12. Kapitel
Mutter Xentilos rührte in einem Topf, groß wie ein Badezuber für mehrere Menschen.
Rondrick beobachtete sie. Er hatte ein ungutes Gefühl. Seine Entscheidung war gefallen, dennoch war das Bevorstehende unheimlich. Zu gerne hätte er mit Jamus und Egg darüber gesprochen, doch die beiden hatten ihn sich selbst überlassen, was vermutlich auch gut so war.
Welche Fragen hätte Rondrick ihnen stellen sollen? Es war alles gesagt. Der König von Dandoria war sich seiner Verantwortung bewusst. Die Sumpfriesen waren auf dem Weg nach Norden. Es würde nicht mehr lange dauern und ihre gehörnten Schädel würden sich über die Bergkuppen schieben.
Das Ritual war für heute Abend angesetzt worden.
Talus und Okor wirkten sehr zufrieden und hatten sich zu einer Wanderung aufgemacht, um ihre Gedanken zu reinigen.
Wohin Rondrick blickte, sah er rege Betriebsamkeit. Kinder musterten ihn schräg, manche Riesen verneigten sich vor ihm, Riesinnen blinzelten ihm zu. Das war Rondrick peinlich. Liebe Güte, er war doch nur ein Winzling.
Nicht mehr lange! durchfuhr es ihn und er bekam eine Gänsehaut. Würde das Ritual schmerzen? Würden sich seine Gedanken, Empfindungen, Erinnerungen verändern, wenn er ein Riese war? Funktionierte so etwas überhaupt oder folgten die Steiner mystischen Gerüchten? Was, wenn sie einem Aberglauben aufsaßen und Rondrick sein Leben ließ? Was, wenn das alles nur ein großes Blendwerk war? Noch hatte er Zeit, das Riesental zu verlassen. Zu flüchten! Er würde nach Dandoria zurückkehren und an der Seite der schönen Grisolde herrschen. Er würde Balger, Syndar und alle anderen nach Unterwelt schicken, wie es schon befohlen war, und friedvoll leben.
Ich bin ein Träumer!
Gehörten Träumer nicht ebenso in diese Welt wie Krieger und andere Spezies? War nicht wichtig, einen Ausgleich zu schaffen? Was, wenn jeder Mensch, jedes Wesen gleich war? Sie mussten sich unterscheiden, nur so war Vielfalt garantiert.
Ich versuche, mir Dandoria schönzureden!
Andererseits war sein Herz hier. Jedes Mal, wenn sein Blick über das Tal schweifte, wenn er die grandiose Natur aufsaugte wie einen kühlen Trank, wusste er:
Hierher gehöre ich!
Er hatte von dieser Welt geträumt. Alles war grün, Bäche plätscherten, in den Seen spiegelten sich die Wolken, saftige Auen, soweit das Auge reichte, dahinter eine Bergkette, die von einem Künstler gemalt wirkte, der in Rondricks Seele geblickt hatte. Geysire, die regelmäßig ausbrachen und Dampf aus dem Erdreich schleuderten, heiße Quellen in felsigen Grotten, dunkle Wälder und stahlblaue Flüsse, dahinter im Osten begrenzenden Gletscher, deren Gipfel weiß leuchteten. Über dem Tal kreisten Habichte, Adler und fremdartige Tiere zogen über die Ebenen. Trotz der Schönheit war alles überzogen mit dem Gestank des Krieges. Selbst dieses Paradies kam nicht aus ohne Kampf, Blut und Tod! Fünfhundert Jahre hatten seine Riesen in Frieden gelebt. Dies war nun vorbei.
Seine Riesen?
Rondrick hatte keine Ahnung, inwieweit er den Riesen helfen konnte. Das würde sich finden – und vielleicht – dachte er wiederholt, war alles nur eine alberne Zeremonie, die nichts bewirkte. Möglicherweise genügte es den Steinern, dass er sich ihnen zur Verfügung stellte, ihnen vertraute. Sie würden den Zorn der Riesen trinken und es würde ein Gemetzel geben, welches Dandoria erschütterte. Dank Okor standen die Chancen gleich. Wozu also benötigten sie den Ron?
In Gedanken versunken bemerkte Rondrick nicht, dass sich der Tag neigte und sich Dunkelheit über das Tal legte. Baumstämme wurden aufeinander gestapelt und Feuer entfacht.
