ERSTER TEIL
1. Kapitel
Ungefähr sechshundert Seemeilen von Dandoria entfernt liegt im Mittmeer die Insel Fuure. Dandorianische Kartografen zeichnen sie als eiförmige Insel mit grünen Wiesen, fruchtbaren Feldern, weiten Ebenen, dunklen Wäldern und erhabenen Bergen.
Am Rande der Insel, nur durch einige Hügel und dichte Baumreihen vom weißsandigen Strand getrennt, lag ein kleines Dorf, zum Norden und Osten umgeben von gelb leuchtenden Feldern, die an einen dunklen Wald mit riesigen Bäumen grenzten, der sich bis in die Höhen einer kleinen Bergkette erhob. Westlich erstreckten sich wildes Land, bunte Büsche und blühende Bäume. Dort lebten überwiegend friedvolle Tiere.
Die Bewohner nannten die Insel Fuure, was in der alten Sprache der Barbs schöne Heimat bedeutete.
Genau genommen war Fuure nur ein farbiger Klecks im Mittmeer von Mythenland, für die Barbs hingegen war die Insel alles. Sie war die Erfüllung ihrer Träume von einem unabhängigen Leben, einer Existenz frei von Missgunst, Hader und anderen schlechten Einflüssen, von denen sie gehört hatten, dass sie auf Dandoria an der Tagesordnung waren.
Während es auf Dandoria Städte gab, in denen man sich in der Hohen Sprache von Mythenland verständigte, wo Handel getrieben wurde und eine stabile Zivilisation entstanden war, lebte man auf Fuure in der alten Zeit.
Handelsschiffe, die Fuure besuchten, um die Stämme der Wareiken mitzunehmen, machten schnell wieder kehrt, denn sie hatten ihre Anweisungen.
In Dandoria lebten Menschen und andere Rassen in Hütten und Häusern. Dort ritt man auf Pferden, handelte auf Märkten und war immerzu dabei, den Fortschritt zu fördern. Das wussten die Barbs aus den Berichten der Händler, denn bis heute hatte kein Barb Dandoria besucht. Warum? Es interessierte sie ganz einfach nicht. Forscherdrang war etwas, das den Barbs fremd war. Es gehörte nicht zu ihrer Natur. So wie sie aussahen, waren sie: Stämmig und bodenständig, sie dachten für die Gegenwart und manchmal nach vorne – nach drüben oder gar um die Ecke dachten sie nie.
Seit eintausendfünfhundert Zyklen lebten die Barbs auf Fuure. Sie waren aus den Fremden Welten gekommen, hieß es in den überlieferten Liedern. Wo diese Fremden Welten waren, wusste niemand, aber es gab manche, die wetteten, es handele sich um jenen Sternenozean, den die Barbs so gerne als Vergleich heranzogen, wenn doch so etwas wie Neugier sie befiel.
Es gab Lieder, in den diese Frage gestellt wurde:
Hatten die Götter – Bross, der Gott des Windes und Broom, der Gott des Lebens – sie auf dieser Insel abgesetzt? Es gab Hinweise darauf. Zeichnungen auf Stein, die Wesen zeigten mit großen runden Köpfen und seltsamer Bekleidung.
Doch wen interessierte das schon wirklich? Es waren nur Lieder.
Die Hauptsache war, dass sie ein glückliches Leben führten. Alles andere war etwas für die Lebewesen in Dandoria. Sollten die sich doch den Kopf darüber zerbrechen.
Wichtiger war, dass Fuure den Barbs gestattete, sich fast autark zu halten. Münzen waren für sie nur ein marginales Zahlungsmittel, sie zogen den Tausch vor. Einen Fisch gegen einen Krug Bier. Das war ein gutes Geschäft für beide Seiten und machte den einen satt und den anderen fröhlich!
Barbs waren stolz darauf, dass nur sie die Wareiken ernten konnten, gigantische Bäume, die in kleinen Gruppen wuchsen. Man musste sie mitsamt der Wurzel aus dem Erdreich reißen. Nur dann gaben die Wareiken ihre Samenkapseln frei, aus denen in wenigen Zyklen neue große Bäume wuchsen. Wer eine Wareike fällte, vernichtete sie für immer – und wäre hart bestraft worden ... käme es jemals vor.
Für die Ernte der Wareiken waren nur die Stärksten der Barbs zu gebrauchen. Stämmige, muskulöse Männer, die sich in eine Reihe stellten, das eine Ende eines vielfach geflochtenen Carnusseiles um den Stamm wickelten, und das andere um ihre Hüften. Dann begann der Kampf. Sie rissen und zogen, ächzten und stöhnten, jammerten und schwitzten, doch sie gaben nicht auf. Wenn sie so lange gezogen hatten, dass die Gelenke knackten, die Muskeln nachzugeben drohten, die runden Gesichter vor Schweiß rot glänzten und sie außer Atem nach Luft rangen, gab die Wareike in der Regel nach, beugte sich der geballten Kraft, nickte anerkennend, wippte und brach knirschend aus dem Erdreich, welches hochspritzte, als habe man einen Stein ins Wasser geworfen. Es gab ploppende Geräusche, faustdicke Kapseln öffneten sich und Samen rieselte aus dem Wurzelwerk, der Samen für eine nächste Wareikengeneration.
Wareikenholz war hart wie Stahl und in Dandoria ein begehrtes Gut. Vor allen Dingen deshalb, weil es sich mit Barbs gut handeln ließ. Sie wurden nie gierig, sondern forderten einfache Dinge wie Werkzeuge, Gefäße, landwirtschaftliche Gerätschaften und so weiter, was letzten Endes den Käufern billiger zu stehen kam, als hätten sie mit Münzen bezahlt.
Das war einer der Gründe, warum man die Barbs in Ruhe ließ. Solange sie auf ihrer Insel Wareiken pflückten und zufrieden waren, verdiente man gut an ihnen. Ein Grund, stets wegzuschauen, wenn jemand fragte, ob es nicht an der Zeit sei, die Barbs und Fuure von den Leuten des großen Kontinents erobern zu lassen.
Die Barbs waren tabu!
Das wussten sie, weshalb sie auf große Profite verzichteten. Die Wareiken garantierten ihr Überleben und das damit verdiente Gut versicherte ihr leibliches Wohl. So konnten sie ihren alten Sitten und Gebräuchen folgen.
