17.Kapitel
Die Lohengeister machten sich bereit, ihre Opfer in sich aufzunehmen. Sie würden die Gefährten fressen, sich einverleiben. Denn sie waren hungrig.
Im selben Moment hob sich die Scholle und fiel wieder zurück. Das war schon einmal geschehen und hatte einem Zittern geglichen. Danach hatte die Scholle sich beruhigt. Nun war es sehr viel intensiver.
Die Lohengeister wichen einen Schritt zurück. Man konnte meinen, ihre Fratzen veränderten sich. Blickten sie furchtsam?
Erneut hob sich die Scholle, diesmal an der anderen Seite.
Connor stürzte, Frethmar rutschte an die Kante der Scholle und verschiedene Utensilien klatschten ins Wasser. Schreie hallten über das Eis. Jeder hielt sich am anderen fest, Lysa krallte sich an die Eiskante, Bob auch, während er mit dem anderen Arm seine Bama festhielt. Eine der Amazonen, es war Mysala, rutschte ins Wasser. Sie versuchte krampfhaft, sich wieder auf die Scholle zu ziehen, doch die Kante war zu hoch. Sie schlug im eiskalten Wasser um sich und versank schweigend.
Die Scholle schwankte und hob sich zur anderen Seite.
Sie rutschten unter den Lohengeistern weg, die irritiert wirkten. Sie ruckten zurück und aus dem Augenwinkel sah Bob, dass sie Lydias Leichnam einverleibten. Ihre kalten Flammen züngelten um die Tote, dann war die Leiche verschwunden.
»Seid ihr endlich satt?«, schrie Bob zornig, bevor die wackelnde Scholle dafür sorgte, dass er den Rest seines Fluchs verschluckte.
»Festhalten!«, brüllte Connor. »Versucht euch, irgendwo festzuhalten!«
»Ich kann nicht!«, kreischte Bama.
»Ich hasse diese Scholle!« Frethmar hatte seine Axt in das Eis geschlagen und klammerte sich am Stiel fest. Er reichte Connor die Hand, der um Haaresbreite der ertrunkenen Amazone ins Wasser gefolgt wäre.
Unter ihnen brodelte und tobte es. Geräusche, die jenen ähnelten, die sie beim Mahlstrom gehört hatten. Für ein paar Atemzüge legte sich die Scholle waagerecht. Es schien, als sei der Alptraum vorüber. Doch das war ein Irrglaube. Der Alptraum begann erst.
Die Scholle drehte sich um die eigene Achse, trudelte schneller und schneller. Die Gefährten krochen in die Mitte, doch je schneller sich die Scholle drehte, desto mehr wurde sie an ihren äußeren Rand geschleudert. Hilflos rutschten sie immer weiter Richtung Wasser und Lohen.
Die Geister huschten weiter zurück, einige beugten sich ins Wasser hinein, wo Mysala versunken war, als suchten sie nach den Überresten der Amazone.
»Die Scholle sinkt!«, schrie Lysa.
So war es. Connor rutschte an den Rand. Er hielt sich mit weit ausgestreckten Händen an einer Eiswand fest, die sich empor schob, was daran lag, dass die Scholle sank. An den Rändern bäumte sich Eis auf, höher und höher und die Scholle verlangsamte ihre Drehung.
Die Lohengeister über ihnen öffneten ihr gleißendes Dach und man sah den Nachthimmel. Was es auch war, sie fürchteten sich, vor dem, was geschah. Sie rückten von der Scholle zurück, während diese immer tiefer sank. Dann waren sie nicht mehr zu sehen, lediglich ihr Licht überstrahlte die Szenerie noch eine Weile.
Blitze schossen über das Eis, waberten über die Oberfläche, legten sich über die Gefährten und alles, was noch auf der Scholle lag. Über ihnen verschoben sich die Himmelsfarben. Grün und violett, grau und hellrot, miteinander durcheinander in relativer Dunkelheit, von Blitzen durchzogen, ohne das es donnerte.
»Wie auf dem Meer«, rief Bob.
»Ja, die gleichen Blitze!«, rief Frethmar zurück.
Das Tosen unter ihnen ließ nicht nach, obwohl die Scholle zum Stillstand gekommen war. Wie sie es schon einmal erlebt hatten, legten sich die Blitze wie ein fließend glühender Teppich auf das Eis und um ihre Füße.
