichen könnte es ihr aus der Hand reißen
und sie wieder den hungrigen Bestien ausliefern.
Victoria tastete mit den Fingern wie wild auf
dem Boden herum,
um einen Halt zu finden, mit dessen Hilfe sie sich in eine
aufrechte Position hochstemmen könnte, als sie plötzlich auf etwas
anderes als poliertes Holz stieß. Metall. Das im Boden verankert
war.
Sie war noch benebelt, aber seit die Vampire
aufgehört hatten, von ihr zu trinken, hatte sie wieder mehr
Kontrolle über sich, und sie spürte, wie Teile ihrer Kraft und
geistigen Klarheit zurückkamen. Sie besaß die Geistesgegenwart, die
Finger um das Metallobjekt zu schließen, und trotz ihrer
Benommenheit erkannte sie es als Scharnier. Im Boden.
Wo Scharniere waren, musste - bitte, Gott - auch eine Tür sein.
Wieder griffen Hände nach ihr, die versuchten,
ihre Finger von dem Kruzifix zu lösen, um es ihr über den Kopf zu
ziehen und sie wieder den Vampiren zu übergeben.Victoria bäumte
sich auf, um dem jämmerlich schwachen Sterblichen - Zinnani -
auszuweichen, der sich nun anstelle der Vampire über sie
beugte.
Sie hörte auf, gegen seine Hände anzukämpfen,
wand sich stattdessen hin und her, bis sie mit dem Gesicht auf dem
Boden lag, blendete aus ihren Gedanken aus, was über und hinter ihr
geschah, und suchte stattdessen fieberhaft nach einem Türgriff. Wo
ließ sich die Tür öffnen? Als sie fühlte, wie jemand - oder etwas -
an ihrer Halskette riss, trat sie nach hinten aus, sodass ihr Fuß
auf etwas ziemlich Weiches, Schwammiges traf, und sie war
inzwischen klar genug, um zu hoffen, dass es die Genitalien
irgendeines Mannes waren. Zinnanis, falls sie Glück hatte.
Sie lag direkt auf der Tür; jetzt, da die
Schatten über und hinter ihr zurückwichen, konnte sie die vagen
Umrisse der Bodenluke sehen und begriff, dass ihr eigenes Gewicht
diese daran hinderte aufzugehen. Falls sie alt und verklemmt oder
verriegelt oder am Ende überhaupt keine Tür war, war sie verloren.
An ihrer Taille fanden ihre Finger, was sie suchten, und Victoria
spannte sich kampfbereit an.
Sie spürte die Kette mit dem Kruzifix nachgeben,
spürte, wie sie in ihren Hals einschnitt, bevor sie einen Moment
später zerriss, hörte das entzückte Grölen der Menge, das über sie
hinwegschwappte, als die Vampire sich wieder auf sie stürzten, um
ihr tödliches Werk zu vollenden.
Victoria wälzte sich blitzschnell von der Tür
weg, rammte mit dem Körper die Füße der Vampire und schüttete ihnen
die Phiole mit dem salzigen Weihwasser entgegen. Kreischend
taumelten sie zurück, und sie zog mit einem heftigen Ruck an dem
Griff im Boden.
Er klemmte kurz, dann schlug die Klappe direkt
neben der Stelle, an der sie kauerte, mit lautem Krachen zu Boden,
und Victoria rollte sich durch die Öffnung.
Ihr Kleid verfing sich an dem groben Rand der
Luke, aber das verhinderte ihren Fall nicht. Das Lichtquadrat über
ihr verschwand, als die Tür hinter ihr zufiel und sie unten
landete.
Sie wurde sofort wieder aufgerissen, und gelbes
Licht fiel auf die Stelle, wo sie aufgekommen war. Gegen eine raue
Mauer streifend, rappelte sie sich auf die Füße, als auch schon
einer der Vampire durch die Öffnung sprang und eine Sekunde später
neben ihr stand.
Seine roten Augen im Halbdunkel funkelnd,
stürzte er sich auf sie.
Victoria war bereit. Die Hand fest um den Pflock
geschlossen, stieß sie ihn dem Untoten mit beträchtlicher
Genugtuung ins Herz.