Sie feierten oft und liebten gerne. Sie bekamen Kinder und beerdigten Freunde. Sogar mit den Grubentrollen verstanden sie sich, kleine hässliche Kerle, die Erz und Kohle aus den Bergstollen förderten. Einmal hatten sie ein gemeinsames Fest gefeiert, und es war ... nun ja ..., gar nicht so übel gewesen. Lediglich der trollige Gestank und die überlauten Fürze hatten manchem Barb die Feier etwas verleidet, doch darüber musste man hinweg riechen, wenn man fremde Gäste hatte, nicht wahr?
Es war ein Geben und Nehmen, ein toleriertes Paradies mit eigenen Regeln und keinem Barb wäre eingefallen, dass diese Idylle eines Tages enden könnte.
Bob war hilflos. Das machte ihm zu schaffen.
Sein Inselvolk, die Barbs von Fuure, drehten durch.
Kaum ein Tag verging, ohne dass es im Dorf eine Schlägerei gab oder man sich wegen Nichtigkeiten an die Kehle ging. Kaum eine Stunde verging ohne Zwist. Sogar die Kleinsten prügelten aufeinander ein.
»Du bist der Häuptling der Barbs«, sagte Bama, sein Weib, und sie meinte damit, er müsse Ruhe und Kraft verkörpern. Es war seine Pflicht, hinter das Geheimnis der Missstimmungen zu kommen. Hinter den Grund, warum sich das Volk der Barbs so fremd und unbestimmt verhielt.
»Mmpf«, murrte Bob. »Ja, Weib, ich bin der Häuptling, und am liebsten würde ich es nicht mehr sein. Das alles hier geht mir auf die Nerven. Am liebsten würde ich diese Insel verlassen ...«
»... auf der wir seit Gedenken leben, die unsere Heimat ist. Und du willst weg hier, einfach so? Und deine Tochter Bluma, deinen Sohn Bamba und mich zurücklassen? Du willst uns alleine lassen? Was würde dann aus uns werden?«
»Habe ich das gesagt?«
»Ja, du hast!«
»Ich weiß nicht ...«
»Und jetzt willst du nichts mehr davon wissen?«
»Dann kommt ihr eben mit.« Bob hob die Achseln.
Bama zog die buschigen Augenbrauen zusammen. Ihre kleinen Augen blitzten und ihre Mundwinkel zogen sich spöttisch hoch. »Aha – dann kommen wir eben mit. Und wenn nicht?«
»Dann bleibt ihr eben hier.« Bob seufzte. Weiber! Sie machten alles kompliziert. Im Moment war wirklich keine gute Zeit für Probleme im eigenen Haus, davon gab es im Dorf genug. Er drehte sich um und ging zur Tür. Er zuckte zusammen, als ein Topf neben ihm an die Wand krachte.
»Dann bleiben wir eben hier?!«, kreischte Bama. »Du willst abhauen und deine Familie alleine lassen? Du sagst das einfach so und lässt mich dann stehen, als sei ich ein dummes Kind?«
»Ich weiß nicht – so – so habe ich das ja nicht gemeint«, stammelte Bob und im selben Moment ging ihm auf, dass er nun in seinem Haus gelandet war: Der Ärger, der wie ein giftiges Gas aus dem Boden zu sprießen schien und den Barbs von Fuure seit einem Mond zu schaffen machte. Und er wusste wirklich nicht, wie er das gemeint hatte. Es waren Worte gewesen, die über seine Lippen gekommen waren wie unbedachte Trollfürze.
»Oh doch, Dicker! Genauso hast du das gemeint!«, zeterte Bama.
»Wie?«
»GENAUSO!«
»Hab ich nicht!«, brüllte Bob zurück, der den Sinn eines genauso zu greifen versuchte. Nur einen Atemzug später standen sie sich Nase an Nase gegenüber, starrten sich in die Augen und zitterten.
Gleich, dachte Bob, gleich wird Schreckliches geschehen! Dabei will ich doch gar nicht weg von Fuure. Dafür liebe ich meine Familie viel zu sehr! Das müsste Bama schließlich wissen, immerhin teilt sie schon ihr halbes Leben mit mir.
Dieser Gedanke machte ihn zorniger, als er es sowieso schon war. Sie meinte immer alles zu wissen. Ha, stets mit der großen Klappe voran. Und nun ließ sie sich von irgendwelchen dummen Sätzen verwirren?
»Du bist ein Ekel!«, spuckte Bama aus.
»Und du bist ein – bist eine ...«
»BOBBA«
»Du bist eine ...«
»B – O – B – B - A !«
«Mmpf!”
Bamas Augen wurden nass. Ihre Oberlippe bebte und Bob wollte sie in den Arm nehmen. Sie hatte gesagt ... hatte gesagt ... Ihr Blick ging über seine Schulter hinweg an ihm vorbei.
»Was ist, verflucht noch mal?«, schrie Bob und wirbelte herum.
»Bobba, jetzt ist der Ärger auch bei uns?«, fragte ihre Tochter Bluma, die soeben in das Haus getreten und dazwischen gegangen war. Tiefe Besorgnis zeichnete ihr Gesicht.
»Was geht dich das an? Seit wann mischen sich Kinder in die Angelegenheiten von Erwachsenen?«, knurrte Bob. Alles in ihm zog sich zusammen. Ihm tat es leid, wie er sich verhielt, gleichzeitig war er nicht in der Lage, seine Gefühle zu kontrollieren. Es war, als kämpfe er gegen eine Sturmflut an, die ihn wegzuschwemmen drohte. Er hatte seiner Bama um Haaresbreite ganz Schlimmes gesagt und er hatte seine Tochter angebrüllt. Zudem hatte er maßlosen Unsinn erzählt. Niemals würde er diese Insel verlassen oder seine Familie und sein Dorf.
»Mistkerl«, zischte Bama. Sie verschwand in der Schlafgrotte.
»Das hast du ja prächtig hingekriegt«, meinte Bluma sarkastisch.