Rondrick suchte Jamus und Egg. Sie waren nirgendwo zu finden. Befanden sie sich schon auf dem Heimweg? Das wäre Wahnwitz. Balger, Syndar und seine Soldaten würden auf die Beiden warten. Jamus und Egg hätten ihr Leben verspielt. Bedeutete das für die Männer, sie mussten genauso wie er im Tal der Riesen bleiben? Für alle Zeiten, stets darauf bedacht, nicht von irgendwelche Füßen zermalmt zu werden, von herabstürzenden Steinen oder Baumstämmen? Für Menschen war alles hier auf Dauer viel zu groß – zu gefährlich. Ein umkippender Suppentopf konnte einen Menschen tödlich verbrühen, ein sich von der Wand lösendes Messer ihn zerteilen. Es gab unendlich viele Möglichkeiten, den Tod zu finden.
Es würde sein, als nehme man einen kleinen Hund ins Haus. In den ersten Tagen schaut man genau hin, um ihn nicht zu treten. Irgendwann vergisst man es und hört das Jaulen unter seinen Füßen.
Rondrick hatte vor Augen, was mit Magus Mortimor geschehen war. Heute wusste er, dass es ein Versehen von Talus gewesen war. Das nutzte Mortimer herzlich wenig. Was von ihm übrig geblieben war, konnte man beim besten Willen nicht mehr erkennen.
Talus und Okor kehrten zurück. Talus hatte seine Keule über die Schulter gelegt. Okor trug einen Hammer bei sich.
Rondrick wurde immer nervöser. Feine kalte Finger strichen über seinen Rücken. Alles in ihm wehrte sich dagegen, seine Menschlichkeit aufzugeben. War er ein Narr? Warum tat er das? Er zauderte, zögerte, lief unruhig hin und her, lehnte sich gegen Bäume, tapste wieder zurück, irgendwohin, er wusste bald nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Wo, um alles in Mythenland, waren Egg und Jamus? Er brauchte sie. Wozu? Um sich bei ihnen auszuheulen? Um sich von ihnen eines Besseren belehren zu lassen?
Nein – er musste alleine entscheiden. Aber die Entscheidung war gefallen, oder?
Ja! JA!
Trotzdem bin ich ein Mensch! Ich will ein Mensch bleiben!
Niemand sprang von einer Klippe, nur weil ihm irgendwer versprach, danach unsterblich zu sein oder ein Magus zu sein oder wer weiß was. Das war doch Irrsinn. Niemand verließ sich auf vage Versprechungen, wenn es um sein Leben ging. Es musste Beweise geben. Außerdem war das alles freiwillig. Rondrick war weder angeklagt, noch verurteilt.
Doch, ich bin verurteilt!
Kann man seinen Wächtern trauen? Von einer Sekunde zur anderen lief kalter Schweiß über den König. Er brabbelte vor sich hin, suchte nach der einen großen Erleuchtung, nach irgendetwas, dass ihm die richtige Antwort gab.
Liebe!
Die Riesen liebten ihn. Genügte das, um sich auf etwas Unvorstellbares einzulassen? War Liebe so stark, dass sie alle Grenzen sprengte? Und – liebte auch er die Riesen? Einseitige Liebe mochte schmeicheln, sollte jedoch nichts entscheiden.
Oder brauchten sie ihn? War das alles? Fürchteten sie sich vor einer Niederlage gegen die Sumpfer und erhofften sich von ihm jene Hilfe, die zum Sieg führte? Sie hatten versucht, ihn mit Logik zu überzeugen. Was war mit seiner Logik? Die passte genauso. Sie forderten von ihm, dem Weg der Vernunft zu folgen. Was, wenn das ganze Ron-hier-Ron-da-Getue nur inszeniert war, um ihn auf ihre Seite zu lotsen? Konnten sie sich überhaupt anders verhalten?
Nein – die Steiner dachten, nur mit Rondrick würden sie den Kampf gegen die Sumpfer gewinnen. Also würden sie alles tun, um das Ritual zu vollziehen. Notfalls mit Gewalt! Ja, mit Gewalt! Denn das war logisch!
