10. Kapitel
Connor fühlte sich so wohl wie lange nicht mehr – nahm er jedenfalls an, denn erinnern konnte er sich nicht. Das Einzige, woran er sich erinnerte, war der Piratenüberfall, der Angriff des Margolous und die Vision, die ihn heimgesucht hatte, während der Kampf stattfand. Ein hagerer Mann im schwarzen Gewand, der Reißzähne hatte und sich in einen Drachen verwandelte. Trotz des Wassers war seine Kleidung trocken geblieben.
Was hatte er gesagt?
Connor suchte danach und erinnerte sich.
Der tausendfache Tod ist das tausendfache Leben. Die Zukunft ist die Erinnerung!
Was bedeutete das? Und woher, bei Gordur, kannte er dieses Wesen? Es kam ihm bekannt vor, jedenfalls jetzt, während er sich daran erinnerte. Als habe er diesen Mann schon einmal gesehen. Aber wann und wo? Liebe Güte, was lag in der Vergangenheit? Wer war er? Ein Barbar, wie Bob meinte? Das konnte durchaus sein, schließlich war er ein hervorragender Kämpfer. Ein Mörder? Ein Söldner? Ein Seefahrer? Ein Händler? Nein, das wohl nicht, dafür fehlte ihm die Klugheit des Geldzählers. Hatte er ein Weib, Kinder, eine Familie, die sich um ihn sorgte? War er aus einem Gefängnis ausgebrochen oder freiwillig auf eine Reise gegangen? Welches Ziel hatte er? Eine Mission? Und falls ja, welche war es?
Es war nicht leicht, die Gegenwart als das anzunehmen, was sie war. Das Jetzt. Jeder Mensch sollte ein Gestern haben, denn nur so konnte er über die Zukunft bestimmen. Dass er ein Kind gewesen war, stand außer Frage, aber wo war er aufgewachsen? Hatte er einen Bruder, eine Schwester, ein Lieblingstier?
Ihm fehlten all jene Erinnerungen, die ihm zu einem ganzen Menschen machten. Er wusste nicht, ob er darüber froh sein sollte oder nicht. Was, wenn Mörder oder Soldaten hinter ihm her waren? Er würde sie nicht erkennen. Was, wenn er Schuld auf sich geladen hatte, für die er in einer Seitenstrasse aufgeschlitzt würde, ohne den Grund dafür zu kennen.
Kein Wunder, dass er sich bei den Barbs so wohl fühlte.
Sie waren zwar kleingewachsen, aber herzlich und freundlich.
Sie hatten seine Schwäche ausgenutzt und ihn eine Nacht in Fesseln gelegt, aber an ihrer Stelle hätte Connor nicht anders gehandelt. Er hatte sein Herz an Bob und Bama verloren und er wusste, dass man ihn hier akzeptierte, woran die Beiden nicht unschuldig waren. Er empfand tiefstes Mitleid mit diesen kleinen fleißigen Wesen, denen das Liebste genommen worden war. Er konnte, wenn er wollte, den Rest seines Lebens auf Fuure bleiben. Hier würde er ein ruhiges Leben führen, zwar ohne Weib, aber mit viel Seelenfrieden.
Nein! Es gab etwas außerhalb dieser Insel. Es gab etwas, dass diese grausige Vision hervorgerufen hatte. Wer war der Kerl mit den Reißzähnen gewesen? Es galt, Antworten zu finden. Sein ganzes Leben war eine einzige große Frage.
Er wog den Carnusstab in seinen Händen. Das war ungewöhnlich. Er war an ein Schwert gewöhnt. Bei den Barbs gab es keine Schwerter. Zwar könnte er sich ein Schwert schmieden lassen, aber der Schmied, Bobs bester Freund, war bei dem Drachenüberfall umgekommen. Für einen Augenblick flackerten Bilder vor Connors Augen auf und er sah den Amboss, die Esse, das Feuer, den Hammer und den gefalteten Stahl. Konnte er schmieden? Schlichten, biegen, torsieren ... Das alles waren Fachausdrücke und sie fielen ihm völlig selbstverständlich ein.
Es käme auf einen Versuch an. Er zitterte bei dem Gedanken, wieder ein Stück in seine Erinnerung eingedrungen zu sein. Ja, er war sich fast sicher. Er konnte es. Also würde er sich Waffen schmieden, so schnell wie möglich.
Denn nun trug er rechts eine Axt und links den Stock von Bama, der gut ausgewogen war.
Währenddessen stürmte eine Herde wildgewordener Crocker auf das Dorf zu.