»Ich weiß nicht – ich konnte nicht ...«
»Außerdem bin ich kein Kind mehr, merk dir das!«
»Ich wollte nicht ...«
»Geh raus und reg dich ab, Bobba!«, sagte Bluma und folgte ihrer Momma. »Sei froh, dass mein Bruder nicht da ist und das hier nicht miterleben muss! Er würde den ganzen Abend heulen.«
Bob stapfte nach draußen. Er schlug die Tür hinter sich zu. Er lehnte sich gegen das Holz und versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Das hier war sein Heim, war seine Familie. Seine Höhle! Sie war von Grubentrollen in den Hang geschlagen worden. Im Gegensatz zu vielen anderen Bewohnern des Dorfes hatte er auf Carnus und Holz verzichtet. Es war eine gemütliche Höhle, die Wind und Wetter standhielt, besonders, wenn im Herbst die Stürme über die Insel zogen. So zu leben war als Häuptling sein Vorrecht und man erwartete das von ihm. Bob wartete, bis das Rauschen des Blutes in seinen Ohren aufhörte.
Dieser Ausblick beruhigte ihn.
Über die Baumwipfel hinweg konnte er den Ausläufer der Insel sehen, die weiten Ebenen, auf denen sie Getreide anbauten, die dunklen Wälder, in denen sie die Wareiken, riesige Bäume, mit ihren Wurzeln aus dem Erdreich rissen, dahinter den weißen Strand. Und das Meer, hinter dessen Horizont die Sonne unterging, und alles in ein unwirklich glitzerndes Purpur tauchte. Weiter nördlich grasten einige Crocker, winzige schwarze Punkte auf grünem Grund, gutes Fleisch. Über einem Wald stiegen Gorkys hoch, deren weite Schwingen im Abendlicht bunt schillerten. Sie verabschiedeten den Tag mit hellen Gesängen. Die milde Brise trieb den Duft des salzigen Meeres herbei, ebenso wie den milden Odem von Lebendigkeit, von Frieden und Heimat.
Bob liebte sein Inselvolk, liebte Fuure, seitdem er vor vierundfünfzig Zyklen hier das Licht des Lebens erblickt hatte. Fuure bot ihnen ein Heim, schenkte ihnen alles, was sie benötigten, um ein gutes Leben zu haben. Sogar die ungemütlichen düsteren östlichen Berge, jetzt nur noch zackige Schattenrisse vor einem dunkelblauen Himmel, liebte Bob.
Gesund, fand Bob, ja, gesund war das richtige Wort für ihr Leben hier. Ein Leben, geprägt von Harmonie, fast schon wie in einem jener Märchen oder in Sagen, die er an manchen Abenden auf dem Dorfplatz sang.
Diese Harmonie war nun verweht, als habe einer der mächtigen Herbststürme sie mit sich genommen. Zurückgeblieben waren Zorn, Wut, war der Ärger!
Einen anderen Begriff hatte er dafür nicht.
DER ÄRGER!
Er stapfte die Stufen hinab zum Dorfplatz.
Der Platz auf einer Lichtung mitten im Grün der Bäume wurde von Hütten umsäumt, in denen die Barbs lebten. Es waren Unterkünfte aus Wareikenholz, gebunden mit Carnus, gebaut für die Ewigkeit. Sie waren schneckenförmig um den Dorfplatz platziert worden. In vielen flackerte das Licht von Öllampen, manch einer hatte draußen Fackeln angezündet, in deren Licht die Kinder spielten. Eine irrlichternde Spirale, die sich um den Mittelpunkt ihrer kleinen Welt wand. Auf dem Dorfplatz begegnete man sich, hier spielte sich ein Gutteil ihres Lebens ab. Hier verteilte man die Ernte, hier maß man den Familien das Fleisch der erlegten Crocker zu. Und es gab den Ort der Einkehr, wo sie zu den Göttern beteten. Hier sang Bob seine Lieder der Alten Väter. Auf diesem Platz feierte man manchen Tag und viele Nächte.
Bob hatte für jeden ein freundliches Brummen übrig. Seine gebundenen Ledersohlen wischten durch den Staub.
Burrl, der Schmied, schlug Werkzeug. Sein Hammer hallte auf dem Amboss wider. Neben dem Rundhorn standen mehrere kleine Loren. Darin war Brennstoff, mit denen die Trolle sie versorgten. Burrl schüttete die Fettkohle in die Esse. Sodann pumpte er den Blasebalg. Glühende Funken stoben in die Dämmerung. Burrls Körper hatte die Form eines Bierfasses, doch Bob wusste, dass unter den Fettmassen mächtige Muskeln ihre Arbeit verrichteten. Als der Schmied aufblickte und Bob in das freundliche Gesicht seines besten Freundes sah, verbesserte sich seine Stimmung zusehends. Burrl konnte er sich anvertrauen.
Der Schmied befestigte den Hammer am Rauchfang. Mit einer Zange legte er ein glühendes Besteck ins Wasser. Es zischte und Dampf stieg auf. »Ärger?«
»Sieht man mir das an?«
»Dagegen gibt es eine gute Medizin. Lass uns einen Humpen leeren.« Burrl strich sich die Handflächen an der Lederschürze ab. Er füllte zwei Krüge mit Honigbier. Bob nahm einen tiefen Schluck. Er wischte sich die Lippen ab und stützte sich auf einen Baumstamm. Rechts davon stand ein Tisch, auf dem einige gebratene Truthähne als Arbeitsverpflegung lagen. »Jetzt ist der Ärger auch in meinem Haus, Burrl. Ich habe mich mit Bama gestritten.«
Burrl leerte, wie üblich, den Krug in einem Zug und nickte. »Dann ist es wirklich schlimm.«
»Meinst du?«
»Seit fast dreißig Zyklen seid ihr ein Liebespaar, und soviel ich weiß, gab es zwischen euch nie größere Unstimmigkeiten.«
Bob seufzte. »Das ist Vergangenheit. Hätte Bluma heute nicht geschlichtet ...«
Burrl schüttelte sich wie ein Nacktsalamander. »Börre und ich – nun, bei uns geht es manchmal ziemlich hoch her. Und weißt du was?«
»Mmh?«
»Das finde ich gut. Nur wenn man seinen Ärger ausspricht, ist er weg. Sonst verknotet er dir den Bauch.«
»Ich habe jetzt einen Bauchknoten«, sagte Bob.