Noch bevor seine Asche zu Boden gerieselt war,
stürmte sie schon in die Dunkelheit, darauf hoffend, dass der Weg,
den sie
einschlug, sie irgendwohin führen würde. Hinter ihr wurden
dröhnende Schritte laut; doch sie blieb nicht stehen, um
festzustellen, ob es sich um einen rotäugigen Vampir handelte oder
dieses Mal ein wagemutiger Sterblicher ihre Verfolgung aufgenommen
hatte. Victoria fand die Wand und tastete sich mit möglichst leisen
Bewegungen an ihr entlang, während sie darum betete, dass der Gang
sich nicht als Sackgasse erweisen würde.
Zumindest hatte sie hier unten den Vorteil von
räumlicher Enge, so wie es auch bei ihrem Kampf gegen die Vampire
auf Claythorne gewesen war. Falls sie alle die Jagd auf sie
eröffnen sollten, hätte sie eine bessere Chance, wenn sie sie einen
nach dem anderen abwehren könnte, als wenn sie im Pulk über sie
herfielen.
Wer auch immer hinter ihr her war, holte auf;
ein rascher Blick nach hinten zeigte ihr die flammenden Augen eines
Vampirs. Seine Nachtsicht verschaffte ihm in diesem stockfinsteren
Tunnel einen entscheidenden Vorteil.
Den Pflock angriffsbereit gezückt, beschleunigte
Victoria ihr Tempo.Wenn sie die Gelegenheit hätte, einen Moment
lang stehen zu bleiben, könnte sie die andere Phiole mit Weihwasser
aus ihrem Strumpfband ziehen; allerdings würde sie es brauchen,
falls sie entkam, um es über ihre Bisswunden zu schütten.
Sie pochten und bluteten stark; sie fühlte das
Blut ihren Hals hinunter und über ihre Arme laufen. Es war eiskalt
auf ihrer Haut und hatte nichts mehr von dieser samtigen Erlösung,
die sie empfunden hatte, als die Vampire von ihr tranken.
Sie streckte eine Hand vor sich aus und rannte,
so schnell sie konnte, aber sie war blind, und der Vampir nicht. Er
war nun so nahe, dass er sie an ihrem Kleid packte, aber Victoria
riss sich los,
sprang zur Seite und wieder zurück, um ihn aus dem Konzept zu
bringen.
Hinter ihnen ertönten Schritte; wenigstens ein
weiterer Vampir kam näher. Sie konnte ihrem Gegner nicht länger
davonlaufen; früher oder später würde sie vor einer Tür, einer
Mauer oder einem anderen Hindernis landen, und er würde es längst
gesehen haben, bevor sie es ertasten konnte.
Seit sie dem hypnotischen Rauch im
Versammlungssaal der Tutela entkommen war, schien ihr Geist wieder
etwas klarer zu sein, und Victoria beschloss, etwas Drastisches zu
versuchen. Denn sie hatte in einiger Entfernung einen schwachen
Lichtschimmer bemerkt.
Wo Helligkeit war, musste eine Tür und womöglich
sogar Tageslicht sein.War es schon spät genug? Sie hatte Stunden
hier verbracht... aber war die Morgendämmerung schon nahe
genug?
Sie setzte zu einem letzten Sprint an, preschte
im Slalom zu einer Seite und hechtete auf die andere. Der Vampir
erkannte ihr Manöver nicht rechtzeitig, sodass er stolperte und
flach zu Boden stürzte.Victoria war mit einem Satz bei ihm, fasste
nach seinem Genick und jagte ihm den Pflock in den Rücken. Er
zerfiel unter ihr zu Staub.
Doch in diesem Moment kam ein dritter Vampir auf
sie zugeschossen und riss sie an ihren Haaren auf die Füße. Der
jähe Schmerz ließ Victoria leise aufschreien. Seine Augen glühten
vor Zorn, als er die Finger um ihren blutüberströmten, glitschigen
Hals schloss. Ihr bösartiges Funkeln erhellte den engen Tunnel
gerade ausreichend, dass sie einen Teil seines Gesichts sehen
konnte. Sie erkannte ihn. Der Sechste. Keiner der ausgehungerten,
verwilderten Vampire, sondern ihr Anführer.
»Wer bist du?«, knurrte er und schüttelte sie
unsanft.
Sie wollte ihren Pflock heben, aber er fing ihre
Hand mitten in der Bewegung ab und stieß sie gegen die Wand. Sie
war kalt, und Victoria fühlte Erde und Sand auf ihre nackten
Schultern rieseln.
»Wer bist du, dass du zwei der meinen töten
konntest?« Er kam noch näher, und sie roch das Blut in seinem Atem,
altes Blut und den Gestank von Verdammnis.