Der Fels unter ihm bebte. Er sah nach oben. Talus beugte sich herab. »Bist du bereit, mein Häuptling?«
Rondrick fuhr zurück. Mit einem Mal hatte er schreckliche Angst. Talus sah nicht mehr freundlich aus, sondern wie ein Fleischberg, der ihn jederzeit zwischen den Fingern zerquetschen konnte. Okor malte mit Blut, liebe Güte... mit BLUT! Alles hier war archaisch, ohne Kultur, erdverbunden wie Lehm und Schlamm und Schmutz, außerdem stanken die Riesen.
»Habe keine Furcht«, flüsterte Talus.
»Wer garantiert mir, wer garantiert mir ...«
»… ob alles gut verläuft?«
»Ja!« Rondrick nickte heftig und Schweiß spritzte von seiner Stirn.
»Wir wissen es.«
»Bei den Göttern«, schrie Rondrick. »Ständig wisst ihr alles. Ich fordere Garantien!«
»Nur wer gibt, darf fordern.«
»Geschwätz, Talus.«
Der Riese hockte sich hin. »Ich verstehe, dass du dich fürchtest. Du gibst viel auf für uns, für dein Volk. Du beendest dein Menschenleben. Du glaubst, es sei Selbstmord, doch so ist es nicht. Du steigst eine weitere Stufe empor. Du bekommst ein langes Leben geschenkt und wirst doch immer der sein, der du jetzt bist. Allerdings ...« Er grinste »... mit ein paar neuen Erfahrungen.«
Rondrick biss die Zähne zusammen.
Talus streckte seine Handfläche aus. »Darf ich?«
Rondrick kletterte auf die lederigen Finger des Riesen. Auch seine Finger würden sich bald wie Leder anfühlen. Würde er ein ansehnlicher Riese sein? Würde sich seine ästhetische Sichtweise verändern? Empfand er dann etwas für dicke, runde Riesinnen, wohingegen ihm eine Menschenfrau wie Grisolde fremd war? Wie würde es sein, alles von einem erhabenen Blickpunkt aus wahrzunehmen, über Bergwipfel zu klettern wie Menschen über Hügel, Bäume aus dem Boden zu reißen als seien es Blumen.
Das Ritual würde stattfinden, begriff er. Unfreiwillig oder freiwillig. Er zog das Letztere vor, denn es bewahrte ihn vor Ressentiments, die er möglicherweise nie mehr los bekam.
Und er begriff, dass er glaubte.
Als Mutter Xentilos murmelte, klang es wie das Echo einer weit entfernt niedergehenden Lawine, vielleicht weit oben in den östlichen Gletschern von Dandoria. Andere Riesen fielen in ihren Singsang ein.
Rondrick saß in einiger Entfernung zum Feuer, welches ihn turmhoch überstrahlte. Es war heiß, was auch an dem Trunk liegen mochte, den Mutter Xentilos ihm verabreicht hatte.
Egg und Jamus nickten ihm aufmunternd zu.
Talus und Okor standen nebeneinander, die Arme vor die Brust verschränkt. Talus’ Anker schwankte von links nach rechts, Okors Totenkopfschmuck glühte weißrot im Flammenlicht.
Viele andere Riesen waren da, es mussten Hunderte sein. Sie grummelten, einige lachten. Eine Wand aus Leibern, die sich bis weit ins Tal erstreckte. Woher sie gekommen waren, wusste Rondrick nicht. Er wartete auf das feierliche Element des Rituals. Bisher war nicht viel geschehen. Er hatte einen Becher des Trankes geleert, während die magische Riesin über ihm thronte wie ein verwachsener Baum und mit den Händen seltsame Verrenkungen machte. Glaubten sie tatsächlich, mit diesem Hokuspokus würde sie etwas verändern?
Rondrick fragte sich, ob er erleichtert war. Vermutlich war er auch morgen noch ein ganz normaler Mensch. Nun gut – die Hauptsache war, es gab den Riesen Kraft für die sich nähernde Auseinandersetzung mit den Sumpfern.
Seine Augen wurden schwer.
Der Singsang der Riesin hatte etwas Einschläferndes, Hypnotisches. Er klang durchaus angenehm, auch wenn Rondrick keine Melodienfolge erkennen konnte. Ein tiefes Schwingen, das seinen Körper in Vibrationen versetzte.