»Seit ewigen Zeiten bist du Häuptling der Barbs von Fuure. Du bist ein guter Barb, und wir können uns auf dich verlassen. Du weißt stets, was zu tun ist. Und nun erlebe ich dich das erste Mal hilflos?«
Bob grunzte. »Ich weiß nicht, wo ich diesen ... Ärger! greifen kann. Alle hier streiten sich ständig, gestern gab es eine Schlägerei. Vorgestern auch. Und immer war der Grund eine Nichtigkeit. Bemtoc hat alle Hände voll zu tun. Er kommt mit dem Heilen gar nicht mehr nach. Hier ein gebrochener Kiefer, dort ein ausgestochenes Auge. Und viele schmerzende Seelen. So etwas kennen wir nicht. Was geschieht mit uns? Hat sich die Luft verändert?«
Burrl schnüffelte dramatisch und grinste. »Ich rieche nichts!«
»Vielleicht hat ein Dämon über die Insel gefurzt!«
Der Schmied ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Trinken wir noch einen.«
»Ich weiß nicht«, meinte Bob, der befürchtete, heute ein weiteres Mal seinen klaren Verstand zu verlieren.
Burrl lachte kollernd. »Zwei Töpfe passen immer rein!«
Bob fühlte sich etwas wohler, obwohl ihm klar war, dass das Problem nicht geringer geworden war. »Bluma hat sich auf die Seite ihrer Mutter geschlagen.«
»Deine Tochter ist die klügste Barb, die es gibt. Sie steckt uns mit ihrer Intelligenz alle in die Tasche. Sie ist ein Naseweis und das zu Recht. Der Mann, den sie sich demnächst nimmt, tut mir heute schon leid. Sie wird wissen, was richtig ist. Das weiß sie doch immer. Hat sie keine Idee, wie man das Problem lösen kann?«
»Bluma ist ein Kind!«, schnappte Bob. »Warum sollte ich meine Sorgen mit einem Kind teilen?«
Burrl schien das nicht so zu sehen. »Deine Tochter ist eine junge Frau, mein Lieber! Bald wird sie sich einen netten Barb suchen und mit ihm Kinder haben!«
»Das werden wir ja sehen«, knurrte der Häuptling der Barbs bedrohlich, nahm einen tiefen Schluck und rülpste. »Eins nach dem anderen. Jetzt muss ich erst mal überlegen, was ich Bama erklären soll.«
Burrl verzog sein Gesicht. Er hob sein bärtiges Kinn. »Versuch es.«
Bob fuhr herum. Über den Dorfplatz kam seine Frau mit majestätischen Schritten auf sie zu. Ihr Gesicht hatte die Farbe des Abendrots. Ihre struppigen Haare standen wie Stroh von ihrem runden Kopf ab. Bob zog den Kopf zwischen die Schultern. Sie trat neben ihn.
»Hast du noch was von deinem Bier?«, fragte sie Burrl. Sie würdigte Bob keines Blickes.
»Hatte ich jemals kein Bier?«, grinste der Schmied. Er beeilte sich, einen dritten Krug zu füllen. »Wenn ich schon wie ein hässlicher Zwerg aussehe, muss ich auch wie einer trinken!«
Bama nahm einen tiefen Schluck, rülpste wonnevoll, setzte den Krug ab und drehte sich zu Bob um. Dieser wollte anfangen, irgendetwas zu stammeln, da legte sie ihm die Fingerspitzen auf die Lippen. Sie fragte sehr leise: »Was können wir gegen den Ärger tun?«
Für einen Moment waren alle still, lediglich in Bobs Gesicht knisterten die Bartstoppeln, als er es zu einem breiten Grinsen zog. Er strich sich verlegen über seine zotteligen Haare.
Ein seltsames Geräusch ließ sie herumfahren.
Was war denn jetzt wieder los?
Ein grausiges Gurgeln unterbrach den Frieden, ein verzweifelter Laut, aus tiefster Seele entsprungen. Erneut ein Würgen, tief, dumpf, quälend. Es krachte hölzern und Blätter rauschten.
Das Blut stockte in ihren Adern.
Borro, stämmig wie ein Berg, taumelte auf den Dorfplatz. Sein Anblick war erschreckend. Kinder rannten schreiend in die Häuser und erwachsene Barbs traten auf den Platz.
Borro presste seine Hände an den Bauch, in seinem Gesicht standen Unglaube und Verwirrung. Er starrte um sich wie ein Wahnsinniger. Er verhielt und schwankte hin und her wie eine Palme in der Brise.
Burrl ließ voller Schrecken seinen Bierkrug fallen. Börre, seine Frau, riss die Tür auf und kam herausgestürmt. Bob sicherte nach allen Seiten. Er blickte in neugierige Gesichter. Jeder war so erschrocken, dass er wie versteinert wirkte. Bama wollte loslaufen, doch Bob hielt sie am Ärmel fest.
Borro machte einen, zwei, drei Schritte, dann brach er in die Knie. Sand und Staub stoben auf. Seine Hände fielen nach unten. Er brachte einen dumpfen Ton heraus, dann quoll Blut aus seinem Mund. Er hielt sich, auf den Knien, noch immer aufrecht. Er blickte zu Bob hoch wie ein Büßer.
»Es war doch nur Spaß«, meinte Bob dem Gurgeln zu entnehmen, dann versagte die Stimme des Sterbenden. Er sank mit einem dumpfen Laut vornüber, stürzte in den Sand und hauchte mit einem Messer im Leib sein Leben in einer roten Lache aus.
Er heißt Connor.
Und er hatte sein Gedächtnis verloren. Seinen Namen hatte er nicht vergessen, den Göttern sei Dank! Aber vieles sonst.
Er klammerte sich an ein Stück Holz und spuckte Salzwasser aus. Würde der allmächtige Gordur, der sich im immerwährenden Streit mit den anderen Göttern befindet, ihn nun zu sich rufen? Connors Beine baumelten in gewichtiger Leere, unter ihm die bodenlose Unendlichkeit. Die Tiefe des Meeres riss mit aller Schwere an seinen Beinen. Er reckte den Kopf trotzig nach oben, ignorierte sein Grauen und spuckte Wasser aus.