Dass alles war zu viel Durcheinander. Das pochte in seinem Hirn. Zu viel Durcheinander machte Kopfschmerzen. Er musste sich auf den Kampf konzentrieren. Wenn die Crocker durch das Dorf liefen, würde es erneut Zerstörung und vielleicht Verletzte oder Tote geben. Das wollte er nicht zulassen. Er reckte sich und schaute, ob die Barbs an den Strand flüchteten.
Crocker, das wusste er seltsamerweise, waren gefährliche Tiere. Für Menschen wirkten sie wie gigantische Ochsen, wobei das ein weit hergeholter Vergleich war. Sie hatten kantige graue Schädel mit Hörnern und ein Maul, so breit wie eine Elle. Ihre Zähne waren spitz und zweireihig. Sie galten als gutmütig, wenn sie in einer Herde gezüchtet worden waren. Waren sie wild, sollte man sich besser nicht mit ihnen anlegen. Wilde und Gezüchtete sahen absolut identisch aus, waren aber unterschiedlich wie Feuer und Wasser. Zwar wirkten sie träge, waren aber blitzschnell. Ihre muskulösen Körper konnten einen gestandenen Hünen spielend überrennen.
»Was hast du vor?«, brüllte Bob, der sah, dass Connor sich in Richtung der Herde aufmachte.
»Sie aufhalten.«
»Verfluchter Narr! Wie willst du das alleine hinkriegen?«
»Mir fällt was ein. Vielleicht fürchten sie sich vor mir.«
Bob wedelte mit den Armen. »Lass sie kommen. Ich will, dass du mit uns zum Strand flüchtest. Wenn wir Glück haben, zerstören sie nur das wenige, was wir aufgebaut haben.«
»Wenn wir Pech haben, folgen sie uns zum Strand und töten, was sie vor die Hörner kriegen. Wir wissen nicht, was in diese Tiere gefahren ist.«
»DER ÄRGER! Anders kann es nicht sein. Er hat sie in seiner Gewalt. Sie drehen durch.«
»Ich komme nicht mit!«
»Du bist genauso dämlich, wie du kantig bist, Blondling.« Bob brüllte sich fast die Kehle aus dem Leib, während das Dröhnen an Intensität zunahm. »ICH BEFEHLE ES DIR!«
Connor lachte und rannte los. Noch waren sie hinter dem Hügel. Wenn er sich beeilte, konnte er sich ihnen entgegen stellen und den Leitbullen ...
Den Leitbullen ...
Bei den Göttern! Ja, er war dämlich. Warum hatte er sich nicht mit einem Bogen bewaffnet? So hätte er versuchen können, den Leitbullen abzuschießen. Mit etwas Glück würde das bei der Herde Verwirrung stiften und sie drehten ab. Stattdessen hatte er einen Stab und eine Axt. Bob hatte recht. So dämlich wie kantig!
Und jetzt? Dann musste er es eben mit diesen Waffen schaffen. Er würde sich dem Leittier stellen und es niederschlagen. Wenn es sein musste, würde er ihm den Carnusstock in den Rücken jagen, direkt unter die Ausbuchtungen, die wie Drachenhörner bis zum Schwanz reichten.
Connor sammelte sich und schaute nicht zurück. Erst als eine kleinere Gestalt keuchend und schwitzend neben ihm auftauchte, wurde er aus seiner Konzentration gerissen.
»Was willst du hier?«, schrie er gegen den Lärm an.
Bob blickte zu ihm hoch und schwenkte den Bogen. Über dem Rücken hing ein gutgefüllter Köcher. »He, Blondling, wir müssen den Leitbullen abschießen.«
»Schaffst du das, kleiner Mann?«
»Ich schieße einer Fliege in den Arsch, wenn’s sein muss.«
Für Diskussionen war keine Zeit. Es war, wie es war. Da mussten sie durch.
Sie rannten die Anhöhe hinab, umrundeten eine Buschlinie und kamen auf die Ebene. Das Bild, welches sich ihnen bot, war unglaublich. Etwas erhöht stehend, genau in der richtigen Position, um mit Pfeil und Bogen zu kämpfen, blickten sie auf ungefähr vierhundert Crocker, die direkt auf sie, das Dorf und den Strand zuliefen. Sie alle waren in langen Zyklen von den Barbs gezüchtet worden.
Diese Crocker wirkten weniger wie eine wilde Horde, sondern, als trieb sie der Fressdrang. Ihre Mäuler klappten auf und zu, Schleim und Geifer spritzte und ihr Gang war zwar schnell und zielbestimmt, dennoch rannten sie nicht sinnentleert, als steuere sie eine geheimnisvolle Kraft.