Immer mehr Riesen drängten heran und gruppierten sich um Rondrick, Mutter Xentilos, Talus und Okor. Sie glotzten den Menschen mit weißen Augen an, einige grinsten – oder lächelten sie? – und fielen in den Singsang ein. Sogar Jamus und Egg schwangen hin und her wie Sonnenblumen im Wind.
Nun kam Bewegung in die Menge. Sie bildeten einen Kreis und stampften fast tänzerisch und sehr rhythmisch um das Feuer. Die Schallwellen liebkosten Rondrick und hoben ihn von seinem Sitzplatz hoch – jedenfalls kam es ihm so vor.
Blüten wogten hoch und schwebten über ihren Köpfen. Blüten von Sonnenblumen und rotfarbige Blätter wirbelten in unvorstellbaren Wolken von Glühwürmchen, die wie Trugbilder zwischen den Riesenkörpern umher schwirrten. Licht erhellte die Szenerie, ein Licht, das von oben kam. Als hielte jemand eine Laterne über Rondricks Kopf, nur war das Licht um vieles stärker, weißer.
Ich hätte mir etwas Schlaf gönnen sollen, dachte er. Konnte es sein, dass er mit offenen Augen träumte, dass er den Anstrengungen der letzten Tage Tribut zollte? Nein, letzte Nacht hatte er gut schlafen und war erfrischt erwacht. Wie mochte es Egg und Jamus gehen?
Seine Freunde lächelten, nein – richtiger war, dass ihre Gesichter strahlten. Sie sahen glücklich aus wie Kinder.
Rondrick spürte, dass sich dieses Gefühl auf ihn übertrug.
Einigkeit!
Liebe!
Gleichklang!
Harmonie!
Blätter rauschten und Wind kam auf. Die Atmosphäre veränderte sich und die Riesen bildeten eine Gasse. Triomos war aufgestanden. Er überragte alle Riesen um ein mehrfaches, war gigantisch wie ein Gott. Er schwankte vorsichtig zum Feuer und beugte sich herab. Seine Nase bebte, er schnüffelte und öffnete seinen Mund, als wolle er lachen, was, den Göttern sei Dank, unterblieb.
Selbst Okor starrte den Giganten ehrfürchtig an. Triomos zog seine Axt hinter sich her und stützte sich darauf wie alter dicker Mann, der kaum noch laufen konnte. Lehm und Erdbrocken rieselten von seinem Körper. »R-O-O-O-N!«, kam dieses eine Wort aus Triomos’ Mund. Volltönend, als hätte eine Armee gleichzeitig in Fanfaren geblasen.
Seine Artgenossen klatschten. Triomos trat zurück und die Riesen setzten ihren stampfenden Gang um das Feuer fort.
Das Licht von oben war wie eine Röhre, die Rondrick aufnahm und ihn nun tatsächlich hoch hob. Der König von Dandoria versuchte, sich von innen gegen die erleuchteten Wände abzustützen, denn er fürchtete zu fallen. Seine Finger griffen durch das Licht, die Wände waren unspürbar und transparent. Wolken von Glühwürmchen tanzten um das Licht und bildeten eine Wolke aus leuchtendem Gleißen.
Egg und Jamus sprangen auf. Rondrick hörte nicht, was sie sagten, doch er sah sie gestikulieren. Wirkten sie ängstlich? Nein, sie wirkten wie ...
Ja, wie was eigentlich?
Er legte den Kopf zurück und schloss zufrieden seine Augen. Sollten die Steiner ihre Zeremonie ausüben, er würde schlafen, sich ausruhen. Es war weder warm noch kühl, alles um ihn herum war Mutterleib. Rondrick war das erste Mal in seinem Leben vollkommen glücklich. Hätte er Frieden und Harmonie definieren sollen, wäre seine Antwort gewesen:
Jetzt!
Er war schwerelos, seine Seele befreit von Gewicht, auch der Tod hätte ihn nicht schrecken können. Alles schwang im Gleichklang, ein mildes Ebenmaß, welches anmutig summte. Einzelne Gedanken versuchten ihn zu stören, Fragen, die er stellen wollte. Er hörte sich lachen. Fragen waren unwichtig. Es zählte nur die Gegenwart. Seine Haut kribbelte. Kitzelte ihn das Gespann von Sonnenstäubchen, der Feenwelt Entbinderin, wie ein großer Dichter es gesagt hatte? Würde er zur Welt kommen wie ein Kitz mit wackeligen Beinen und feinem Fell?