Sie rappelten sich auf, unsicher und rutschend.
Connor krabbelte auf allen vieren zur Mitte. »Beim allmächtigen Gordur, der sich im immerwährenden Streit mit den anderen Göttern befindet - was geschieht hier?«
Er musste nicht auf die Antwort warten.
Das sie umschließende Eis wurde durchsichtig wie Glas, waberte wie Luft über Feuer und löste sich auf. Die Gefährten klammerten sich aneinander. Sie starrten auf das Eis.
»Es verschwindet«, keuchte Frethmar. »So, wie die Lotus verschwunden ist.«
Kalte Feuer züngelten über die Scholle, die nun auch ihre Konsistenz verlor und durchsichtig wurde. Unter ihnen wirbelten Lichter, kreiselten und funkelten wie ins Meer gefallene Sterne. Es wurde dunkel. Das Licht über ihnen verschwand, als habe ein Gott seine Hand vor die Sonne geschoben.
Dann geschah eine ganze Weile nichts.
Sie schwebten in einem grauen Niemandland. Alles war grau, sie selbst auch. Kein Oben, kein Unten, nichts an den Seiten. Schwerelos im grauen Raum.
»MOMMA!«, hallte ein Ruf über die Szenerie.
Bama fuhr hoch. Ihr Gesicht war bleich wie Schnee. »Habt ihr das gehört?«
Connor nickte.
Dann öffnete sich ein Himmel über ihnen und Sterne funkelten herab. Sie sahen Wasser, auf denen sich das Mondlicht spiegelte.
»MOMMA!« Der Ruf hüpfte wie ein aufs Wasser geworfener flacher Stein über die Lichter zu ihnen.
Das Wasser verschwand, genauso wie der Himmel. Erneut umgab sie Eis.
Bob raufte sich dir Haare. »Ich höre es auch. Das ist unsere Bluma. Sie ruft uns!«
Sie starrten sich an. Ihre Gesichter sprachen Bände.
»Das ist Magie«, stieß Lysa hervor.
»Wir sind hier, Momma, Bobba! Kommt zu uns. Ihr braucht euch vor meinem Freund nicht zu fürchten!«
»Ruhe bewahren«, knurrte Connor. Er richtete sich auf und formte aus seinen Händen einen Trichter. »BLUMA! WIR SIND IN DEINER NÄHE!«
Lysa zuckte zusammen. Als Connors Ruf verhallt war, lauschten sie. Der Geruch veränderte sich. Unter ihnen schoben sich Holzbohlen zusammen, Stück für Stück krachten die Planken zusammen, formte sich etwas und das Eis löste sich vollends auf. Ein Funkenwirbel schoss von oben auf sie herab und umschloss ihre Körper wie eine zweite Haut.
Wusch!
Es war vorbei.
Stille.
Schweigen.
Kein Laut. Schmerzende Ruhe, dick wie Brei.
Sogar ihren eigenen Atem vernahmen die Gefährten nicht.
Sie waren körperlos, schwerelos.
Wusch!
Licht wallte auf.
Brach über sie wie eine Welle.
Bob kniff die Augen zusammen. Zuerst wirkte es wie ein Spuk. Vor den ins Meer zuckenden Blitzen erhob sich eine scharf gezeichnete Silhouette. Ein Schattenriss, der erst auf den zweiten Blick erkennbar war.
»Die Lotus«, sagte er mit zitternder Stimme. »Die Lotus!«
»Liebe Güte …«, stammelte Lysa und sah zu den Segeln hoch. »Wir sind – wir sind …«
»Auf der Wing«, sagte Frethmar.
»Zurück auf der Wing«, sagte Bama, als würde es durch die Wiederholung fassbarer.
Sie starrte sich an.
»Dass gibt’s nicht …«, murmelte Frethmar.
Connor nickte und sein Gesicht zog sich in die Breite. Er fing an zu lachen. Ein raues männliches Lachen, das deplaziert wirkte und dennoch seine Wirkung nicht verfehlte.
»Magie«, flüsterte Lysa. Sie wirkte wie erstarrt, dann hüpfte auch ihr ein Lachen über die Lippen. Bob und Bama fielen ein, zuerst zögernd, dann lauter. Sie tanzten auf und nieder, umfassten sich, drückten sich, jubelten und weinten. Die Anspannung bahnte sich ihren Weg. Sie waren den Lohengeistern entkommen und dem tödlichen Eis. Die Gefährten kreischten und kicherten, hielten sich ganz fest, bis Lysa sich abrupt losmachte.