Sie wirbelten Unmengen Staub hoch und rissen Pflanzen aus dem Erdreich. Über der Herde schwebte eine graue Wolke Staub. Die eng aneinander gepressten Körper wirkten wie eine rohe brutale Masse Fleisch. Es war kaum zu glauben, dass eben jene Herde sonst aus stillen, verspielten Tieren bestand, die nicht nur Milch gaben, sondern jederzeit als Nahrung dienten. Ihre kurzen Felle wurden geschickt verarbeitet, aus der Haut machte man Leder. Die Sehnen schlang man zur Stabilisierung in die Wareikenseile, aus den Knochen wurde Kleister gemacht. Und so weiter. Ohne Crocker war ein Leben auf Fuure nicht denkbar und es gab keinen Barb, der nicht Achtung vor diesen mächtigen Tieren hatte. Es wurde nie sinnlos getötet und tragende Weibchen wurden allzeit verschont.
Bob spannte seinen Bogen. Aufgrund seiner kurzen Arme und der damit verbundenen geringen Reichweite der Pfeile musste er lange warten, was an den Nerven riss. Connor schüttelte den Kopf, schlug seinem Freund auf die Schulter und schritt, die Axt und den Stab erhoben, wie ein Rachegott nach unten auf die Ebene. Die Sonne brannte auf seiner Haut. Er fühlte sich stark.
Er zog seine Augenbrauen nach unten, seine Lippen zusammengepresst, Kopf und Körper ein Fels, wartete er. Noch vierzig, vielleicht fünfzig Atemzüge, und sie wäre nahe genug heran. Wo war das Leittier? Connor beobachtete, sondierte und schließlich meinte er, es ausgemacht zu haben.
Seine Gedanken waren ausgeschaltet.
Es gab nur die Crocker und ihn.
Ein Pfeil sirrte an ihm vorbei und bohrte sich in die Kehle eines Crocker, der brüllend anhielt, den Kopf schüttelte, mit den Beinen stampfte und dann umkippte, als habe ihn der Schlag getroffen. Die anderen rannten einfach über ihn hinweg.
Nein, Bob, das war er nicht!, hätte Connor am liebsten gerufen, aber bei diesem Lärm würde der Häuptling ihn nicht hören. Die Herde war nicht weiter als zweihundert Schritte entfernt. Im Trab kamen sie heran und die in der vordersten Reihe senkten die Schädel. Sie hatten Connor ausgemacht. Von nun an war dieser Mensch ihr Feind, den es zu beseitigen galt. Erneut schoss Bob einen Pfeil ab, der weit vorbei ging und zitternd im Boden steckte.
Einer Fliege in den Arsch?
Schlagartig hatte Connor ein ungutes Gefühl. Dieser Barb hatte geschwindelt. Der erste Schuss musste ein Glückstreffer gewesen sein. Hatte er nicht berichtet, es gäbe auf Fuure keine Feinde und keine Kämpfe? Warum also sollte er sich im Schießen üben?
Das durfte doch nicht wahr sein. Bob war aus Loyalität an seine Seite gekommen und als Ergebnis würde er gleich sterben. Wenn es Connor nicht gelang, das Leittier zu finden und zu töten, würde es Bob schlecht ergehen. Der Barb stand der Herde genau im Wege und würde niemals die Möglichkeit haben, zu fliehen. Seine Beine waren zu kurz, sein Leibesumfang zu dick, als das er schnell genug gewesen wäre, vor diesen Tieren wegzulaufen.
Connor atmete einmal tief ein und blendete alles um sich herum aus.
Die Chance war gering.
Irrte er sich, war alles zu spät.
Er und Bob würden sterben.
Es gab keine Garantie, dass die Herde einem Leittrieb folgte. Er hätte den Bogen nehmen sollen. Er hätte Bob wegjagen sollen. Vermutlich wäre die Angelegenheit jetzt erledigt und alle würden weiter am Aufbau des Dorfes arbeiten. So aber...
Noch einmal atmen.
Alles verdrängen.
Es galt nun, sich nicht abzulenken.
Er oder ich!
Und Connor spürte am ganzen Körper, dass er nicht zum erstenmal in so einer Situation war. Zweikämpfe, die er geführt hatte, blitzten vor seinem inneren Auge auf, Besiegte, über die er sich beugte. Blut! Trauer! Hass! Er blinzelte die Erinnerungen weg.