Bei den Göttern! Er phantasierte, währenddessen um ihn herum die Riesen tanzten und sich die Gesichter von Egg und Jamus verzerrten, zerliefen wie Wachs, bis nichts mehr da war, wie es in Träumen üblich ist. Talus hatte Recht behalten. Er, Rondrick, gehörte in dieses Tal. Kein Festbankett konnte solche Eindrücke vermitteln.
Er vernahm den Atem der Riesen und lauschte ihren Herzen. Erinnerungen, so weit wie das Land, Füllhörner des Wissens und weitgesteckte Mosaike einer großen Kultur. Er sah Wiesen und Wälder, Gebirge und Küsten und drang ein in die Höhlen der Artefakte, Kathedralen aus Stein, in denen Wächter seit Äonen unbeweglich, mit sich im reinen, die Vergangenheit bewahrten.
Noch nie hatte Rondrick einen derart angenehmen Traum gehabt. Er tauchte ein in Wärme, die ihn umschloss wie eine vornehm gewobene Decke. Irgendwo sang Mutter Xentilos, weit entfernt, dennoch drang ihre Stimme in sein Wesen. Das also hatte Talus ihm versprochen? Einen Traum, wie er ihn nie wieder träumen würde? Nun – das war es wert! Denn es führte Rondrick zu sich selbst, erinnerte ihn an sich und seine Wünsche und an das, was er so lange gesucht hatte.
Liebe!
Wie jeder Traum würde auch dieser enden. Doch wann? Rondrick träumte, dass er träumte und begriff im selben Moment, dass dies nicht so war. Was geschah, war existent. Er schwebte im Lichtkegel, die Riesen tanzten, stampften, sangen und Mutter Xentilos murmelte magische Sätze.
Nachdem die Sicherheit des Traums vergangen war, bekam Rondrick es mit der Angst zu tun. Etwas hatte sich verändert, aber er konnte nicht sagen, was. Er versuchte, ans ich hinab zu blicken, doch sein Kopf wollte und wollte sich nicht bewegen. Er fing an sich zu drehen, immer schneller. Erstaunlicherweise wurde ihm nicht schwindelig, denn die Lichthülle legte sich wie eine schützende zweite Haut um seinen Körper. Er wirbelte herum, nun auch in einem Tanz, den er nicht selbst bestimmte.
Und seine Angst verging.
»Nurrmar ollagorr drrrot!«, rief er in einer Sprache, die nicht seine war. Solange er denken konnte, redete er in der Hohen Sprache der Menschen. »Nurrmar korrrol drrrot!« Seine Lippen bewegten sich, aus seiner Kehle drangen dumpfe knurrende Laute. Alles um ihn herum verlor seine Konturen, er war Licht und das Licht war er.
Wurde so ein Gott geboren?
Erhielt er Antworten auf Fragen, die Menschen seit jeher stellten?
Zwei Gedanken, die genauso schnell verschwanden wie sie gekommen waren. In einer Korona aus Energie löste sich seine menschliche Gestalt auf, formte sich zu etwas Neuem. Er selbst bekam es nicht mit. Er schwebte, wirbelte, seufzte, reckte sich losgelöst von Zeit und Raum. Jegliches Geräusch war verstummt, wohin er zu blicken versuchte – er sah nichts anderes als irisierende Farben, die ihn streichelten, eine warme Anmutung hatten, ihn willkommen hießen.
Plötzlich blickte er in sein Gesicht und war erstaunt, was es dort zu lesen gab. Konnte es sein, dass noch ein Rest Zweifel an ihm nagte? Dachte er wirklich, er sei ein Mensch? Der verdrossene junge Mann, den er sah, tat ihm Leid. Er argwöhnte, diese Gegenüberstellung stelle eine Probe dar. Das war lächerlich. Unweigerlich musste er an Grisolde denken und an seine Minister und an Dandoria. Er begann zu lachen, lauthals zu lachen.
»Nurrmar korrrol drrrot!«, knurrte er und lachte weiter.