Ihre andere Hand war frei, und sie versuchte,
sie unter ihren Rock zu schieben, um die Phiole mit Weihwasser
hervorzuziehen, aber er war zu schnell und blockte auch diesen
Versuch ab. Ihre beiden Hände umklammernd, drückte er sie gegen die
feuchtkalte Steinmauer. Sein Griff war so brutal, dass sie den
Pflock fallen lassen musste. »Ein Venator, natürlich. Ich habe noch
nie einen Venator gekostet.«
Die roten Augen kamen näher, und sie wartete,
bis er kurz davor war, die Lippen an ihre Haut zu pressen. Durch
die Körperkraft des Vampirs im Gleichgewicht gehalten, zog sie
plötzlich beide Beine an und trat ihm mit voller Wucht gegen die
Schienbeine.
Er war so überrascht, dass sie sich freiwinden
konnte, um nach dem zweiten Pflock in ihrem Haar zu tasten, aber er
war herausgefallen, als er sie auf die Füße gezerrt hatte. Victoria
warf sich so heftig gegen den Vampir, dass sie ihm die Balance
nahm, dann rannte sie auf den schwachen Lichtschein zu.
Er war hinter ihr, zwar nicht weit entfernt,
aber genug, dass sie einen gewissen Vorsprung hatte. Sie versuchte,
unter ihren Rock zu greifen, um ihren letzten Pflock
hervorzuziehen, aber er war zu lang, und sie konnte im Rennen den
Schlitz nicht finden.
Bitte, eine Tür.
Bitte.
Victoria war jetzt nahe genug; es war ein
Lichtspalt. Sie stemmte sich gegen die Wand, die eine Tür sein
musste, es einfach sein musste, als sie merkte, dass er sie fast
eingeholt hatte. Verzweifelt tastete sie mit den Fingern umher,
suchte wieder nach einem Türgriff, betete um Sonnenlicht. Sie hatte
keine Ahnung, wie viel Zeit seit ihrer Ankunft vergangen war, aber
es mussten einige Stunden sein …
Tageslicht, bitte.
Genau in dem Moment, als ihre Finger in eine
Ritze glitten, griff er sie von hinten an. Er packte sie an den
Schultern und schleuderte sie zu Boden, offensichtlich in der
Absicht, sie aufzuhalten. Tatsächlich aber hatte er ihr sogar einen
Vorteil verschafft. Sie warf sich auf den Rücken und versetzte ihm
mit den Füßen einen Tritt in den Magen, sodass er durch die Luft
flog, während sie sich wieder auf den Bauch drehte und die
Fingerspitzen unter die Tür schob.
Zieh, zieh, zieh …
Und sie ging auf. Dem Himmel sei Dank, sie ging
auf!
Ein milchiger Lichtstrahl fiel in den
Tunnel.
Der Vampir schrie auf und rollte sich weg, aber
Victoria folgte ihm und zog dabei den letzten Pflock unter ihrem
Rock hervor. Sie rammte ihn ihm in den Rücken, direkt in sein Herz,
dann machte sie kehrt und stolperte in das gesegnete Licht der
Sonne hinaus, die gerade erst durch die Bäume am Horizont
hindurchblinzelte.
Sie schlug die Tür hinter sich zu und entfernte
sich schwankend drei oder vier Schritte von dem Gebäude.
Dann rannte sie los; mit Augen, die von der
jähen Helligkeit brannten und geblendet waren, hastete sie durch
Bäume und Gesträuch, bis sie plötzlich mit jemandem
zusammenstieß.
Zwei Jemands.
»Mylady?«
»Lady Rockley?«
Victoria rappelte sich aus dem Gras hoch, dann
sagte sie, während sie noch immer die Tränen wegblinzelte, die das
Sonnenlicht ihr in die Augen getrieben hatte: »Verbena? Oliver? Was
um alles in der Welt -«
»Mein Gott, sie blutet ja!«, stieß Oliver voller
Entsetzen aus, und da gelang es Victoria endlich, sich auf ihn zu
fokussieren. »Überall.« Seine Stimme brach und wurde zu einem
erschütterten Flüstern.
»Wir haben ein Boot, Mylady. Kommen Sie, so
kommen Sie doch.« Verbena zog an ihr, und obwohl Victoria die Angst
in ihrer Stimme hörte, entging ihr auch der altvertraute,
wichtigtuerische Unterton nicht.
Sie ließ sich von ihrer Zofe zu demselben Kanal
zurückführen, auf dem sie und Alvisi Stunden zuvor hergekommen
waren.