Der Leitbulle war fünfzig Schritte von ihm entfernt und Bob hielt die Axt bereit. Ein Sprung und er würde dem Tier die Schneide in den Schädel jagen, was den Bullen sofort lahm legen musste.
Musste!
Dreißig Schritte.
Der Leitbulle starrte ihn an. Zwei Augenpaare, zwei Gegner. Sie wussten, was sie voneinander zu halten hatten. Connor las Mordlust im Blick des Bullen, der ihm mit einem Mal riesig groß vorkam. Ein gewaltiges Tier, mit einer Schulterhöhe, die ihn, den Barbaren, überragte.
Das musste ein guter Sprung werden.
Was, wenn die anderen Tiere ihn einfach überrannten?
Erneut ein Pfeil von Bob, der daneben ging.
Das Tosen der Füße im harten Staub, der in der Nase kitzelte und in den Augen brannte.
Hinter ihm der Barb, der wie ein Wahnsinniger schrie.
Eine braune Wand, die sich auf Connor zuschob. So viele Muskeln, so viel Kraft.
Er musste sich konzentrieren. Es gab nur diese eine Chance.
Zehn Schritte.
Connor konnte den Bullen riechen. Er witterte den Gestank der Mordlust. Er wusste, dass es einen Sieger geben konnte. Er schwang die Axt mit einem routinierten Schwung,
eine gute Axt!
Er schwang sie, ein perfekter Bogen und gleich würde die Schneide den Leitbullen töten!
Das Axtblatt löste sich und wirbelte in hohem Bogen davon. Connor hielt nur einen Holzstiel in der Hand.
Nur noch den Axtstiel!
Es war ähnlich, wie er es auf der Amalia erlebt hatte.
Diesmal stand die Zeit still.
Alles verlangsamte sich.
Vermutlich waren das die letzten Wimpernschläge eines Menschen, bevor der Tod ihn in sein Reich holte. Connor hatte davon gehört, dass in diesen Momenten das ganze Leben vor den Augen desjenigen ablaufen sollte, und fand dies fast belustigend. So würde er seine Vergangenheit doch sehen, auch wenn es ihm nichts mehr nützte.
Die Crockerherde, die schnappenden Zähne, die schlabbernden Zungen, die gelben glühenden Augen, der Gestank der Endgültigkeit, alles das war präsent. Er hielt den Axtstiel in die Höhe und hätte um Haaresbreite gelacht. Das war ein Witz, ja, das konnte nur ein Witz sein.
Schade, dass er diese Geschichte nie mehr erzählen konnte. Sie würde so manche Runde am Lagerfeuer erheitern. Sie würde wie ein Lauffeuer über Mythenland branden und sogar die Dämonen von Unterwelt würden sich vor Lachen ausschütten. Ein Barbar, dem das Axtblatt davongeflogen war.
Niemand würde ihm das glauben!
Tränen schossen Connor in die Augen und er merkte, dass die Geschichten, die man sich über die letzten Atemzüge erzählte, allesamt Lügen waren. Er sah seine Vergangenheit nicht, stattdessen sah er einen Pfeil, der weich und sanft über seinen Kopf schwebte und direkt in das linke Auge des Crockers drang, gefolgt von einem weiteren Pfeil, der sich das rechte Auge vornahm. Eine Klinge rauschte an ihm vorbei, ein ellenlanges Messer mit gewickeltem Griff, welches sich in die Kehle des Crockers bohrte, der wie vom Blitz getroffen, nur drei Schritte von Connor entfernt, stehen blieb und umkippte, als habe man ihm alle Nerven durchgeschnitten. Er stürzte Connor fast auf die umwickelten Füße …
Wollte er sich nicht schöne Schuhe machen lassen?
… und verendete augenblicklich. Die Herde raste links und rechts an Connor vorbei. Der Luftstrom warf ihn fast um, seine Haare wehten wie im Sturm. Die Tiere stoben in alle Richtungen auseinander und verliefen sich zwischen Bäumen und Büschen, wo einige unversehens stehen blieben, um zu grasen wie harmlose Tiere, die sie für gewöhnlich waren.
Regungslos stand Connor vor dem Kadaver des gefällten Bullen. Zwei Pfeile und ein Messer. Sein Atem ging gleichmäßig, der Axtstiel rutschte aus seinen Fingern und fiel dem Bullen auf die Nase. Connor stützte sich auf den Stock und legte das Kinn auf die linke Faust. Träumte er? Er spürte die Wärme des Tieres zu seinen Füßen und trat einen Schritt zurück.