Erwartungsgemäß verschwand das Bild. Die Energie seiner Ummantelung drang in jede seiner Fasern ein, erfüllte ihn mit einer Kraft, von deren Existenz er nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Auf einer tieferliegenden Ebene wusste er, dass er wuchs. Dass sein Körper sich veränderte. Hatte er Schmerzen gefürchtet, wurde er eines Besseren belehrt.
Sein Herz pochte laut und schloss sich dem regelmäßigen Stampfen der Steinriesen an. Ein Rhythmus, der Takt des Lebens. Es pumpte langsamer und langsamer, wuchs und schickte Unmengen Blut durch seine Adern. Der Prozess geschah gleichmäßig und mochte so unangenehm sein, wie ein Baby seine Geburt erlebte. Er hatte aufgehört, darüber nachzudenken. Er ritt auf den Wellen seiner Umgestaltung und jubilierte.
Eine Form der Metamorphose aus dem Leib in die Welt, an die er sich vermutlich nicht mehr erinnern würde, war sie abgeschlossen. Das ahnte er, deshalb genoss er jeden Atemzug. Atemzüge, die seine Brust schwellen ließen, seinen gigantischen Körper erbebten. Unter seinen Füßen spürte er Fels, dennoch hatte sich sein Blickpunkt kein bisschen verändert. Er überragte fast jeden der anderen Riesen, abgesehen von Triomos.
Ohne dass er den Übergang gespürt hätte, verschwand das geheimnisvolle Licht und Mutter Xentilos beschloss ihren Gesang. Hunderte Riesen starrten ihn an. Weit unten, sehr klein, sah er Jamus und Egg, deren Augen aufgerissen waren wie Seen.
Er nickte sehr langsam, machte einen donnernden Schritt und führte seine Schulterblätter zusammen. Er war nackt, doch das störte ihn nicht. Er konnte sein, wie er wollte.
»Nurrmar korrrol Rooooon!«, brüllte er und nicht wenige aus seinem Volk beugten die Köpfe und wiederholten, was er gesagt hatte: »Rooooon! ROOOOON!«
Später kam es ihm vor, als habe das alles nur Sekunden gedauert, erst Jamus sagte ihm, seine Veränderung habe mehr als drei Stunden gedauert. Da wusste Ron, der Riese, dass sich sein Zeitgefühl verändert hatte. Sein Herz schlug einen langsameren Takt der Zeit.
Man hatte ihn bekleidet. Leder, Leinen, Schnüre.
Er fürchtete sich, nach einem Spiegel zu verlangen. Fürchtete, der Schock würde ihn töten.
Zuerst versuchte er, seine veränderte Wahrnehmung mit dem in Einklang zu bringen, was er als Mensch gekannt hatte. Er sah Farben, die er nie erblickt hatte. Er entdeckte, dass der Himmel nicht blau war, sondern von einer Vielzahl Farben durchzogen, die sich mischten. Seine laute Stimme nahm er als angenehm wahr. Seine Ohren vernahm Dinge, die sich hinter den Wälder abspielten, das Gehör einer Raubkatze. Lediglich sein erhöhter Blickpunkt verwirrte ihn. Er versuchte erste Schritte und strauchelte. Ihm wurde schwindelig, als ginge er auf Stelzen, wie es die Diebe von Dalven zu tun pflegen, wenn sie in das Schlafgemach eines Adeligen eindringen.
Ansonsten waren alle Bewegungen proportional richtig. Da diese Welt für Riesen vorgesehen war, erkannte er erleichtert, dass ein Topf wieder aussah wie ein Topf und eine Heimstatt wie eine Heimstatt.
Lediglich Jamus und Egg wirkten wie Haustiere, kleine Hündchen, die um seine Füße streunten. Ron betrog sich, indem er sich vorstellte, auf einem Berg zu stehen und zu seinen Freunden hinab zu schauen. Als er sich jedoch bückte und Jamus auf seine Handfläche nahm, begriff er, was das Ritual mit ihm angestellt hatte.
Nicht zuletzt die fremden Gedanken waren es, die ihn zu dem machten, was er war. Hier gab es Rondrick von Dandoria, der wie ein fröhlicher Singvogel weit hinten in seinem Verstand trillerte, dort gab es Erinnerungen und Sichtweisen, die neu waren. So neu, dass sie schmerzten. So frisch, dass er fürchtete, wahnsinnig zu werden. Zwei Erinnerungen, zwei Wesen in einem. Wie sollte er das dauerhaft ertragen?
