22. Kapitel
»Das war meine Geschichte«, sagte Agaldir und lehnte sich zurück.
Die Gefährten schwiegen, während Mari die leeren Teller und Töpfe abräumte und den Wein auftrug.
»Nun wisst ihr, was ein Blinder Magister ist.«
Connor nickte stumm. Es war ihm anzusehen, wie sehr ihn das Gehörte beeindruckte. »Du hast Mandraeja sehr geliebt ...«
Niemand sagte etwas zu dieser Feststellung, doch alle dachten ähnlich, wie man es ihren Gesichtern ansah. Maris Blick huschte über die Gruppe und blieb an Connor heften. »Hast du schon einmal so geliebt, Connor?«
Der Hüne sagte bitter: »Ja, eine Frau, mit der ich ein Kind habe. Ein Mädchen. Sie heißt Xenua.«
Lysa verzog die Brauen und schwieg.
Mari blickte Connor tief in die Augen. »Ich habe heute Geheimnisse erfahren, die mich verwirren.« Sie sah weg und fuhr fort: »Auf gewisse Weise gehöre ich nun zu euch.«
Frethmar lachte. »In gewisser Weise kann man das so sehen, aber wir werden morgen aufbrechen.«
»Wann wollt ihr das tun?«, fragte Mari. »Ich habe einen leeren Stall hinter dem Haus mit Unmengen Heu. Dort könnt ihr schlafen und euch ausruhen. Außerdem wartet ihr noch auf eure Freundin, wie heißt sie noch ...?«
»Bluma«, sagte Bob mit kratziger Stimme. »Auch Darius ist noch nicht zurück. Also, mein lieber Fret, so schnell wird das nichts mit unserem Aufbruch. Zuerst möchte ich meine Tochter wieder im Arm halten, danach wird man sehen.«
»Richtig«, gab Connor zurück, dessen Blick eins ums andere mal über Mari glitt. »Letztendlich sollten wir überlegen, wie wir damit umgehen, dass Lord Murgon plant, das Land der Mythen zu überfallen. Darius hat uns oft darauf hingewiesen und er muss es schließlich wissen.«
»Ein guter und tapferer Gedanke«, sagte Agaldir, während Steve an seinem Erdbeersaft nuckelte. »Vermutlich wird uns Darius einiges zu berichten haben, wenn er zurückkehrt, das Drachenei haben wir auch, das Elixier werde ich morgen, wenn wir ausgeschlafen haben, brauen, damit du, Lysa, dein Volk retten kannst. Außerdem müsst ihr euch noch um das Verbrechen kümmern, dass auf dem Schiff geschehen ist. Ihr wisst, was ich meine?«
Alle nickten betrübt.
»Letztendlich wurde ich euch vorausgesagt und auch das hat einen Grund. Ich möchte, dass wir alle, gemeinsam, zum Lichtwurm gehen, zu Symbylle. Ich möchte, dass sie euch liest, denn ich weiß, dass wir dadurch die Rettung von Mythenland erfahren werden. Ihr seid die Auserwählten, auf die ich gewartet habe, um neuerliches Unheil zu verhindern. Einen neuen Dämonenüberfall, ein erneutes Öffnen der dunklen Pforten muss unbedingt verhindert werden.«
»Warum wir?«, fragte Lysa.
»Weil ihr das edelste aller Gefühle habt. Die Freundschaft. Man sagt, Freundschaft sei eine Seele in zwei Körpern. Bei euch ist das anders. Hier existiert eine Seele in vielen Körpern. Und eben diese Seele soll, nein muss jener, den mein Enkel Ringo nennt, lesen. Ihr liebt euch. Denn Freundschaft ist Liebe mit Verstand. Nur Liebe kann Mythenland retten. Denn sie ist die eine und einzige Formel.«
Agaldir beugte sich vor und zeichnete in den verschütteten Wein ein Muster.