Seitdem man die Stampede bemerkt hatte und sie auf die Anhöhe ankamen, waren nicht mehr als zweihundert Atemzüge vergangen. Erstaunlich, was in dieser kurzen Zeit alles geschehen konnte.
Und wieder hatte die Zeit stillgestanden. Nicht wirklich – aber so war es ihm vorgekommen. Obwohl selbst unfähig zu handeln, hatte er alles um sich herum wahrgenommen, als sei die Zeit von einer Hexe in Rattengelee geworfen worden. Er beäugte die zwei Pfeile, die Federn, die Fertigung – und wirbelte herum.
Die Federn ihrer Pfeile hatten sie verraten. Nur Amazonen schmückten ihre Pfeile mit den Flügeln des Leopardenkönigs, eines Schmetterlings, der von Elfen gezüchtet wurde.
Bob stand mit weit aufgerissenem Mund da wie eine Salzsäule. Der Bogen hing an seinem langen Arm. Sein Gesicht war vor Ungläubigkeit verzerrt.
Wir sind tot! Das alles träumen wir nur!
Hinter ihm, auf dem Kamm der Anhöhe, standen drei Frauen nebeneinander. Soeben ließen sie die Bögen sinken. Eine Dritte hatte ein leeres Messerhalfter.
Amazonen!, durchfuhr es Connor.
Von diesen Frauen hatte er gehört. Amazonen waren schreckliche Wesen, die den Männern Angstschweiß auf die Stirn trieben, über ein kleines Reich herrschten und denen man am liebsten aus dem Weg ging. Es gab Gerüchte, dass sie Männer versklavten, nur zur Zeugung von Nachwuchs gebrauchten und männliche Nachkommen verbrannten oder aßen. Das mit der abgebrannten Brust schien nicht zu stimmen, denn alle drei Amazonen hatten jeweils zwei davon.
Connor staunte, wie viel ihm einfiel und er fragte sich ernsthaft, ob das mit dem Kampf zu tun hatte, oder dem Tod, dem er ins Auge geblickt hatte.
Wenn das so wäre, würde ihm vielleicht mehr einfallen, denn die Frauen spannten erneut ihre Bögen. Ein Pfeil zeigte auf Bob, der das alles noch nicht registriert hatte, ein anderer auf Connor.
Nun hätte ich doch gerne das Leder der Drachenhaut!
Die Amazone mit dem leeren Messerhalfter schritt hochaufgerichtet an Connor vorbei – eine wunderschöne Frau mit schmalen muskulösen Gliedern, einem edel geschnittenen Gesicht und wallend roten Haaren - lächelte anzüglich und zog das Messer aus der Kehle des Tieres. Sie streckte die Zunge raus, als wolle sie es ablecken, genoss seinen verstörten Blick, kicherte und wischte es im Gras ab. Dann richtete sie die Spitze auf Connor, dem nun der Carnusstock aus der Hand rutschte.
»Ich werde gegen den Dämonenmann kämpfen«, sagte der Lord der Unterwelt, Dunkelelf Murgon von Haus Ranéwén und Tal Solituúde.
Gwenael blickte von ihren Karten auf. »Wann?«
»So bald wie möglich. Ich lasse es heute bekannt geben.«
»Warum hast du dich jetzt doch dazu entschieden?«
»Du hattest recht. Ich muss mich beweisen. Dank der Drachen und ihres Streifzuges ist meine Kraft fast wieder hergestellt. Sollte man den Respekt vor mir verloren haben, werde ich ihn durch einen solchen Kampf zurückgewinnen. Wenn ich den Zieldämon vernichte, wenn ich ihn in die Seelensäure werfe, wird man wissen, dass es besser ist, sich mit Murgon nicht anzulegen.«
Gwenael nickte zufrieden. »Das ist eine gute Entscheidung.« Sie zweifelte nicht einen Herzschlag daran, dass Murgon den Kampf gewinnen würde und ihr Herz schlug schneller. Sie dachte an die Rache, wenn der Mann unterworfen wurde, der sie dazu gebracht hatte, sich wie ein junges Mädchen zu benehmen. Dafür würde er bezahlen. Und Murgon würde dafür Sorge tragen. Ja, er würde gewinnen. Beim ersten Mal hatte der Dämon ihn überrumpelt. Damit hatte niemand gerechnet. Nun jedoch würde ihr Bruder seine gesamte Magie sammeln, wodurch er unbesiegbar wurde.