Er sah Ronius’ Kindheit, seine erste Liebe und den Kampf gegen Jorgul. Er sah, wie er zu früh starb. Er sah die mitleidigen Augen von Okor über sich, der ihn zu heilen versuchte. Er sah das Ende und den Neubeginn.
Als ihm klar wurde, dass er sich selbst – oder das, was er gewesen war – verlieren würde, hockte er sich hin und weinte. Das hatte er nicht gewollt. Er wollte beides. Seine menschliche Existenz bewahren und die des Riesen gewinnen. Nun erfuhr er, dass beides nicht möglich war. Bei den Göttern, warum hatte er vorher nicht gefragt?
Hätte er sich anders entschieden?
Hätte er sich anders entscheiden können?
Er konzentrierte sich auf das, was neu war und gut und absonderlich. Er erhob sich und brummte, dass das Tal bebte. Er spannte seine Muskeln und musterte seine Arme. Umfangreich wie Baumstämme, haarig und muskulös. Er war ein Gigant. Er konnte tun, was er wollte. Er war mächtig wie ein Gott.
Er war der Versuchung ausgesetzt.
Macht!
Nein, noch immer ging Recht vor Macht! Damit deckten sich seine Gedanken und die von Ronius. Er erinnerte sich, dass ein Sumpfer vor dem Kampf zu ihm gesagt hatte, das sei Unsinn. Mit einer Handvoll Gewalt komme man weiter als mit einem Sack Recht.
Ronius hatte gelacht. Er habe große Hände, hatte er gesagt und den Sumpfer stehen lassen, um den Kampf zu beginnen. Um für fünfhundert Jahre Frieden zu schaffen. Er wurde zum Häuptling gewählt und alle nannten ihn Ron.
Hin und wieder kamen Dichter und Denker, kluge Menschen, in das Tal der Riesen. Sie disputierten, fanden innere Ruhe und tauschten sich mit den Giganten aus. So befruchtete man sich mit Bildung und schuf Wissen. Niemand fragte, wie es den Menschen gelungen war, ins Tal zu kommen, wohingegen es sonst niemandem gelang. Weil niemand darüber nachdenken brauchte.
Sie hatten Symbylle.
Symbylle, die Unendliche.
Symbylle, die schuf.
Also genoss man den Austausch und hatte den Sumpfern, diesen tumben Riesen, etwas voraus. Ron hatte oft darüber gesprochen, ob diese Sichtweise nicht von maßloser Arroganz sprach?! Das würde man niemals ändern können, sagte einer. Der Kluge schaut immer auf den Beschränkten hinab, denn nichts hasst er mehr als Dummheit.
Ron war sich nicht sicher gewesen, ob er dies auch so sehen sollte.
»Deine Gedanken schweifen ab?«, fragte Jamus zu seinen Füßen. Seine Stimme klang leise und schrecklich hell.
»Wieso?«, fuhr Ron auf.
Egg lachte. »Man sieht es dir an. Wessen Gedanken sind es. Deine oder Rons?«
Es waren die von Ron, erkannte Ronius bitter. Sie erkämpften sich den Weg an die trübe Oberfläche seines Denkens wie Perlentaucher, die in einen Unterwassersturm geraten waren. Sie verdrängten Rondrick von Dandoria.
»Werde ich meine Menschlichkeit völlig verlieren?«, fragte Ron traurig. »Werde ich mich bald nicht mehr an meine Existenz als Mensch erinnern können?«
Jamus zuckte mit den Achseln. »Da musst du ihn fragen.«
Talus setzte sich neben Ron. »Mein Häuptling, ich verstehe deine Fragen. Ich weiß es nicht. Was ist so wichtig daran, deine Menschlichkeit zu bewahren?«
Rons Kopf ruckte herum. Er fasste sich ins Gesicht und spürte zwischen seinen Fingern einen mächtigen Bart. Mit den Fingerspitzen tastete er seine Zähne ab. Sie waren alle da, keine Lücken. »Was daran so wichtig ist?«
»Mmh«, grunzte Talus.
»Identität!«
»Unsinn. Was ist das schon? Bei gleicher Identität lebt doch jeder trotzdem in einer anderen Welt.«
»Ja, aber er ist er selbst.«
»Glaubst du wirklich, von deinem Menschenbild so verschieden zu sein?«
»In der Tat! Schau mich an!«
Talus kicherte hinter vorgehaltener Hand und Ron fragte sich, warum.