+ & + = L
»Glaubt mir, ich weiß nicht, was das bedeutet, aber ich erkenne es hier und jetzt.« Er kratzte sich den Kopf. »Doch, ich begreife es. Ja, es ist das, wonach alle Magister und Magier seit Gedenken suchen.« Er ließ seine Handflächen über den Symbolen schweben. Alle warteten gespannt.
»Es ist die Formel der Liebe. Ich und Du sind die unendliche Liebe! Ja, das ist es ...« Der Alte blickte auf und seine trüben Augen schimmerten nach innen.
Alle betrachteten das Muster, doch niemand konnte etwas damit anfangen.
»Ich bin müde«, sagte Frethmar. »Dein Mahl war wunderbar, Mari. Es hat gemundet ... am liebsten würde ich noch eine Keule essen.« Er verzog das Gesicht. »Da fällt mir ein, dass es Zeit wird für eine Ode.« Er blickte zu Agaldir, der lächelnd nickte.
»In Liebe nie vergessen
die Freunde auf dem Schiff
Vom Ork jetzt aufgefressen
Bricht’s gegen’s Seelenriff
Sinkt in die Trauerfluten
Das macht mir solchen Schmerz
Die Seel’ wird ewig bluten
Gebrochen ist mein Herz!«
Er blickte auf. Vermutlich hätte normalerweise Connor eine Bemerkung dazu gemacht, dass er Herz auf Schmerz reimen ließ, was wirklich nicht besonders originell war, aber niemand sagte etwas, bis Lysa murmelte: »Danke, Frethmar. Dies ist nicht dein erstes Trauergedicht für meine Freundinnen und ich hoffe, ich muss nie wieder eines hören.«
Sie weinte und Laryssa stimmte ein.
Connor ging um den Tisch hockte sich hin und drückte Lysas Gesicht an seine Schulter. Bama kümmerte sich um Laryssa.
Mira hatte sich erhoben und stand abseits. Sie beobachtete die Szene und presste ihre Lippen aufeinander.
Die Stimmung war bedrückend und Bob sagte: »Es fällt mir schwer, da ich nicht weiß, wo meine Tochter ist, aber ich vertraue dir, Agaldir, besonders jetzt, nach deiner Geschichte, es fällt mir wirklich schwer, aber ich möchte ruhen. Möchte diesen Tag am besten traumlos versinken lassen.«
Mari zeigte ihnen den Stall.
Tatsächlich, wohin sie blickten, frisches trockenes Heu. Hier würden sie gut schlafen können, soweit es die blutende Seele zuließ.
Eine halbe Stunde später hörte man den regelmäßigen Atem der Erschöpften und nicht wenige von ihnen starrten in die Dunkelheit, wo die Trauer wohnte.
Mandraeja war die letzte Hüterin ihrer Art und du wirst der Erste einer neuen sein. Der Erste unter den Blinden Magistern und einer, der das Schicksal der Welt mitbestimmen wird.
Dieser Satz ging Connor die halbe Nacht nicht aus dem Kopf. Also würde Agaldir über das weitere Schicksal von Mythenland bestimmen? Er war der Hüter des Lichtwurms? Dann war er ebenso ein Auserwählter wie die Gefährten.
Der tausendfache Tod ist das tausendfache Leben!
Noch ein Satz, an den Connor sich erinnerte. Er hatte ihn das erstemal gehört, als ihm auf der von Piraten gekaperten Amalia ein Wesen mit Reißzähnen und Peitsche gegenüber trat, welches sich später als Memorius herausstellte, einem Blinden Magister.
Bluma verfügte über magische Kräfte, Agaldir war ein Magister, Steve hatte magische Kräfte, Darius war ein Manndämon, Bob hatte mindestens zwei Visionen und er, Connor, mehrere. Bei ihm hatte sich die Zeit verlangsamt. Bob hatte die Drachen vorausgesehen. Genau genommen waren sie alle der Magie ausgeliefert.
Welchen Grund gab es, dass ausgerechnet sie sich begegnet waren?
Schicksal?