Andererseits bestand die Gefahr, dass der Manndämon ihm erneut die Kraft abzog. Sie fragte sich, wie er sich dagegen schützen wollte. Ihr war nicht klar, was der Dämon damit bezweckte. Handelte er im Auftrag? Gab es Feinde, die Murgon schwächen wollten, um ihn zu stürzen? Und falls das so war, warum hatten diese Feinde nicht während Murgons Schwächephase eingegriffen? Vielleicht übertrieb sie mit ihren Vermutungen und dieser Dämon hatte schlichtweg eine starke Manneswürde, die sich nicht unterwerfen wollte. Wie man es betrachtete – um ihn rankte sich ein Geheimnis.
»Deine Augen verändern sich, Gwenael. Das Violette verschwindet.«
»Ich sagte dir doch, du solltest etwas Geduld haben.«
Er nickte zufrieden. »Vielleicht tat ich dir unrecht, als ich sagte, du würdest deine Aufgaben nicht wirklich ernst nehmen.«
»Dies ist eine Welt, an die ich mich erst gewöhnen muss, Bruder.«
»In deinen Augen blitzt Hass.«
»Nenne es Groll, Wut oder Zorn. Ich möchte, dass du den Dämonenmann vernichtest.«
»Man trug mir zu, du warst bei ihm?«
Aha, das wusste er. »Ja, ich versuchte, ihn mit den Waffen einer Frau zu besiegen. Die Folter des Sanften Jack hatte nichts ausgerichtet, was also gab es zu verlieren?«
»Ich vermute, es ist dir nicht gelungen?«
»Man muss ihm das Rückgrat brechen.«
»Das werde ich tun, verlasse dich darauf.«
Gwenaels Karten sortierten sich mittels ihrer Gedankenkraft und die zuoberst liegende Karte zeigte den Tod. Ihr Herz blieb für einen Moment stehen, dann wirbelte sie das Kartendeck wieder durcheinander, wartete, was sich ergab, und erneut lag der Tod obenauf.
Für einen Augenblick war sie versucht, ihm von Katraana zu erzählen und davon, dass das Elfental im Norden von Dandoria vor dem Untergang stand. Vielleicht war es doch keine gute Idee, den Kasten der Wächter zu öffnen. Was, wenn damit ein großes Unglück heraufbeschworen wurde?
Und regelmäßig das Motiv des Todes. Sie legte ihre Hand auf die Karte und drehte das Deck um.
Murgon achtete nicht darauf und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Augen glühten im fast schwarzen Gesicht. Er strich sich mit einer langsamen Bewegung die glatten Haare aus der Stirn. Seine brüchige Altmännerstimme sagte: »Ich hatte einen seltsamen Tagtraum.«
»Willst du ihn mit mir teilen?«
Er nickte grimmig. »Mir war, als hätte ich mentalen Kontakt mit der kleinen Barb, um die sich der Sanfte Jack kümmert. Sie weiß, wie man das Artefakt der Wächter öffnet. Aber sie behält das Geheimnis für sich. Sie ist stolz und tapfer. Jack hat es schwer mit ihr.«
»War es eine Phantasie?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht meldete sich nur der Vater meiner Wünsche. Der Traum ging so schnell zuende wie er begann.«
»Wir müssen nach Jack schicken. Er soll uns berichten, wie weit er mit der Kleinen ist.«
»So sei es.« Murgon rief zwei Sklaventrolle, die sich unterwürfig näherten. Bodenlose Furcht stand in ihren Augen. Sie wussten, dass Murgon sich ein Vergnügen daraus machte, die kleinen Wesen mittels seiner Energie zu vernichten, wie es ihm in den Kopf kam. Schnell und ohne Begründung. Einfach nur, weil es ihm gefiel. Die neuen Türwächter, zwei Ghule aus Dandoria, zogen die Türflügel auseinander. Ihre Rüstungen blitzten.
Ein Dokk sprang herein und umkreiste zähnefletschend die Trolle, die zitterten wie Espenlaub. Gwenael hätte dem Tier am liebsten ein Messer in die Kehle gerammt. Seit ihrer Erfahrung mit Weißmaul und seinen Brüdern hatte sie das Interesse an diesen sechsbeinigen Monstern verloren. Sie waren unberechenbar und gefährlich. Es war nicht auszudenken, was sie anrichten würden, wenn Murgon ihnen Grundintelligenz verlieh. Sogar ein Riese würde ihnen nicht standhalten könne. Sie würden ihm einfach Stück für Stück die Beine wegfressen.