Nach zwei Tagen im Meerwasser war er müde und wollte nur noch schlafen. Er musste wach bleiben, denn er fürchtete, zu ertrinken. Seine Arme, ja sein ganzer Körper klammerte sich an eine Schiffsplanke, wie eine Schnecke, mehr Instinkt als Wollen. Die Leere um ihn herum war die Leere in ihm.
Er erinnerte sich daran, wie er in diese klägliche Lage geriet, doch er wusste nicht mehr, warum er auf dem Zweimaster Amalia war. Seltsam, an den Namen des Schiffes erinnerte er sich, vieles andere hatte er vergessen und auch seine Mission - falls er je eine hatte. Dessen ungeachtet erinnerte er sich an die Piraten. Das Letzte, das sich ihm eingeprägt hatte.
Es war zwei unendlich lange Tage her.
Zwei Tage, die wie eine Ewigkeit schienen.
Der Bug des schwarzen Schiffes zerteilte den Nebel wie ein Entermesser, sodass die grauen Wolken sich auflösten, als fürchteten sie sich vor der Flagge. Der flatternde Jolly Roger hob sich vor dem Himmel ab wie ein Untoter, seine gekreuzten Säbel sorgten für Furcht und an Bord der Amalia brach Panik aus. Rasch wurden die wenigen Kanonen in Stellung gebracht. Der Kapitän brüllte Befehle, seine Augen irrlichterten panisch in seinem wettergegerbten Gesicht.
»Die dürften nicht in diesen Gewässern sein«, keuchte ein Matrose. Mit Piraten hatte in dieser Region niemand gerechnet.
Ein anderer Seefahrer fiel auf die Knie und fing an zu beten. »Liebe Götter, ich möchte noch nicht sterben.«
Flucht hatte keinen Sinn. Also Angriff! Kugeln donnerten über das Wasser, verfehlten jedoch das Piratenschiff. Diese antworteten mit einem pfeifenden Hagel Splittergeschosse, die einige Männer der Amalia töteten und Stücke aus dem Holz der Masten schlugen, aber keine nennenswerten Lecks verursachten. Ein gesunkenes Schiff ließ sich schließlich nicht kapern. Wichtiger war, dass die Piraten Bogenschützen an Bord hatten, die zielsicher trafen. Bevor sie bei der Amalia waren, hatten ihre übermächtigen Waffen den Kampf entschieden.
Das Piratenschiff und seine Mannschaft kam über sie wie eine Urgewalt, ragte hoch vor der Amalia auf. Die Galionsfigur des mit vierundsiebzig Kanonen bestückten Zweideckers, eine Frau mit großen Brüsten, hob drohend eine Faust in den Wind. Ihr Schatten fiel über die Amalia. Die Piraten warfen an Ketten hängende Haken und zogen die Schiffe mit ruppigen, rhythmisch gebrüllten Anfeuerungen zueinander. Sie kaperten die Amalia, wild aussehende Kerle, die nach Schweiß und Schnaps stanken. Blut spritzte unter ihren Säbeln.
So war es gewesen.
Connor meinte selbst jetzt noch das Grauen zu spüren, das in seinem Magen kauerte wie eine Ratte. Er erinnerte sich daran, voller Zorn geschrien zu haben, bevor er einen Piraten mit dem Degen durchbohrte. Einem anderen hieb er mit einer Axt, die sich wie zufällig in seiner Hand fand, einen Arm ab. Und er erinnert sich daran, dass er im selben Moment mit seinem Leben abschloss, denn er wusste, dass Auflehnung gegen Piraten den sicheren Tod bedeutete.
»Das sind Megurier und die nehmen keine Gefangenen«, brüllte ein kämpfendes Besatzungsmitglied der Amalia in sein Ohr. Kaum hatte der Ärmste den Satz beendet, traf eine Pistolenkugel den Mann.
Die Besatzung bäumte sich auf, denn der erste Schock war überwunden und sie beschlossen, ihre Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.
Säbel klirrten aneinander, Metall auf Metall. Messer bohrten sich in Fleisch und Knochen. Verwundete schrien, die Piraten grölten.
Connor wich einem Säbelhieb aus. Ein Peitschenhieb riss ihm die Axt aus der Hand, die sofort von einem anderen Kämpfenden übernommen wurde. Der Schlag brannte wie Feuer. Ein weiterer Peitschenhieb riss Connor von den Beinen. Der Pirat grinste und holte erneut zu einem Schlag aus. Connor drehte sich, rutschte durch Blut und Schleim, sprang wieder hoch und der Hieb ging daneben.
Er brauchte eine Waffe. Mit der ganzen Kraft seines athletischen Körpers rammte er einen Piraten, dem sofort die Luft wegblieb. Der bärtige Mann sank in die Knie und japste. Connor riss ihm den Säbel aus der Hand. Er überlegte, ob er den Unterlegenen köpfen sollte. Nein, der Kerl war sowieso hilflos. Connor versetzte ihm mit dem Fuß einen Tritt unter das Kinn und der Pirat sank bewusstlos und vermutlich mit gebrochenem Kiefer auf die Planken.
Der Peitschenmann gab nicht auf. Er setzte hinter Connor her, der nun sah, dass es sich um eine Neunschwänzige handelte, die zudem mit Muschelspitzen gespickt war. Ein gezielter Schlag mit der Neunschwänzigen konnte einem Menschen das Gesicht zerreißen und ihn mit einem Schlag kampfunfähig machen. So gesehen hatte Connor Glück gehabt. Die Schnüre surrten und wie in Zeitlupe sah Connor die Muschelspitzen auf sich zukommen. Er drehte sich um seine Achse, riss einem Kämpfenden ein Entermesser aus dem Gürtel, und als er wieder mit dem Gesicht zu seinem Gegner stand, hatte die Klinge seine Hand verlassen – und steckte im Hals des Peitschenmannes.
Er schnellte zur Seite, als sich ein dickbäuchiger Pirat auf ihn stürzte. In der Hand jene Axt, die Connor verloren hatte. Mit einer einzigen fließenden Bewegung versenkte Connor den Säbel in seinen Gegner, der gurgelnd zusammenbrach.
Heiß und pochend pulste das Blut durch Connor. Er war ein Kämpfer, ein durchtrainierter Mann, jemand, der nicht sein erstes Gefecht erlebte. Er blieb seelenruhig, während um ihn herum der Tod wütete. Er war hochkonzentriert. Jede Sekunde konnte etwas geschehen, das ihm das Leben kosten mochte.