Sie zählte ihre Mannschaft, dann noch einmal und senkte den Kopf. »Sie sind nicht zurück. Sie sind nicht zurück…«
Bama begriff. »Lydia und Mysala?«
Lysa seufzte. »Ich hoffte …«
Connor legte seinen Arm um ihre Schulter und die Amazone ließ es geschehen. »Unser Abenteuer im Eis war kein Traum, Lysa. Es war real. Was es noch unheimlicher macht. Es tut mir Leid.«
Lysa legte für einen Wimpernschlag ihren Kopf an seine Schulter.
»MOMMA!«
Der Schrei ließ sie hochfahren.
Nicht weit entfernt ragte ein schwarzes Schiff vor ihnen auf. Sie hatten die Lotus wieder gefunden. Die Lotus und Bluma.
Sie nahmen Bluma an Bord.
Ihr folgte ein junger Mann, der jeden freundlich begrüßte. Sein Name war Darius Darken.
Bluma drückte ihre Tochter an sich. Sie küssten und herzten sich. Bob tat es ihr nach. Bluma stammelte und fragte und wollte wissen, doch Bob meinte, es sei besser, es langsam gehen zu lassen. Später, später mehr. Zuerst einmal müsse man sich freuen. Man sei wieder zusammen. So vieles sei geschehen, unglaublich vieles. Alles zu seiner Zeit.
Bob sah, dass seiner Tochter Übles schwante, vermutlich dachte sie an ihren kleinen Bruder, doch sie beließ es erst einmal. Das war das erste Mal, dass Bob sie erlebte, ohne dass sie nachhakte und auf der Stelle wissen wollte. War das noch seine Tochter? Sie wirkte seltsam verändert.
Der schwarzhaarige Mann stand daneben. Sein hübsches Gesicht drückte Freude aus. »Sie ist ein gutes Mädchen. Ich bin stolz auf sie«, sagte er.
Connor, Frethmar und Lysa stellten sich vor. Bluma sah von einem zum anderen. Ihre großen Augen nahmen wahr, doch ihr Verstand weigerte sich noch, Dinge zusammen zu setzen. Wie auch?
»Zuerst dachte ich, die Blitze hätten euch verschluckt«, stammelte sie. »Plötzlich wart ihr verschwunden. Aber nur eine kurze Zeit.«
»Eine kurze … was?«, fragte Frethmar.
Bluma schüttelte den Kopf. »Menschen würden sagen, für ein paar Minuten. Drei oder vier vielleicht … dann lichtete sich das Gewitter und wir sahen euch wieder.«
Darius fand Connors Blick. »Es war länger, nicht wahr?«
Connor nickte. »Du sagst es, Schönling. Mehr als zwei Tage.«
Darius lächelte. »Ich glaube, ich weiß, was geschehen ist.«
»Dann solltest du es erklären«, gab Connor zurück.
»Das werde ich«, versprach Darius.
Frethmar gesellte sich zu Darius, während Bluma gefeiert wurde. Bob und Bama nahmen sie mit ins Unterdeck, in die Kabine. Zwischen ihnen gab es viel zu besprechen.
Lysa sah den Barbs hinterher. Dann fiel ihr Blick auf Darius. »Wir sahen eine große Gestalt. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen …«
»Red nicht drum herum«, fuhr Frethmar dazwischen und sein lauernder Blick ließ Darius keinen Moment los. »Es war eine sehr hässliche große Kreatur an Bord, ich würde wetten, es handelte sich um einen Dämon.«
Darius lächelte verbindlich. »Wie gesagt– es gibt vieles zu berichten und zu erklären.«
»Das ist keine Antwort, Mann«, schnappte Connor.
Darius machte eine offene Geste, die Handflächen nach oben. »Bluma ist meine beste Freundin. Wir vertrauen uns.« Er musterte einen nach dem anderen. »Das sollte vorerst genügen.«
Frethmar brummte und kratzte seinen Bart.
Connor sagte: »Einverstanden, Schönling. Doch noch bevor es Tag wird, wissen wir, was hier gesehen ist.«
»Bist du der Kapitän dieses Schiffes?«, wollte Darius wissen.