»Holt den Sanften Jack«, sagte Murgon und hob seine Hand. Die Trolle rannten, so schnell sie konnten. Bevor sie die Tür erreicht hatten, wurden sie vom Dokk gestellt. Sie fingen an zu heulen und Murgon schnarrte einen Befehl. Sofort machte der Dokk Platz. Sein Schatten flackerte im Fackelschein an der Wand.
»So muss man mit ihnen umgehen.«
Gwenael nickte hart. Mistviecher!
Im selben Moment rutschte eine schlangenartige Kreatur in den Raum. Ihre glitschig wirkende Haut glänzte grün und die drei Augen, welche auf der Nasenspitze saßen, blitzten weiß. »Großer Lord von Unterwelt – etwas Schreckliches ist geschehen.« Der wurmartige Oberkörper schnellte hoch und schaukelte, durch reine Muskelkraft gehalten, hin und her. Es handelte sich um Gropp, einen der Wissenschaftler, die in den Katakomben experimentierten.
Murgon zog die weißen Augenbrauen zusammen. »Raus damit, Gropp!«
»Der Manndämon ist entkommen.«
Gwenael fuhr ein eisiger Finger über den Rücken. Ihrem Bruder schien es nicht anders zu gehen. Sein Unterkiefer klappte runter. Gwenael fand zuerst ihre Sprache wieder. »Was willst du damit sagen?«
Durch die geöffnete Tür kam Kloorrk herein. Er musste sich bücken, um nicht die Decke zu berühren. Ein riesiger Körper mit einem kleinen Kopf und langen, zarten Fingern, mit denen er einige Wesen so lange gekitzelt hatten, bis denen die Luft wegblieb und das Herz aussetzte. »Der Sanfte Jack wurde schwer verletzt. Eine Tür ist auf ihn gefallen. Die Wachsoldaten sind tot. Der Dämon ist geflüchtet - und mit ihm das Mädchen von Fuure!«
»Die Barb?«, brüllte Murgon. »Die Barb ist verschwunden? Wo sind sie hin? Wie konnte das geschehen? Bringt mir die Soldaten.«
»Wie gesagt, Herr. Sie sind tot. Der Dämon hat sie ...«
»Bringt mir irgendwen. Wo sind sie? Ich muss dieses Barbmädchen haben.« Nun kreischte er. »Ich muss sie haben!«
Gwenael, der die Spucke wegblieb, musterte ihren Bruder mit großen Augen. Noch nie hatte sie ihn so aufgelöst erlebt. Er führte sich auf wie ein kleiner Junge, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte. Mitleid und Zärtlichkeit strömten durch ihre Adern und am liebsten hätte sie Feiniel – nein, Murgon! – in den Arm genommen.
Die Überbringer der schlechten Nachrichten wanden sich in Furcht und die Trolle hockten zusammengesunken neben der Tür, bewacht vom Dokk und den Ghulen, die sich vermutlich auf ein leckeres Fresschen freuten. Wenn Gwenael sich richtig erinnerte, handelte es sich bei diesen Türwächtern nicht um Vampirdiener, sondern um Leichenfresser. Kein Wunder, dass sie nach Aas stanken.
Wenn sie sich nicht einmischte, würde es gleich ein Blutbad geben.
»Wann ist das geschehen?«, fragte sie, um Fassung ringend.
»Wir hörten soeben davon. Es dauerte eine Weile, bis es sich herumsprach. Der Dämon und die Barb halten sich in den Stollen und Höhlen von Unterwelt versteckt. Wir wissen, dass sie den Übergang nicht benutzt haben«, meinte Gropp mit belegter Stimme.
Murgon setzte sich auf den thronartigen Sessel und seine schlanken Finger trommelten auf die Lehne. Er beugte sich vor und sein stechender Blick fesselte die Anwesenden. »Bringt mir die Beiden.« Er nahm eine kopfgroße Sanduhr und stülpte sie um. »Wenn dieser Sand verronnen ist, möchte ich, dass die Flüchtigen gefasst sind. In Mythenland ist das die Dauer einer Nacht. Hier ist es die Zeit, die euch bleibt, um zu überleben. Macht, dass ihr davon kommt.«
»Wir?« fragte Kloork fassungslos.
Murgon hob die rechte Hand.
So schnell sie konnten, huschten Gropp, Kloorrk und die Trolle davon. Der Dokk folgte ihnen und die Ghule schlossen die Tür. Sie hinterließen eine frische Brise der Erleichterung und Gwenael atmete tief durch. Sie verabscheute es, wenn Murgon tötete.