Eine halbe Nacht zuvor.
Die Passage dauerte über eine Stunde, während
der Victoria kaum mehr wahrnahm als das überwältigende Geschenk des
warmen, hellen Sonnenscheins. Später sollte sie sich dann noch an
verschiedene andere Eindrücke erinnern: An die Qual, als Verbena
ihre Wunden mit dem gesalzenen Weihwasser buchstäblich tränkte. An
das plötzliche Kippen ihrer Gondel, als Olivers Stange an etwas
hängen blieb. An ein paar geflüsterte Gesprächsfetzen ihrer beiden
Begleiter.
»Sie sieht so bleich aus.«
»Klar tut sie das! Sie wurde fünf- oder sechsmal
gebissen, Dummkopf!« Und das Spritzen von Wasser, auf welches das
unerträgliche
Brennen von Salz folgte. »Kannst du nicht ein bisschen schneller
rudern?«
»Ich rudere nicht. Oder siehst du hier irgendwo
ein Ruder? Ein Paddel vielleicht? Nein, das hier ist eine Stange,
und es ist nicht dasselbe wie in einem Teich daheim in Cornwall
herumzurudern.«
»Pass auf, wo du -«
Dann ein gewaltiges Schlingern und ein
unterdrückter Fluch, bevor die Gondel mit einem heftigen Ruck
weiterfuhr.
Dann, später... »Wenn du dich nicht wie ein
starrköpfiger Maulesel aufgeführt hättest, als ich gehen wollte,
wären wir nicht so spät dran gewesen.«
»Bloß, weil du ohne mich loswolltest.«
»Bist ja auch eine tolle Hilfe gewesen, als du
wie eine aufgeregte Henne auf dem Kanal rumgeschnattert und
gezetert hast.«
Gefolgt von einem beleidigten Schnauben und
einem Schaukeln des Bootes, so als ob jemand sich umgedreht und die
Arme vor dem Bauch verschränkt hätte. »Du bist in die falsche
Richtung gefahren.«
»Damit uns niemand verfolgen konnte.«
»Wir waren die
Verfolger!«
»Bei solchen Sachen kann man gar nicht
vorsichtig genug sein.«
Dann ein weiteres heftiges Schwanken der Gondel.
Sie musste sich wieder zu ihm umgedreht haben. »Was weißt du schon
darüber, wie man Vampire bekämpft?«
»Mehr als du, was wie es aussieht ziemlich wenig
ist.«
Vermutlich war es gut, dass Victoria an diesem
Punkt eindöste, sodass sie Verbenas Antwort nicht hörte. Sie bekam
nichts mehr
mit, bis weiteres Geschaukel und dann ein plötzliches Schlingern
ihr verriet, dass sie den Kai erreicht haben mussten.
Sie sagte Verbena, dass sie laufen konnte, und
stellte es anschließend unter Beweis. Das gesalzene Weihwasser
hatte bereits zu wirken begonnen, und obwohl sie schwach, verletzt
und erschöpft war, wusste sie, dass es ihr schon am nächsten Tag
besser gehen würde.Venatoren erholten sich schnell und mühelos,
selbst von Vampirbissen.
In ihrer Villa angekommen, bestand Verbena
jedoch darauf, dass Victoria sich in ihr Zimmer zurückzog, um sich
dort waschen und umkleiden zu lassen, anstatt Eustacia eine
Nachricht zu schicken.
»Oliver wird ihr Bescheid geben, während wir Sie
in Ordnung bringen.«
Victoria gab es nicht gerne zu, aber sie war
erschüttert von ihrem Erlebnis, und obwohl sie wusste, dass sie
schon sehr bald körperlich wieder auf der Höhe sein würde,
zitterten ihr die Finger, und ihr Magen krampfte sich zu einem
schmerzhaften Knoten zusammen, wenn sie daran dachte, wie die
Vampire inmitten des süßlichen Rauchs, ihrer Benommenheit und des
unerbittlichen Gesangs über sie hergefallen waren.
Sie war im Anschluss an Verbenas liebevolle
Fürsorge eingeschlafen und, dem Stand der Sonne vor ihrem Fenster
nach zu urteilen, erst viele Stunden später wieder erwacht. Nachdem
sie unter ihrer leichten Decke hervorgekrochen war, begutachtete
sie den angerichteten Schaden.