Irgendwer hatte ihm gesagt, gewinnen könne er viele Kämpfe – verlieren nur einen!
Irgendwer?
Sein Lehrmeister?
Hatte er einen gehabt? Ja, selbstverständlich. Wie hätte er dieses Handwerk sonst lernen sollen?
Connor nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass um ihn herum ein Kampf tobte, den die Piraten gewinnen würden. Sie wussten, was sie taten und waren unbarmherzig. Sie töteten alles und jeden, der sich nicht auf der Stelle ergab.
Drei Piraten stürmten auf Connor zu. Sie hatten offensichtlich begriffen, dass sie es mit einer harten Nuss zu tun hatten, die es zu knacken galt. Zwei Säbel und eine Axt. Connor huschte hinter den Hauptmast, machte zwei weite Sprünge und landete wieder auf den Planken. Er war schnell, wendig wie ein Kaninchen und fast entspannt. Er ließ seine Gegner keine Sekunden aus den Augen, rechnete sich, ohne dass es ihm bewusst war, jede erdenkliche Strategie aus. Er wusste: Gleich würde noch mehr Blut fließen und es würde nicht seines sein.
»Stehen bleiben«, grollte es hinter ihm.
Connor erkannte sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte sich ausschließlich auf die drei Angreifer konzentriert, jedoch nicht auf einen Vierten, der aus dem Hinterhalt gekommen war. Ein Anfängerfehler! Wie hatte das geschehen können? Connor verhielt sich still.
So würde er jetzt sterben?
Gemetzelt von drei Piraten?
Nein – dann würde er so viele mit ins nasse Grab nehmen, wie ihm möglich war. Dies schienen die Piraten zu begreifen, denn sie blieben stehen.
»Hinknien«, zischte eine Stimme dicht an Connors Ohr.
Connor schüttelte langsam den Kopf und wartete darauf, von einer Messerspitze durchbohrt zu werden. Es dauerte normalerweise sehr lange, bis ein Mensch starb. Der Körper wehrte sich gegen das Endgültige, bäumte sich auf und aktivierte Kräfte, die man nicht für möglich hielt. Ein Messerstich musste sehr präzise gesetzt sein, um den Tod auf der Stelle herbeizuführen. Ihm würden also viele Minuten bleiben, in denen er für die Freiheit der Amalia kämpfen konnte.
Etwas surrte und der Mann hinter Connor gurgelte. Connor fuhr herum, stieß den Piraten von sich und sah, dass dem Mann ein Pfeil in die Kehle gefahren und zur anderen Seite ausgetreten war. Der Angreifer torkelte und stemmte seine Hände gegen Federn und Spitze, bis der Pfeil an zwei Stellen brach.
Connor wartete nicht ab.
Er machte eine geschmeidige Drehung, und genau im richtigen Moment huschte seine Säbelklinge nach vorne. Die Angreifer liefen schreiend davon, einer von ihnen blutete stark.
Und noch immer lebte Connor. Noch immer hielten die Götter ihre schützenden Hände über ihn. Als ihm ein Pirat, dessen weiße Augen im wettergegerbten Gesicht ihn aussehen ließen, als habe der Wahnsinn von ihm Besitz ergriffen, an den Kragen gehen wollte, öffnete sich das Tor zum Grauen.
Bluma, die Tochter des Häuptlings, war vor die Höhle getreten und traute ihren Augen nicht.
Dort unten, hinter der Buschreihe, gingen Bamig der Fischhändler und Borro aufeinander los. Sie packten sich an den Schultern, einer von ihnen taumelte. Sie gestikulierten wild, dann machte Bamig eine fließende Bewegung, etwas blitzte auf und Borro, bei dem sie das Korbflechten gelernt hatte, warf den Kopf zurück, als habe ihn ein wildes Tier gebissen. Bamig fuhr sich wie wild durch die Haare, verharrte, trat von einem Bein auf das andere, drehte sich um, rannte davon und verschwand hinter den Hügeln, die zu den Feldern führten. Ihr Blick folgte ihm, bis er von der Dämmerung aufgesogen wurde. Borro war wie vom Erdboden verschluckt.
Bluma erstarrte.
Was war geschehen?
Die junge Barb fasste sich. Sie hetzte die Stufen zum Platz hinunter. Dort standen Bobba und Momma beisammen. Sie hielten Biertöpfe in der Hand. Das sah nach Versöhnung aus. Burrl rutschte der Krug aus den Fingern. Dann teilten sich die Büsche. Borro taumelte auf den Platz.
Etwas Schreckliches war geschehen, soviel schien klar. Bluma ahnte das Blut, bevor sie es sah. Nur ein Blick auf die Gestalt des Korbflechters genügte, und aus der Ahnung wurde Gewissheit. Als Borro vornüber stürzte, fing Bluma an zu weinen. Sie merkte es erst, als die Tränen auf ihren Wangen kühlten und hastig wischte sie das verräterische Nass ab. Dennoch gelang es ihr kaum, ihre Trauer zu unterdrücken. Dies war nicht das Opfer einer harmlosen Streitigkeit, hier war – gemordet worden!
Ihr Bobba brüllte Befehle.
Männer sammelten sich um ihn.
Alles das nahm Bluma wie durch einen Schleier wahr. Sogar als sie die Hand ihrer Momma auf der Schulter spürte, war es, als träume sie. Das konnte – durfte nicht sein! So etwas geschah bei den Barbs nicht. Noch nie hatte es eine Auseinandersetzung gegeben, die so schlimm endete!
»Es war Bamig«, stieß sie hervor. »Es war Bamig!«
»Woher weißt du das?«, fuhr ihr Bobba herum.
Sie nickte zum Höhlenhaus hoch. »Ich war oben und habe es gesehen.«
Ein Ächzen durchzog das Dorf. Erschrocken sah sie, dass die Männer, auch einige Frauen, sich mit Knüppeln, Äxten und Schaufeln bewehrten. Sie würden Bamig finden. Sie würden ihn töten. Der Ärger war spürbar wie ein schleimiges Tier, sogar der Geruch über dem Dorf schien sich verändert zu haben, er war sauer und fahl.