Connors Kinn zeigte auf Lysa. Darius verneigte sich vor ihr. »Es ist mir eine große Ehre, mit Euch zu reisen, Kapitän.«
Wurde Lysa rot? Connor hätte darauf gewettet.
Darius fragte: »Ihr seit seltsam gekleidet. Überhänge aus Segeltuch?«
»Warte ab«, sagte Frethmar. »Du wirst dich wundern. Glaube nicht, dass wir stets so aussehen.«
»Ich dachte er mir«, sagte Darius. »Ich nehme an, du bist ein Zwerg?«
»Ja.«
»Und du bist ein Barbar?«
»Weiß ich nicht!«
Darius zog die Augenbrauen zusammen, als überlege er, ob der Hüne dies wirklich so meinte oder unhöflich war.
»Und Ihr, Kapitän?«
»Meine Mannschaft und ich kommen aus Amazonien.«
»Aha. Eine illustre Truppe. Mir scheint, ihr habt manches miteinander erlebt.«
Aus dem Zwischendeck drang ein heller klagender Laut. Lysa seufzte und schloss ihre Augen. Darius blickte fragend. »Ihr kleiner Bruder wurde bei einem Drachenüberfall getötet. Vermutlich hat sie es soeben erfahren.«
Connor bewegte sich. »Man sollte Bob und Bama helfen. Die Ärmsten sind völlig entkräftet. Und nun das.«
»Warte.« Lysa hielt ihn am Ärmel fest. »Bama und Bob sind ihre Eltern. Es ist ihre Aufgabe, zwischen Freude und Leid zu entscheiden. Sie kennen ihre Tochter am besten. Glaube mir, die Freude wird letztendlich überwiegen.«
»Das sehe ich auch so«, sagte Darius. »Sie ist eine tapfere Barb. Sie hat vieles erlebt, auch viel Schlimmes. Sie wird es verkraften.«
»Wie ihr meint«, knurrte Connor und drehte sich um. Man sah ihm an, dass er nicht ertrug, wenn es seinen besten Freunden schlecht ging.
Darius nickte zur Lotus und musterte anschließend Lysa. »Euch ist klar, dass das schwarze Schiff führerlos ist, Kapitän? Eine starke Böe und sie wird Euer wunderschönes Schiff zerschlagen.«
Lysa räusperte sich. »Ihr habt Recht, Darius. Wir müssen weg hier. Doch was machen wir mit dem schwarzen Schiff?«
»Lasst es, wo es ist!«
Sie sah ihn an, als sei er wahnsinnig geworden. Er blinzelte. »Glaubt mir, es ist besser so.«
»Wie Ihr meint.«
»Ihr alle seht müde aus«, sagte Darius. »Erschöpft bis an die Grenzen.«
»Wir haben das Grauen gesehen«, murmelte Lysa.
Darius nickte mitfühlend. »Wenn ich Euch helfen kann? Ich kenne mich bestens aus mit großen Schiffen.«
»Ich danke Euch.«
Sie drehte sich um, pfiff auf den Fingern und gab den Überlebenden ihrer Crew die entsprechenden Befehle.
Später trafen sie sich in der Kajüte des Kapitäns, in der es eine Tafel gab, auf der Wasser und Wein gerichtet waren. In der Kombüse wurde fleißig gearbeitet, obwohl es die letzten Kräfte erforderte. Es wurde eine kräftige Suppe gekocht, mehr war derzeit nicht nötig.
Jeder beteiligte sich daran und Darius erwies sich als geschickter Smutje.
Bluma drückte sich an ihn. Ihre Augen waren rot gerändert. Sie hatte viel geweint. Darius nahm sie in den Arm und Bob machte ein säuerliches Gesicht. Connor musterte Darius misstrauisch, doch niemand von ihnen sagte etwas. Die Freundschaft zwischen Bluma und dem schönen, schwarzhaarigen Mann war offensichtlich. Sie beide mussten Schreckliches erlebt haben.
Niemand wollte dem anderen die Arbeit überlassen, jeder beteiligte sich daran.
Die Gefährten entledigten sich ihrer Segeltuchbekleidung und freuten sich über die milde Nacht. Schließlich saßen sie um die Tafel herum. Am Kopf saß die Große Lysa, der Kapitän. Sie war in ihre Domäne zurückgekehrt. Hier kannte sie sich aus. Sie hatte zwei Besatzungsmitglieder verloren, doch im Moment gab es zu viele Fragen, die beantwortet mussten, um sich auf eine Sache zu konzentrieren.