Sie zählte acht Bisswunden und dann noch sechs
weitere, die eher Risse waren und sich wie gezackte Furchen über
Hals und Schultern zogen. Das Blut war abgewaschen worden, aber um
die Male herum zeigten sich bereits dunkelviolette und
schwarze Hämatome.Victoria berührte einen der Bisse, und da wurde
ihr plötzlich bewusst, wie nahe sie daran gewesen war, zu
sterben.
Sie fragte sich, was wohl mit den anderen Frauen
geschehen war. Hatte man sie in Stücke gerissen, oder waren sie
nach ihrem Trauma freigelassen worden?
Sie hätte sie nicht retten können; sie war kaum
in der Lage gewesen, sich selbst zu retten. Aber die Ahnung, dass
sie einen entsetzlichen, qualvollen Tod gestorben waren, nagte an
ihr. Sie war ein Venator. Ihre Aufgabe war es, Menschen das Leben
zu retten, indem sie Dämonen und Vampire davon abhielt, es ihnen zu
nehmen. Sie hatte letzte Nacht versagt.
Hatte hilflos zusehen müssen, wie es
geschah.
Sie war zu spät gekommen, um Polidori zu retten;
aber zumindest hatte sie es versucht.
Doch sie hatte nicht versucht, die Frauen zu
retten.
Victoria wandte sich vom Spiegel ab, wusch sich
das Gesicht und strich sich mit feuchten Händen die einzelnen
Strähnen nach hinten, die sich beim Schlafen aus ihrem Zopf befreit
hatten.
Am Fuß der Treppe traf sie auf den italienischen
Butler - ein vertrauenswürdiges Mitglied von Eustacias Haushalt -,
der mit einer knappen Verbeugung verkündete: »Ihre Tante und zwei
Herren erwarten Sie im Salon, Signora.«
Zwei Herren?
Victoria eilte zum Salon und öffnete die
Tür.
Es war nicht Max. »Was tust du hier?« Sie blieb
wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.
»Verflucht noch eins,Victoria!« Sebastian stand
auf und kam auf sie zu, dann verharrte er mitten im Zimmer. »Deine
Zofe
sagte bereits, dass du verletzt wurdest, aber dass es so schlimm
ist, hat sie verschwiegen.«
»Was macht er hier?«, fragte Victoria ihre Tante
und setzte sich, ohne Sebastian zu beachten, auf den Diwan neben
ihr. Natürlich sah sie entsetzlich aus. Immerhin war sie von drei
Vampiren halb zerfleischt worden.Trotzdem musste er nicht so
verdammt erschüttert klingen. Oder angewidert. Bloß weil er selbst
so gut und gepflegt aussah wie immer, mit seinen raffiniert
zerzausten, goldenen Locken und dem perfekt gebundenen Halstuch
…
»Wie es scheint, ist die Angelegenheit recht
knapp ausgegangen«, bemerkte Eustacia, während sie Victorias Bisse
inspizierte und auf einen sogar mit dem Finger einstocherte. »Die
hier sind ziemlich übel, und auch wenn du ein Venator bist, können
solche Wunden Folgen haben, cara. Deine
Zofe sagte, dass sie sie mit gesalzenem Weihwasser behandelt hat,
und ich habe noch etwas anderes, das die Blutergüsse zum
Verschwinden bringen wird.« Sie begann, in dem kleinen Beutel
herumzukramen, den sie von ihrem Handgelenk gezogen hatte.
»Wir sind sehr froh, dass Sie keinen schlimmeren
Schaden erlitten haben«, tröstete Kritanu sie mit seiner weichen
Stimme. Von seinem Stuhl aus tätschelte er Victorias Hand, dann
drückte er sie liebevoll. »Und um Ihre Frage zu beantworten,
Monsieur Vioget ist gestern spätnachts in der Villa Ihrer Tante
eingetroffen.«
Victoria drehte sich Sebastian zu, der sie
unverwandt beobachtete, seit sie den Salon betreten hatte, und hob
fragend die Augenbrauen.
»Mir war nicht bekannt, wo du hier in Venedig
wohnst«, erklärte er und lehnte sich in dem offenkundigen Bemühen,
entspannt
zu wirken, in seinem Sessel zurück. Er verschränkte die Arme,
sodass sich seine gut geschnittene Jacke über den breiten Schultern
spannte. »Doch ich wusste, wie ich deine Tante erreichen konnte,
und nahm an, dass sie mich mit dir in Kontakt bringen würde, vor
allem, da ich mit Informationen gekommen bin, von denen ich glaube,
dass sie dich interessieren werden. Es ist sehr bedauerlich, dass
ich mit einem Tag Verspätung hier eintraf, denn sonst hätte ich
dein scheußliches Erlebnis von letzter Nacht vermutlich verhindern
können.«
»Und wie, bitte schön?« Victoria war sein
unentwegtes plötzliches Auftauchen und seine mysteriösen
Ankündigungen allmählich leid. Ständig schien er etwas zu
verbergen. Oder zu versuchen, etwas zu bekommen.