Daran wollte Connor nicht glauben.
Fügung?
Gab es da einen Unterschied?
Zufall?
Gewiss nicht!
Erneut kam es ihm vor, als spiele man mit ihm und mit den anderen Freunden. Er seufzte und richtete sich auf. Offensichtlich schliefen alle. Er war hellwach. Er schlich sich aus dem Stall und atmete die würzige Nachtluft ein. Er lauschte, ob er etwas von dem Golem hörte, doch es herrschte Stille, abgesehen vom Gesang der Zikaden. Vielleicht war der Golem, nachdem er einen Arm verloren hatte, weitergezogen und hatte seine Jagd aufgegeben. Möglicherweise war er an seiner Verletzung verstorben ...
Connor machte ein paar Schritte durch das feuchte Gras. Als er aufsah, schaute er in Maris Augen. Er stieß einen leisen erschrockenen Laut aus. Er hatte sie nicht gehört.
»Kannst du auch nicht schlafen?«, fragte sie mit singender Stimme.
»Es geht mir zu viel durch den Kopf.«
»Das dachte ich mir. Ich habe dich schon den ganzen Abend beobachtet und glaube, dass du ein sehr intelligenter Mann bist ...« Sie kicherte wie ein kleines Mädchen. »Auch wenn du nicht so aussiehst.«
»Aha?«, fragte er. »Wie sieht denn ein intelligenter Mann aus?«
Sie zögerte keinen Moment. »Wie Agaldir.«
»Ja, so sehe ich gewiss nicht aus«, gab Connor zurück. Mari duftete nach einem Öl, welches sie tagsüber nicht getragen hatte. Ein sinnlicher Duft, der Connor lächeln ließ. Sie gingen einige Schritte nebeneinander her und Connor konnte nur mit Geistesgegenwart verhindern, ihre Hand zu greifen. Auch er hatte Mari beobachtet. Sie war nicht so schön wie Lysa, denn sie war keine Amazone. Ihre Rundungen waren weich, wohingegen Lysa muskulös war wie eine Wildkatze. Maris Lächeln kam aus dem Herzen, während Lysas Gesicht von Trauer gezeichnet war. Mari war hochgewachsen, darin war sie Lysa ähnlich, doch wo bei der Amazone Kühle vorherrschte, wirkte Mari weich und willig wie ein duftendes Kissen.
Bei Gordur! Auf welche Gedanken kam er?
»Ich danke dir, dass wir bei dir nächtigen dürfen. Es bedarf einer Menge Schlaf, um über das Leid, das der heutige Tag verursacht hat, hinweg zu kommen.«
»Das habe ich gerne gemacht. Ihr habt mir großes Vertrauen erwiesen. Agaldir hat Recht, wenn er sagt, dass ihr sehr gute Freunde seid. Man merkt das, wenn ihr miteinander redet. Und wie es scheint, ist dir Lysa auch als Frau nicht egal, oder?«
»Sie ist eine wunderbare Frau ...«
»Aber eine Amazone. Bist du sicher, sie kann dich glücklich machen? Unterdrücken Amazonen ihre Männer nicht? Schau dich an, du Hüne. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich kleiner machst, als du bist.«
Connor blieb stehen. Er blickte sie an. Ihre Augen funkelten, ihre Lippen glänzten und als sie sie öffnete, lugten kleine weiße Zähne hervor. Ein Mund zum Küssen.
»Ich habe mit Lysa Dinge erlebt, mit denen man Bücher füllen könnte, mindestens fünf. Und stets war sie jemand, auf den ich mich verlassen konnte. Ich habe sie stark erlebt, aber auch schwach.«
»Was wünschst du dir von einer Frau?«, fragte Mari und ihr Zimtatem wehte zu ihm.
Connor wunderte sich über diese Frage, aber es war besser, so ein Gespräch zu führen, als die ganze Nacht in die Dunkelheit zu starren und auf den Sonnenaufgang zu warten.