Die Suppe wurde aufgetan und die Schöpfkelle hatte viel zu tun. Darius hatte ein Brot gebacken, das aufgeteilt wurde und wunderbar duftete. Wer Wein trinken wollte, bediente sich, andere füllten ihre Becher mit Wasser. Wortlos wurde gegessen. Frethmar, der die Stille offensichtlich nicht mehr ertrug, brummte: »Es waren so viele, dass ich nicht mehr weiterzählen konnte.«
»Hast recht, Fret«, sagte Connor. »Noch eine Minute und sie hätten uns gehabt.« Er rülpste hinter vorgehaltener Hand: »Ich habe noch nie einen Zwerg gesehen, der so kämpft, wie du.«
Frethmar blickte auf und bekam rote Wangen. »Du bist auch nicht ohne, Barbar.«
»Nun, um ehrlich zu sein, habe ich vor dir noch nie einen Zwerg kämpfen sehen«, fügte Connor hinzu.
»Wir taten, was wir konnten«, sagte Lysa.
»Gut, dass Bob so laut geschrieben hat. Irgendwas von Göttern«, sagte Connor. »Sonst wären wir im Schlaf überfallen worden.«
Bob schlürfte und sagte: »Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Die Lohengeister hatten meinen Geist in ihrer Gewalt.«
»Seltsame Kreaturen«, sagte Frethmar. »Und du, Connor, wusstest mal wieder Bescheid.«
Connors Wangenmuskeln pulsierten. »Es wird allerhöchste Zeit, dass ich mich erinnere. Das nervt, glaubt’s mir.«
Erneut senkte sich Schweigen über die Tafelrunde. Solange, bis alle gesättigt waren. Als warte jedermann darauf, welches Thema als nächstes angeschnitten werden sollte. Bei welcher Frage wollte man beginnen? Bei welcher enden? Wie viele Antworten warfen neue Frage auf?
Bob legte den Löffel hin und lehnte sich zurück. Er leerte seinen Weinbecher in einem Zug und spülte mit einem Becher Wasser nach. »Egal, womit wir beginnen – ich meine, es gibt eine Frage, deren Antwort jeder wissen will. Wie kommt es, dass Bluma und Darius unsere Abwesenheit als wenige Minuten empfanden, und wir als zwei Tage?«
Darius legte ebenfalls seinen Löffel weg und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Neben ihm saß Bluma, die Hände über den Tisch gestreckt, die von ihrer Mutter gehalten wurden.
Darius begann: »Ich glaube, es wird eine Weile dauern, bis wir uns unsere Abenteuer berichtet haben. Wenn ich euch sage, dass ich ein gehenkter Mörder bin, und dennoch lebe, dass ich mich in einen Dämon verwandeln kann, dazu noch gemeinsam mit Bluma aus Unterwelt flüchtete und zwar auf einem Schiff, welches in Unterwelt auf dem Trockenen lag, werdet ihr mich für übergeschnappt halten. Dennoch stimmt es.«
Bluma nickte bestätigend. »Ja. So ist es. Er sagt die Wahrheit.«
Darius sah jeden reihum an. Einige klappten erst jetzt ihre Kinnladen hoch.
»Wenn ich euch weiterhin erzähle, dass Bluma und ich in den Kerkern von Lord Murgon gefangen gehalten und gefoltert wurden, wird euch das noch mehr verwundern. Wenn ich hinzufüge, dass uns eben jene Drachen bei der Flucht halfen, die euch so schadeten, wird alles komplett verzwickt. Und wenn ich abschließend erkläre, dass Bluma eine große Magierin ist …« Seine letzten Worte schwangen im Raum.
Connor fasste sich als erster. »Irgendwer spielt mit uns. Entweder folgen wir einem großen Plan oder wir werden hin und her geschoben wie Spielfiguren.«
Darius sagte: »Ich glaube an einen großen Plan.«
»Du wurdest gefoltert?«, flüsterte Bama und beugte sich noch weiter über den Tisch.
»Einer Magierin?«, murmelte Bob ungläubig.