»Du wirst stets nur sein, was du dir vorstellst, Ron. Wenn du den Frieden liebst und die Harmonie, bist du ebenso gut wie ein menschlicher Rondrick. Wenn du böses denkst, bist du ebenso schlecht wie der Lord der Unterwelt.«
»Und was ist mit meinen Erinnerungen?«
»Wohin haben sie dich gebracht? Wie reichhaltig sind sie? Sind sie kostbar? Die paar Nächte mit deiner Grisolde etwa? Als Ronius wirst du Erinnerungen haben, die um ein vielfaches wertvoller sind, als die deines kleinen Menschenlebens.«
»Man sagt auch, die Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann. Doch bei mir ist das anders. Ich wurde vertrieben.«
»Um ein neues, besseres Paradies zu finden.« Talus grunzte. »Was steht am Ende eurer Erinnerungen, ihr Menschen? Ihr sucht und findet nicht, ihr hadert, anstatt zu danken. Ihr tötet, anstelle Frieden zu halten. Ihr seid von Geburt an gut und werdet im Laufe eurer kurzen Zeit böse und schlecht.«
»Nicht alle!«, schrie Jamus.
Talus nickte. »Das mag sein, jedoch die Historie von Mythenland erzählt anderes.«
Egg begehrte auf. »Auch eure Historie. Denke an die Sumpfer, die sich nähern.«
Ron sagte erstickt: »Meine Erinnerungen sind wertvoll. Sie machen mich aus.«
Talus drehte gequält den Kopf weg. Er murmelte: »Ich kann dein Problem nicht lösen, mein Häuptling. Es ist so wie es ist.«
Ron schwieg. So war es. Man mochte noch so viel darüber sprechen, es änderte nichts daran, dass er auch im Geiste zu Ronius, dem Riesen wurde. Vielleicht war das gut so. Wie konnte ein Verstand mit zwei Identitäten leben? Er erinnerte sich – und es fiel ihm immer schwerer – dass es am Rande von Dandoria ein Haus gab, in dem Menschen vegetierten, bei denen genau dies der Fall war. Man nannte sie Verrückte. Zweigespaltene!
Er streckte Jamus und Egg seine Handflächen hin. Sie kletterten jeweils auf seinen Unterarm. Er nahm sie hoch und drückte sie an seine Brust, sehr vorsichtig, wie man es mit ...
... mit?
Katzen!
machte. Sehr zärtlich. Ganz leise sagte er: »Ich werde euch nie vergessen, meine Freunde. Weder eure Tapferkeit, noch eure Loyalität. Ich weiß nicht, was ich euch raten soll. In ...« Er deutete ein Achselzucken an, dann entspannte sich seine Miene. »In Dandoria wird euch der General mit seinen Männern erwarten und bestrafen. Hier ... » Er seufzte. »Ich wusste nicht, was ich euch antat.«
»Vergesse uns nicht«, sagte Egg mit seiner hohen Stimme, die so gar nicht zu seinem Äußeren passen wollte.
Jamus nickte und sein Kopf war in Rons Augenhöhe. »Behalte uns in Erinnerung, mein König. Wir werden noch eine Weile bleiben. Bei den Göttern, ich will sehen, wie du den Sumpfern den Arsch versohlst! Das wird eine tolle Geschichte, über die ich Lieder singen werde. Und irgendwann berichte ich dir auch, wie ich zu den Drachen gekommen bin.«
»Drachen?«, wollte Ron wissen. »Welche Drachen?«
»Die Dracheneier. Ich brütete sie aus. Das war eine zeitraubende und schwierige Angelegenheit, dennoch brachte ich alle drei zur Welt. Sie lebten bei mir. Ich versprach ihnen, sie zu beschützen. Sie nannten mich den Beschützer, wie ich in ihren Köpfen las.«
Egg sah ihn verwundert an. »Du kannst mit Drachen denken? Das können nur sehr wenige!«
Jamus nickte. »Na klar!«
»Dracheneier?«, fragte Ron. »Erzähle mir die Geschichte.«
Jamus drückte sich an den Riesen und tätschelte ihn. »Das mache ich gerne, mein König.«