Nun schien alles möglich. Bluma erinnerte sich an Geschichten, die ihr Bobba gesungen hatte. Geschichten, in denen sich Dörfer gegenseitig vernichteten. In denen sich ganze Kulturen ausrotteten.
Vielleicht, dachte sie, hatten sie bisher in einem Märchen gelebt. Und nicht alle Märchen hatten ein gutes Ende, zumindest einige nicht. War nun die Zeit des Mordens, des Metzelns gekommen? Hatte nun das Übel Macht über sie gewonnen? War es bei ihnen ebenso wie bei vielen anderen Kulturen der Zeitgeschichte, von denen Vater zu singen wusste: Dass eines Tages der Zersetzungsprozess begann und sich das Gebilde der Gemeinschaft von innen her zerstörte?
Ihr war klar, dass sie nicht wie eine Barb dachte. Sie war kleiner als viele andere, doch ihre Weitsicht war größer. Sie dachte zu viel. Ein Barb dachte geradeaus, dachte nichts Böses, tat, was getan werden musste. Sie hingegen dachte – um die Ecke.
Einige Frauen schleppten den toten Borro in die Kühlhöhle, Männer umwogten den Häuptling. Eine Welle der Gewaltbereitschaft zog über das Dorf und schwängerte den Abend.
Rufe wurden laut. »Bamig muss sterben! Bamig ist ein Mörder!«
Bob wandte sich an Bluma. »Wohin ist Bamig geflüchtet?«
»Ich glaube, zum Strand. Dort liegt sein Boot. Vielleicht will er damit die Insel verlassen, aber das glaube ich nicht. Wir alle wissen, dass er von kleinauf Angst hat, nach Einbruch der Dämmerung auf das Meer zu fahren, weil er sich vor den Wasserungeheuern fürchtet«, stieß Bluma hervor. Ihr Schädel drohte zu platzen.
Burrl gesellte sich an Bobs Seite. Er schwang seinen Schmiedehammer. »Das Miststück wird bezahlen!«, rief er.
Einige klopften Steine und entflammten weitere Fackeln. Die Dämmerung war über Fuure gekommen wie ein reißendes Tier. Der Himmel war wolkenverhangen. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen.
Das alles schien den aufgebrachten Barbs egal zu sein. Sie hatten Blut gewittert. Sie forderten Vergeltung. Endlich, endlich wussten sie, wer der Urheber des Ärgers war. Endlich hatten sie einen Sündenbock ausgemacht. Und dieser musste vernichtet werden.
»HALT!«, schrie Bluma. Sie schlug sich im selben Moment mit der Handfläche vor den Mund.
Die Gruppe fuhr wie eine Person zu ihr herum. Bama vertrat ihrer Tochter warnend den Weg und schüttelte vehement den Kopf. Über den Schleier ihres Trotzes hinweg vernahm Bluma die Worte: »Misch’ dich da nicht ein. Das ist nicht Sache eines Kindes!«
»Liebe Güte!«, begehrte Bluma auf. »Ich bin weder ein Kind, noch lasse ich mir vorschreiben, was ich zu denken und zu sagen habe.«
Es wurde still auf dem Dorfplatz. Nur die Fackeln knisterten. Der eine oder andere grunzte und spuckte aus.
Peinlich berührte Blicke strichen über Bluma hinweg zu ihrem Vater. Das störte sie nicht. Hatte sie nie gestört. Ein Problem, gewiss, jedoch keines, das so groß war wie der Ärger.
»Wenn ihr Bamig lyncht, seid ihr nicht besser als der Mörder. Was immer hier geschieht – es kann nicht sein, dass wir ihm so sehr nachgeben. Schickt zwei oder drei Männer, und nehmt Bamig gefangen. Und morgen, am hellen Tage, richtet über ihn. Zuerst lasst ihn erklären, was geschehen ist. Vielleicht erfahren wir mehr über den Ärger, wenn Bamig uns seine Gründe für diesen Mord geschildert hat – falls es überhaupt ein Mord war!«
»Was soll es denn sonst gewesen sein?«, begehrte jemand auf. »Ich denke, du hast es selbst gesehen?«
Einige Männer lachten.
Bobba trat von einem Bein auf das andere. Seine Miene zog sich zusammen wie eine Faust. Für einen Moment hatte Bluma Furcht, er würde sie vor allen anderen Barbs bestrafen. Stattdessen kratzte er sich den Schädel und nickte ganz langsam. »Ja, Leute. Ja.« Er brummte unwillig. »Sie hat Recht. Wir sind keine Mörder. Waren wir nie und werden wir niemals sein. Wir werden Bamig nicht lynchen. Er soll unseren Zorn spüren, aber zuerst wollen wir ihn befragen. Ich glaube nicht, dass er sich schon heute Nacht aufs Wasser wagt. Und falls doch, wird er vor Angst sterben. Deshalb werden wir jetzt ausschwärmen, und ihn suchen!« Er spuckte aus. »Und niemand wird sich an ihm vergreifen, ist das klar?«
Knurrende Zustimmung.
Bluma atmete tief ein. Sie war maßlos erleichtert. Ihr Bobba hatte auf sie gehört. Der große Häuptling hatte auf seine kleine Tochter gehört. Sie wusste sehr wohl, dass sie allen, wirklich allen Barbs intellektuell haushoch überlegen war. Sie wusste, dass sie manchmal mit dieser Gabe spielte, sie für sich nutzte. Dass sie sich durch dieses Wissen hin und wieder überheblich fühlte, machte die Sache nicht unbedingt einfacher.
Sie verdrängte den Gedanken und zwang sich, bei der Sache zu bleiben. Denn hier und jetzt wollte sie nur eines sein: Besser sein als ein Mörder. Sein wie eine Barb. Wie eine kluge Barb.
Burrl kratzte sich den Schädel, stellte seinen Hammer neben die Esse und stapfte zum Bierfass. Er nahm seinen Krug vom Boden auf, füllte ihn und leerte ihn mit einem Schluck. Mit wütender Geste stopfte er sich einen gebratenen Truthahnschenkel zwischen die Zähne. Er wischte sich den fettigen Mund mit dem Handrücken ab, zog die Nase hoch, rotzte aus und kam zu Bob und dessen Familie. »Wir haben einen Feind, soviel steht fest.«
»Unser Feind ist nicht Bamig, auch wenn es absurd klingen mag«, meinte Bluma. »Unser Feind ist der Ärger. Wir müssen den Grund dafür finden und den Ärger besiegen, sonst wird er uns besiegen und unsere Lebensgemeinschaft vernichten.« Sie hatte das Wort Ärger nicht gesprochen, sondern regelrecht ausgespien.
