2. Kapitel
Ihr Name war Marielle, doch jeder rief sie kurz Mari. Sie wusste bis heute nicht, ob ihr diese Anrede gefiel, doch sie hatte sich daran gewöhnt.
Sie lebte in einem Haus in Dandoria, der Hafenstadt des Kontinents, den man ebenso nannte: Dandoria! Sie war in diesem Haus geboren worden, ihre Eltern waren verstorben und nun hütete sie dieses Haus für ihren Mann, den sie hasste und verachtete.
Sreidel war ein hartherziger Mann. Er verbrachte viele Tage mit seinen Saufkumpanen in den Schenken der Hafenstadt. Wenn Sreidel, meist spät in der Nacht, nach Hause kam, erwartete er Maris volle Aufmerksamkeit. War es ihr gelungen, sich in einen unruhigen Schlaf zu flüchten, riss er sie erbarmungslos aus diesem heraus. Jede noch so winzige Weigerung, die er witterte wie ein Raubtier seine Beute erspürte, konnte sein Missfallen erregen. Auch eine servile Haltung ihrerseits konnte seine Aggressionen bis zum Äußersten herausfordern.
Es war eine täglich neu inszenierte Orgie der Gewalt, die damit begann, daß er eine warme Mahlzeit forderte und sich nicht mit aufgewärmten Resten vom Tag davor zufrieden gab.
Am nächsten Tag entschuldigte er sich gestenreich, weinte und schwor Besserung. In den ersten Jahren ihrer Beziehung hatte Mari sich darauf eingelassen, hatte ihm verziehen, immer wieder. Jetzt wollte sie nicht mehr. Nun wusste sie, dass es auch anders gehen konnte, nein – musste! Sie verlor von Tag zu Tag mehr ihrer Würde und die blauen Flecken an ihren Armen und auf ihrer Schulter wiesen sie stets darauf hin, dass es Zeit war, sich von Sreidel zu befreien.
Sie ahnte, dass dies einige Anstrengungen bedeutete, denn Sreidel war nicht der Mann, der seine Frau hergab. Er würde alles tun, um sie zu halten.
Sie betrachtete sein schönes Gesicht, seine blonden Haare und wusste, dass sie ihn immer noch – unwichtig, was geschehen war – liebte. Dies war eine Liebe, die sich an der Vergangenheit orientierte. An einer Zeit, in der alles anders gewesen war, als Sreidel sie lieb gehabt hatte, als er weder trank noch anderen Vergnügungen nachging, die einer Ehe schaden konnten. Zwar sprach er hin und wieder über seine Verflossenen und merkte nicht, wie viele Schmerzen er ihr damit zufügte, doch das war nicht das Schlimmste.
Freunde hatten Mari gewarnt.
Dies sei kein Mann für sie. Viel zu schön, viel zu groß, einer, dem junge Mädchen schöne Augen machten. Mari wusste, dass Sreidel ein Taugenichts gewesen war, doch bei ihr würde alles anders werden.
Heute begriff sie: Sie hatte diesen schönen Mann retten wollen!
Dies war ihr nicht gelungen!
Alles wäre anders gewesen und vielleicht hätte sie den Mut für ihren Befreiungsschlag nie gefunden, wäre nicht der heutige Nachmittag gewesen.
Sie war zum Markt gegangen, als die Gardisten zwei Personen vor sich hertrieben, beide in Ketten, vermutlich auf dem Weg zur Burg. Angeführt wurde dieses Gespann von einem Halbling, den jeder in Dandoria kannte. Sein Name war Störmer und dieser hatte, nachdem König Rondrick verschwunden und seine Frau getötet wurde, die Macht übernommen.
Einer der Beiden war ein Zwerg, doch um den ging es nicht. Der Andere war ein großer breitschultriger Mann, der eine Lederweste und halblange Leinenhosen trug, die Füße in gut gearbeiteten Stiefeln. Die Sonne hatte sich auf seinen blonden, schulterlangen Haaren gespiegelt. In seinen Augen stand eine stumme Intelligenz, die Mari faszinierte. Sein Mund war sensibel und seine Hände hatten lange schmale Finger, was auf Sensibilität hinwies. Sie wusste nicht, wie sein Name war, aber sie verliebte sich auf der Stelle in ihn.
Am liebsten wäre sie zu ihm gelaufen, hätte ihn befreit, denn sie war sicher, dass jemand, der so viel Wärme ausstrahlte, ein wunderbarer Mensch war. Stattdessen starrte sie dem seltsamen Gespann und den Gardisten, welche die Beiden bewachten, mit offenem Mund hinterher.
Ihr Herz pochte schwer und ihre Beine zitterten. Sein Rücken war gerade, selbst unter Ketten beugte er sich nicht, sein Kopf war stolz erhoben. Was würde mit ihm geschehen? Würde man die Beiden hinrichten oder einsperren? Dann würde sie ihn nie wiedersehen. Niemals!
Dieser Gedanke war für Mari unerträglich.