Darius sagte hart: »Und sie überstand die Folter, sorgte dafür, dass ich mit ihr flüchten konnte und besiegte einen Golem. Das, freundliche Barb, ist Eure Tochter. Mutig und intelligent.«
Bama sagte: »Meine Tochter – eine Magierin?«
»Ja«, bestätigte Darius. »Sie weiß es jetzt, doch sie kann es nicht kontrollieren. Dafür müsste sie eine Ausbildung machen. Sie denkt mit Drachen und verfügt über große Kräfte. So große Kräfte, dass sie Lord Murgon in einer Vision zurückdrängte.«
Bluma, die noch immer ihr Stirnband trug, was ihr ein verwegenes Aussehen gab, ließ die Hände ihrer Mutter los und fuhr herum. »Ist das so?«
Darius lächelte. »Glaubst du wirklich, ein normaler Sterblicher hätte mit dem Dunkelelf in einer Vision diskutiert oder verhandelt? Er wäre dabei gestorben. Stattdessen hast du das Rätsel des Artefakts gelöst, ohne dass er es merkte. Du hast eine Wand gegen ihn errichtet, die er nicht überqueren konnte.«
Bob, der sichtlich Probleme hatte, alles zu begreifen und sich zu fassen, riss sich zusammen. »Und warum waren wir dann nur ein paar Minuten weg?« Seine Lippen zitterten und man sah ihm an, dass er unendlich viele Fragen unterdrückte.
Darius sagte: »Wir leben in einem Land der Mythen, deshalb nennen wir es Mythenland oder manchmal kurz: Mythenland! Jeder Mythos kann in sich wahres und falsches enthalten. Er kann ein Gleichnis oder ein Gedankenexperiment sein. Abgesehen von Schöpfungsmythen behandelt der Mythos wiederkehrende Konstellationen und Konflikte. Er ist in sich schlüssig. Etwas ist geschehen, dass diesen Grundsatz in Unordnung brachte.«
Einige starrten ihn an, als habe er in einer fremden Sprache erklärt. Bluma wisperte entschuldigend: »Er war Advokat.«
»Bei uns sterben die Männer«, sagte Lysa.
»Drachen haben viele von uns getötet«, sagte Frethmar.
»Und unsere Insel zerstört«, sagte Bluma. »Und meinen Bruder getötet.« Sie seufzte und fing an zu schluchzen. Als sich jedermann anschickte, sie zu trösten, winkte sie ab. »Es geht schon, keine Sorge. Es geht schon.«
»Und das wird nicht alles sein«, fügte Darius hinzu, als sei ihm klar, dass Bluma ihren Kummer sehr gut alleine bewältigen würde. »Wir stehen vor einer Zeit der Veränderung. Der Herr der Unterwelt schmiedet finstere Pläne. Doch nicht nur er, auch anderswo sind Veränderungen im Gange.«
»Ich frage mich, woher du das alles weißt?«, fragte Connor.
»Wie ich hörte, hast du deine Erinnerungen verloren?«
Connor nickte.
»So ähnlich geht es mir. Ich weiß vieles, und das meiste aus Visionen, in denen ich als Dämon durch Mythenland gehe und sehe. Ich bin dann in der Lage, durch die Zeiten zu springen, die Zukunft und die Vergangenheit gleichzeitig zu sehen. Eine Gabe, auf die ich gerne verzichten würde, weil sie mich auch Dinge sehen lässt, die schrecklich sind.«
»Ein Dämonenbann«, sagte Connor. »Jemand hat dich verbannt!«
Darius schien nicht überrascht. »Ja, so wird es sein. Eines scheint mir jedoch klar zu sein. Wir alle hier sind so etwas wie das Zünglein an der Waage.«
Lysa lachte rau. »Unsinn!«
Bluma trocknete ihre Tränen und hörte aufmerksam zu.
Bob, der seine Tochter ansah, brach fast das Herz.
»Wirklich?«, fragte Darius, unverändert höflich. »Seht uns an, Kapitän. Eine zur See fahrende Amazone mit ihrer Mannschaft. Gab es so etwas schon einmal? Nein! Eine Barbfamilie mit einer Tochter, die magische Kräfte besitzt. Ziemlich ungewöhnlich! Ein Barbar, der so vollkommen anders ist, wie man sich Barbaren vorstellt. Ein Zwerg, der nach seiner Bestimmung sucht und – wer weiß – vielleicht auch noch einiges zu offenbaren hat. Und ich, der sich jederzeit in eine abscheuliche, durch die Zeit blickende Gestalt verwandeln kann, vor der es Euch graust. Wenn ich davon ausgehe, dass wir die Summe vieler Teile darstellen, ergeben wir zusammen etwas, dass viel wichtiger ist, als es scheint.«
Das schien Lysa zu überzeugen, denn sie füllt ihren Wasserbecher nach, ohne zu widersprechen.