»Ich hätte dir sagen können, dass Nedas in Rom
ist, und nicht hier in Venedig. Und wenn du die Tutela infiltrieren
willst, in der Hoffnung, ihn auf diese Weise aufzuhalten, wird dir
das hier nicht gelingen. Schon gar nicht an der Seite von Graf
Benedetto Alvisi.«
»Und du hast bist jetzt gewartet, um mich
darüber in Kenntnis zu setzen? Warum hast du es mir nicht gesagt,
bevor ich London verließ? In der Kutsche?« Ihre Worte pulsierten im
Gleichtakt mit den zornigen Venen an ihrem Hals.
Er breitete die Hände aus. »Ich wusste es zum
damaligen Zeitpunkt noch nicht.«
»Victoria, sag uns jetzt endlich, was letzte
Nacht geschehen ist«, unterbrach Eustacia sie und schloss ihre
arthritischen Finger um die ihrer Großnichte. Sie waren kühl, aber
kraftvoll, die Haut weich und strukturiert, mit dicken, knotigen
Adern. »Und hier ist ein wenig Salbe für deine Wunden.«
Erleichtert wandte Victoria sich von Sebastian
ab und lieferte
eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse während der
Tutela-Versammlung.
»Also bist du allein gegangen, ohne irgendwelche
Vorkehrungen zu treffen für den Fall, dass etwas schiefgehen
könnte.«
Victoria erdolchte Sebastian mit Blicken. »Ich
bin ein Venator und muss gewisse Risiken eingehen, so hoch sie auch
sein mögen.«
Eustacia holte Luft, so als wollte sie zum
Sprechen ansetzen, aber Victoria, die nicht getadelt werden wollte,
vor allem nicht vor Sebastian, schnitt ihr das Wort ab. »Ich gebe
jedoch zu, dass ich die Möglichkeit in Betracht hätte ziehen
müssen, dass die Dinge nicht so sein könnten, wie sie aussahen.
Ohne Max war ich gezwungen, allein zu handeln; es gab niemanden,
der mich hätte begleiten können, um mir zu helfen, sollte das
Unterfangen misslingen.Was natürlich geschah. Aber zumindest hatte
ich das Glück, fliehen zu können und anschließend aufVerbena und
Oliver zu stoßen, die mich nach Hause brachten. Es war keine
Erfahrung« - sie nickte Kritanu und ihrer Tante zu -, »die ich
gerne wiederholen möchte.«
»Du hast deine Zofe also nicht beauftragt, dir
zu folgen«, bemerkte Eustacia mit jener sorgsam modulierten Stimme,
die Victoria verriet, dass sie verärgert oder sogar zornig
war.
»Das habe ich nicht. Sie tat es aus eigenem
Antrieb.«
»Du hast auch keine Nachricht geschickt, um
Kritanu zu bitten, dass er mit dir kommt. Er hätte dir ebenfalls
folgen können.«
»Mir blieb nicht die Zeit, euch zu
benachrichtigen, denn ich erhielt Alvisis Brief weniger als eine
halbe Stunde, bevor er mich abholte.«
»Eine bewusste Entscheidung seinerseits. Er
bemüht sich
schon lange, in den inneren Zirkel der Tutela vorzudringen«, warf
Sebastian ein.
»Sie scheinen sich selbst überaus gut mit der
Tutela auszukennen, Monsieur Vioget«, spottete Victoria.
Sein Lächeln war unverbindlich. »Es ist mir
immer wieder eine Freude, dir und all den anderen Venatoren zu
Diensten zu sein. Aber wenn du erlaubst, würde ich dir jetzt lieber
dabei behilflich sein, Kontakt zu den richtigen Leuten in Roma
aufzunehmen« -, er rollte das R mit einem authentischen,
italienischen Schnurren - »damit du mit deiner Suche nach Nedas
fortfahren kannst.«
Victoria sah Eustacia an. Diese nickte.
»Si.Wir werden uns alle nach Rom begeben.
Mit dem Schiff. Das ist sicherer als auf dem Landweg, wo die Tutela
uns entdecken oder verfolgen könnte.«