»Sie werden die besten Dämonen und Soldaten aufbringen, um die Beiden zu finden«, sagte sie. »Außerdem gibt es die Dokks. Sie haben sehr feine Nasen.«
»Alles Unsinn. Sie werden gar nichts tun, denn sie sind Wissenschaftler. Sie werden sich in Furcht winden, weil sie hilflos sind.«
»Und warum die Sache mit der Sanduhr?«
Er grinste scharf. »Weil es Spaß macht!«
Sie unterdrückte ein Schaudern. »Was willst du tun, um die Flüchtenden zu finden?«
»Ich setze meine Geheimwaffe ein. Sie wartet in den Verliesen. Sie wird erfreut sein, einen Auftrag zu bekommen. Wenn einer die Beiden schnappt, dann er.«
»Er?«
»Später mehr dazu, Gwenael.«
Sie wusste, es war besser, wenn sie jetzt schwieg.
Murgon sagte grimmig: »Ich bin zu gutmütig, das ist das Problem. Ich hätte die Barb auf der Stelle unterwerfen sollen und den Dämon töten. Dieser ganze Unsinn von demütiger Verinnerlichung und so weiter hat dazu geführt, dass mein bester Foltermeister verletzt wurde. Durch eine Tür! Das ist doch lächerlich!« Er schlug die rechte Faust in die linke Handfläche. »Falls er überlebt, wird er für sein Versagen bezahlen, das verspreche ich dir. Er wird erleben, was Schmerzen sind, dieser Hund. Mal sehen, was Jack aushält ... Wie konnte es dem Dämon gelingen, aus seiner Zelle zu entkommen? Ich bin zu gutmütig!«
Nein, ihr Bruder war bequem!, wusste Gwenael. Eigentlich sollte er sich aufmachen und die Zelle untersuchen. Er sollte seine magischen Fähigkeiten einsetzen, um die Entkommenden zu finden. Stattdessen delegierte er die Sache und wartete ab.
Früher oder später würde ihn das seine Macht kosten. Aber vorher ... die Bilder verschwammen und sie konzentrierte sich auf die Karten. Sie ließ das Kartendeck wirbeln. »Großer Divinator, göttliche Inspiration, zeige mir, was du siehst«, flüsterte sie, und als es sich senkte, zeigte die oberste Karte Die Herrscherin. Das war gut, wirklich gut. Hatte der Tod für den Sanften Jack gestanden, für das Ereignis? Nein, dafür gab es Den Gehenkten, der einen neuen Anfang oder einen abrupten Wechsel versprach.
Die Herrscherin lag obenauf.
Sie fegte das Blatt zusammen. Sie war zufrieden.
Murgon war zum Fenster gegangen und starrte in die Dämmerung der Höhlen hinaus. Ohne sich umzudrehen, fragte er: »Vermisst du manchmal das Sonnenlicht?«
Gwenael war über die Ruhe in seiner Stimme und den unerwarteten Themenwechsel fassungslos. Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete. »Ja, bisweilen.«
Noch immer hallte diese seltsame Frage in ihr wider. Um Haaresbreite hätte sie laut gelacht. Ob sie das Sonnenlicht vermisste? Wen interessierte das? Und wie kam er auf diesen Unsinn?
»Vermisst du den Gesang der Vögel, den weichen Wind, das Plätschern eines Baches?«
»Ja, Bruder«, sagte sie mit ruhiger Stimme, obwohl sich ein Lachen ihre Kehle hochstahl.
»Es ist das Schicksal eines Dunkelelfs, seine Magie bei Sonnenlicht zu verlieren.«
»Nur seine dunkle Magie ...«
»Nur?« Er lachte traurig. »Sie ist die stärkste Macht, die es gibt. Das Dunkle ist stets präsenter als das Gute.«
»Du warst ein guter Elf«, sagte sie, stand auf, ging zu ihm und nahm ihn in den Arm. »Etwas davon ist in dir, ich spüre es. Ach, könnte ich doch noch einmal ein Gedicht von dir lesen ...«
Die Ghule, denen man die Zungen herausgeschnitten hatte, grunzten, als würden sie das Bizarre des Gesprächs begreifen.
Murgon stieß Gwenael von sich weg. Sie roch seinen kalten Schweiß.
»Warum grunzt ihr, elende Kreaturen?«, brüllte er mit heiserer Stimme. Die Ghule heulten vor Schreck auf und verkrochen sich fast in ihre Uniformen, was nicht verhinderte, dass sie im selben Moment in Murgons Energiestrahl verdampften.