Darius lächelte. »Habt ihr den Mahlstrom passiert?«
Lysa ruckte hoch. »Woher wisst Ihr das?«
»Seid Ihr einem Torwächter begegnet?«
»Ja«, hauchte Lysa.
»Die Wahrscheinlichkeit, einem Torwächter zu begegnen, liegt bei Null. Dies geschieht nur dann, wenn in Unterwelt etwas geschieht, dass außerhalb deren Gesetzmäßigkeiten liegt – so etwas, wie unsere Flucht.«
»Das sagte ich auch. Normalerweise sieht man den Mahlstrom nicht«, gab Lysa zurück und sah Bob an, der sie für ihre Schiffsroute geschmäht hatte.
»Und Ihr hattet Recht, Kapitän. Ein Torwächter ist ein monströses Wesen, doch kaum ein Lebender wird es erblicken.«
»Das kann man wohl sagen«, knurrte Frethmar. »Er hat meinen Dämonenbrecher zu spüren bekommen!« Er liebkoste die im Lederfutteral steckende Axt.
»Wenn so etwas geschieht, verwirbelt die Zeit. Da wir zeitgleich mit unserem Schiff aus Unterwelt kamen, sind wir uns begegnet. Da uns jedoch die Schwingung von Unterwelt anhaftete, waren wir immun gegen den Zeitwirbel, wohingegen er euch erfasste. Ihr wurdet in eine Zeit geschleudert, die weit in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt. Als sich die Schwingung des Torwächters auflöste, kamt ihr zurück. Da die Zeit nicht parallel läuft, waren es für euch zwei Tage und für uns ein paar Minuten.«
»Ich verlor zwei gute Freundinnen in der anderen Zeit«, seufzte Lysa.
»Das macht es so schrecklich. Auch dort sind wir angreifbar.«
Bob sagte: »Es gab Wesen, die uns angriffen und durch uns hindurch flogen.«
Darius tippte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. »Das war vermutlich ein Bereich, in dem sich einige Verschiebungen ergaben. Die Wesen waren nicht wirklich bei euch, sondern – wie hinter einem Vorhang - in einer anderen Epoche.«
»Das ist vollkommen verrückt«, murmelte Connor.
»Wie immer, wenn man es mit der Zeit zu tun kriegt. Einige Blinde Magister meinen, in ihr liege eine innere Logik, andere sagen, sie täte, was sie will. Vermutlich wird irgendwann ein kluger Mann kommen, der uns das alles relativ begreifbar macht kann und einen Stein auf den anderen setzt.«
»Um es auf einen Nenner zu bringen«, sagte Frethmar. »Alles was geschah, hat einen Sinn, auch, dass wir uns hier begegneten und nun beisammen sind.«
»So ist es, Frethmar Stonebrock«, sagte Darius. »Ich bin mir sicher, wir sind lebende Rätsel. Was wird Bluma mit ihren Fähigkeiten bewirken? Was geschieht, wenn du, Connor, dich irgendwann erinnerst? Was wird sein, wenn ich endlich begreife, wer mich warum verbannte und warum ich am Strick starb und doch lebe?«
Connor blickte übers Wasser und fragte sich, ob er Memorius noch einmal begegnen würde. Connor von Nordbarken, hatte der Mann ihn genannt. Er hatte seine Gestalt verändert. Die Reißzähne waren verschwunden. Er hatte ihm unangenehme Fragen gestellt und seltsame Dinge gesagt.
Wer war Xenua? Er konnte sich an keine Frau dieses Namens erinnern?
Fragen und Antworten!
Wer war Agaldir, den sie in Dandoria finden sollten?
Noch mehr Fragen.
Welche Kreatur verfolgte sie? Lydia hatte das gesagt, bevor sie gestorben war.
In gewisser Weise schien dieses Thema sein Leben zu bestimmen. Fragen und wenige Antworten!