»Ihr habt gehört, was Bluma gesagt hat?« Bob sah die Männer und Frauen der Reihe nach an. Einer der Männer trat vor. Er kratzte sich den Bauch. »Häuptling Bob, Ihr lasst euch von einem Kind vorschreiben, was zu tun ist? Ich mag nicht glauben, was ich höre und sehe.«
Bob nickte. »Ja, Bommokk! Denn sie ist kein Kind mehr. Sondern eine kluge Frau.«
Einige Barbs kicherten. Die Fackeln zuckten.
Bluma wurde es warm ums Herz. Sie war stolz auf die Urteilskraft ihres Bobba. Stolz auf seinen Mut, herrische Prinzipien gegen Vernunft zu tauschen. Sie liebte ihn in diesem Moment mit besonderer Inbrunst.
Bluma wusste, dass ihr andauerndes Spiel unerschöpflicher Wissbegierde sehr früh begonnen hatte. Schließlich wurden die alten Geschichten erzählt, manchmal kombiniert mit Gelächter oder verschmitzten Lächeln. Burrl hatte mal gesagt, sie habe nur deshalb sprechen gelernt, um alle Dorfbewohner mit Fragen zu quälen. Sie saugte Antworten auf, wog ab und dachte nach, doch viel wichtiger war, es entstanden immer neue Fragen, als zöge sie Stecklinge aus Stecklingen.
Und das war anstrengend!
Biggert trat vor. Er verbeugte sich vor Bob. Der Lehrer war dünn wie eine Gerte und einen Kopf größer als der Häuptling. Stets wirkte es, als knicke der Mann in der Mitte zusammen. Seine dürren Beine machten ausgreifende Schritte, und Bob fragte sich ein ums andere Mal, wie dieser seltsame Mann überhaupt das Gleichgewicht halten konnte. Der Schwerpunkt lag eindeutig auf den Schultern, denn der Kopf war groß, rund und unbehaart. Wie ein Kürbis auf einem Grashalm. Ein Mann, ungeeignet zum Wareikenpflücken, dafür umso mehr, um den Kleinen die Hohe Sprache beizubringen und viele andere Dinge.
»Da wir Blumas Aussage nicht anzweifeln, wissen wir, dass Bamig der Täter ist!«, sagte Biggert mit harter Stimme. Seine Entschlossenheit war bekannt und im Kreise seiner Schüler berüchtigt. Lehrer Biggert redete niemals drum herum. Wenn er etwas sagte, dann hatte man sich danach zu richten, und wenn er etwas versprach, hielt er sich daran. Der Lehrer gestikulierte mit den Armen wie ein Grashüpfer. Er faltete sich neben Bob auf einen Holzblock zusammen. Er stand nicht gerne, was mit den dünnen Beinchen zusammenhängen mochte.
Bob zog die Nase hoch. »Wir haben keine natürlichen Feinde. Wer also will was von uns? Wer stört unseren Frieden?«
Bluma fuhr fort: Grubentrolle sind zu klein und harmlos, außerdem brauchen wir uns gegenseitig. Wir sind nicht dafür geschaffen, um in die Berge zu kriechen und die Trolle sind zu dumm, um Getreide anzubauen oder Wareiken zu ernten. Nein - unser Feind ist unsichtbar. Unser Feind kommt – aus der Luft, aus uns heraus, ist hier drinnen!« Sie schlug sich mit der Handfläche auf die Brust.
Ein anderer Mann gesellte sich aus dem Halbschatten zu ihnen. Sein Ziegenfellwams war kunstvoll schwarz gefärbt. Seine Beine steckten in schwarzem Leder. Auf seinen abstehenden Ohren ruhte eine Lederkappe. Er war der einzige im Dorf, der Wert auf exquisite Kleidung legte, wofür ihn die Barbs hin und wieder aufzogen. Das schmale rasierte Kinn stand im krassen Gegensatz zu der breiten Stirn, die ihm das Aussehen eines umgekehrten Dreiecks verlieh. Die kleinen Augen verschwanden fast unter buschigen Augenbrauen »Seit gegrüßt, Bemtoc«, begrüßte Bama den Schwarzen.
»Der Lärm hat mich vom Lager geholt.« Bemtoc legte sein Kinn in eine Handfläche und die andere Hand auf seinen gebeugten Rücken, was ihm etwas absurd Nachdenkliches verlieh. »Ich habe mir Borro angeschaut. Ein sauberer Stich. Der Mörder muss sehr viel Übung im Umgang mit dem Messer gehabt haben. Wenn man sich die Wundränder anschaut und die Fetzen Fleisch, die …«
»Bemtoc!«, rief Bob warnend. »Genug der Details.« Er versuchte ein mildes Lächeln, denn jeder im Dorf schätzte die Heilfähigkeiten von Bemtoc. Ein grotesk wirkender Kerl, aber unglaublich tüchtig. Seit mehr als fünfzig Zyklen brachte er Kinder zur Welt und heilte jede nur erdenkliche Krankheit.
Bemtoc zog ein Gesicht »Wie du wünschst. Dennoch sollte man bei seinen Analysen sehr genau vorgehen. Mir fiel auf, dass die Kleidung des Toten – stank. Nicht nach Leder oder Fell, nicht nach Leinen oder Pflanzen, sondern nach Fisch. So, als habe sich jemand an ihn gedrückt, jemand, dessen eigene Kleidung mit dem Geruch von Fisch getränkt ist. Das kann ein Zufall sein, es könnte auch ein Hinweis sein, dem nachzugehen es sich lohnt.«
Bluma gluckste und wurde einen halben Kopf größer. »Sagte ich doch.« Sie war sich der Aufmerksamkeit aller sicher. »Es war Bamig, der Fischhändler!«
»Als hätte irgendwer an deiner Aussage gezweifelt ...«, lächelte Burrl und leerte den Bierkrug.