»Nun ...«, überlegte er und grinste schief. »Zuerst soll sie mich lieben. Das soll sie mir auch zeigen. Sie muss anschmiegsam sein und tapfer. Wenn sie weinen will, soll sie es tun und ich tröste sie. Es wäre schön, wenn sie hin und wieder ein gutes Mahl bereitet und das Haus reinlich hält. Sie soll mit mir über alles sprechen, denn Freundschaft ist fast noch wichtiger als Liebe. Und sie soll ...« Er stockte und errötete.
Mari lächelte wissend. »Sie soll dir Leidenschaft schenken, ist es so?«
»Mmpf!«, sagte Connor und hätte fast gelacht, weil er sich wie Bob angehört hatte.
»Sie soll gut küssen können?«
»Ja ...«
»Und sie soll dich wärmen, wenn dir danach ist.« Mari war zu Feststellungen übergegangen. Ihre Lippen waren sehr nahe Connors. »Sie soll dir einen starken Sohn schenken. Sie soll dir den Rücken massieren, wenn du erschöpft bist. Sie soll dir ihre Reize dann bieten, wenn du sie begehrst.«
Connor durchflutete es heiß. Mari hatte Recht und voller Schreck erkannte er, dass er vieles gesagt hatte, was nicht zu Lysa passte und schwanger wurden Amazonen auch nicht.
»Sie soll dich streicheln. Sie soll dich liebkosen. Sie soll sich dir darbieten. Sie soll dich genießen und das auch zeigen. Du willst es hören und nicht vermuten.«
Ihre Lippen, bei Gordur, ihre Lippen. Weich und sinnlich, wie eine frische Frucht, rot und lockend. Ihr Blick fordernd, ihr Atem schwer, ihr Körper duftend, weich und rund und wunderschön.
»Störe ich?«
Connor und Mari fuhren herum. Mari strich sich die Haare aus der Stirn und sagte: »Nein, Lysa. Überhaupt nicht. Wir konnten beide nicht schlafen.«
»Und haben uns unterhalten. Über dies und das«, stammelte Connor. Am liebsten hätte er sich im Erdboden verkrochen.
»Aha, unterhalten ...«, meinte Lysa vielsagend. Ihr Blick wanderte von Connor zu Mari und zurück. »Eure Nähe wäre in Amazonien ein Grund für einen Zweikampf.«
»Ich verstehe nicht«, stotterte Connor. »Wir haben nur geredet.«
Mari machte zwei Schritte zurück, um Abstand zwischen sich und Connor zu bringen. »Seid ihr ein Paar?«
Lysa rümpfte die Nase und schleuderte Connor einen Blick zu, der ihn innerlich erbleichen ließ. »Aus uns hätte ein Paar werden können, möglicherweise. Aber nun will ich nicht stören. Ich meinte, etwas gehört zu haben und wollte nachschauen. Jetzt weiß ich ja, dass es sich nicht um wilde Tiere handelt.«
»Warte Lysa, ich komme mit. Ich bin auch müde.«
Sie fuhr herum und blitzte ihn an. »Ich denke, du kannst nicht schlafen?«
»Jetzt doch«, sagte Connor. »Am liebsten an deiner Seite.«
Sie betrachtete ihn ausgiebig und schüttelte langsam den Kopf. »Ihr Männer seid alle gleich. Das ist der Grund, warum wir die Männer nach unserem Bilde aussuchen. Starke, selbstbewusste Männer, die mit uns auf Augenhöhe sind und keine Jammerlappen, die sich wie kleine Jungs benehmen, wenn sie bei etwas Verbotenem erwischt werden. Nein, Connor ...«
»Nein? Nein was ...?«
Sie drehte sich weg. »Lass uns morgen darüber reden. Heute war ein schwerer Tag.«
Sie ging weg und Connor tapste hinterher wie ein Bär.
Mari verschränkte die Arme vor der Brust und ihr Blick folgte dem Barbaren und der Amazone. Sie lächelte.