Wenn er unter Deck ging, erhielt es auf manche Fragen Antworten. Es würde noch lange berichtet werden. Viele Stunden lang. Jeder wollte seine Abenteuer mitteilen, obwohl sie erschöpft und müde waren. Doch es war wichtig, die Neugier des anderen zu befriedigen. Warum wusste dieser Darius Darken etwas über Dinge, von denen die anderen keine Ahnung hatten? Er machte einen intelligenten Eindruck. Connor würde ihm vorsichtig begegnet, denn er hatte selbstverständlich bemerkt, dass der Schönling Eindruck auf Lysa gemacht hatte.
Ein Geräusch neben ihm.
Knarrende Planken.
Lysa trat neben ihn.
Connor hatte ein deja vu. Schon einmal hatten sie so an der Reling gelehnt.
»Störe ich dich?«
»Nein, nein. Du störst nicht. Ich wollte nur etwas Luft schnappen. Der Wein ist mir etwas zu Kopf gestiegen, außerdem ist alles so verwirrend.«
»Ein Teil unserer Reise war erfolgreich«, sagte sie leise.
»Ja«, sagte er. »Unsere Barbs haben ihre Tochter gefunden. Nun können sie nach Fuure zurückkehren.«
»Sie werden bei uns bleiben. Bob sagte, solange, bis wir alle unser Ziel erreicht haben.«
»Das sieht ihm ähnlich.« Connor lächelte. Er löste das Segeltuch vom Kopf und ließ es am ausgestreckten Arm ins Wasser fallen. Er hatte vergessen, es abzulegen. »Das benötige ich nicht mehr.«
Aus den Augenwinkeln sah er, dass sie es ihm nachtat. Auch sie streckte den Arm aus und hielt den Kopfwickel an spitzen Fingern. »Ich hatte mich fast schon dran gewöhnt«, sagte sie leise.
»So viele Rätsel. Wir alle sind die Summe und wer weiß was. Das soll mal einer begreifen.«
»Ich weiß, dass wir die anderen Rätsel lösen werden. Gemeinsam. Als Freunde. Ich hoffe nur, dass nicht noch mehr von uns dabei sterben werden.« Das Tuch löste sich und wirbelte sanft auf die Wasseroberfläche, wo es wegtrieb.
»Ich kenne meinen vollen Namen«, murmelte Connor.
Sie drückte ihren schmalen Körper etwas näher an ihn. »Ja?«
»Ja.«
»Willst du ihn mir sagen?
»Man nennt mich Connor von Nordbarken.«
»Ein guter, gewichtiger Name, Connor von Nordbarken.«
»Vermutlich komme ich aus dem Norden.«
»Also doch ein Barbar?«
Er nickte. »Sieht so aus…«
Sie lächelte. Das spürte Connor, obwohl er den Blick unverwandt in die Ferne gerichtet hielt.
»Ein guter Barbar. Ein kluger Barbar.«
»Keiner der Sorte Männer, die dir gefallen, Lysa. Kein schöngeistiger Amazonenmann.«
Sie kicherte. »Es gibt keine Amazonenmänner. Es gibt nur Männer.«
Er schwieg.
Sie drehte ihn zu sich. Strich mit den Fingerspitzen über die Verletzung, die er sich auf der Scholle zugezogen hatte.
«Nicht schlimm …«, murmelte Connor.
»Den Göttern sei Dank, nur oberflächlich, aber der Nagel war verrostet. Wir müssen das im Auge behalten«, sagte sie.
»Tut nicht weh«, sagte er.
»Tut nicht weh«, äffte sie ihn nach. »Darum geht es nicht. Rost kann dein Blut vergiften. Daran kannst du sterben.«
»Ich werde nicht sterben«, sagte Connor.
»Du bist ein großer Mann und du bist ein dummer Junge, Connor von Nordbarken.«
Sie sah ihn an und er grinste. Sie kniff ihn in die Wange und tat entrüstet. »Was gibt es da zu grinsen?«
Er antwortete nicht.
»Als wir im Eis waren, bist du aufs Deck gekommen und hast mir nette Dinge gesagt.«
»Ja, und du meintest zu Recht, es sei der falsche Augenblick und wir würden später miteinander reden.«
Lysa lächelte. »Manchmal stören zu viele Worte.«
Ihre Lippen fanden sich zu einem langen Kuss.