Ihr war, als habe sich ein heiliger Funke in ihre Seele verirrt, als läge ein silbern schimmerndes Glitzerkleid über ihrer Haut. So etwas hatte sie noch nie erlebt, stets hatte sie sich an die wenigen Männer, die sie gekannt hatte, gewöhnen müssen, die Liebe, oder das, was sie dafür hielt, musste wachsen. Nur bei Sreidel war es gelungen. Und diese Liebe war noch immer da, aber nicht so tief, nicht so intensiv, nicht so freudig und hoffend, wie sie jetzt empfand.
Ein Schauder überlief sie und sie erkannte die Lust, die sie ergriffen hatte. Eine seltsame Mischung aus Begehren und Hoffnung. Liebe Güte, es war doch nur ein Blick gewesen und er hatte sie nicht angeschaut. Sie wusste – sie war eine schöne Frau. Sie hatte es oft genug gesagt bekommen.
Hochgewachsen, die glatten, halbblonden Haare schulterlang, das Gesicht ein wenig scharf gemeißelt mit Augen, die Männern ins Herz drangen, eine schmale, etwas zu lange Nase und Lippen, die zwar nicht sinnlich, jedoch verheißend wirkten. Ihr Körper war wohl geformt, glatte Haut, die Sreidel mit Samt verglich, und Proportionen, die sich sehen lassen konnten. Sie betonte dies nicht, sondern kleidete sich einfach, wie es sich in Dandoria gehörte. Nicht wenige Frauen musterten sie abwertend, mit Gesichtern, in denen sich Neid spiegelte. Wenn sie durch die Strassen und Gassen der Stadt schritt, den Einkaufskorb über dem Unterarm, konnte sie sich der Aufmerksamkeit vieler gewiss sein.
Doch dieser wunderschöne Hüne hatte sie nicht angeschaut.
Nicht einmal!
Eben dies war es, was ihn so reizvoll machte. Endlich würde sie sich um einen Mann bemühen müssen, anstatt von ihnen umschwärmt zu werden wie Bienen auf einem Kuchenstück.
Daran erinnerte sie sich, als sie sich trotzig die Tränen aus dem Gesicht wischte. Sreidel schlief seinen Rausch aus und nicht konnte ihn in diesem Stadium des Schlafes wecken. Das war gut und unterstützte ihren Plan.
Am Rande der Stadt lebte eine Frau, die man Vira nannte, eine Hexe. Manche Frauen wussten davon und niemand sagte etwas, denn Vira war jene Frau, die dafür sorgte, dass ungeborene Kinder nie das Licht der Welt sahen. Somit hatte sie stets ein Druckmittel in der Hand, sollte sich mal eine Dandorierin wagen, Klage zu erheben. Diese Hexe hatte Mari einen Trunk gebraut.
Und diesen Trunk, den sie in zwei Phiolen aufbewahrte, würde Mari Sreidel einflössen.
Sie staunte, dass ihre Finger nicht zitterten, wunderte sich, woher sie den Mut nahm. Gestern hatte er sie angebrüllt und mit der flachen Hand geschlagen. Sie war gegen Wände geprallt und einmal gegen die gusseiserne Kochstelle, wovon ihr Rücken schmerzte. Er hatte ausgespuckt und sie mit Schimpfworten belegt, schließlich war er auf die Schlafstatt gekippt und sein Schnarchen hatte Maris Schluchzen übertönt.
In derselben Nacht war sie zu Vira gegangen. Die hübsche junge Frau, welche selbst ein hartes Schicksal hinter sich hatte, musste nicht lange überredet werden.
»Er ist dir ein schlechter Mann?«, hatte sie gefragt.
»Ich liebe ihn«, hatte sie geantwortet.
»Wer liebt, möchte dem Anderen Gutes tun.«
»Das wollte ich stets. Ich war für ihn da, wenn er mich brauchte und er brauchte mich oft. Er hat eine verwirrte Seele.«
»Bist du für ihn der Mittelpunkt des Paradieses?«
»Nein ...«
»Was Prügel sind, weiß er, was Liebe ist, hat er noch nicht rausgefunden, sehe ich das richtig?«
»Das war nicht immer so ...«
»Wer Liebe ernten will, der muss Liebe säen. Da ist es wie bei den Pflanzen. Ich weiß nicht, wer von euch der Sämann war. Beide? Keiner?«
»Aber ist Liebe nicht zu jedem Opfer bereit?«, hatte Mari gefragt.
»Ja, du arme Frau. Und dein Mann ist nicht bereit für diese Opfer, wenn ich dich richtig verstanden habe.«
Sie hatte vehement mit dem Kopf geschüttelt und die Hexe hatte freundlich gelächelt und in ein Regal gegriffen. »Nehme dies, flöße es ihm ein und vergesse, was du getan hast.«
»Vergessen?«
»Es wird nie geschehen sein.«
Das hatte Mari nicht begriffen, aber sie verließ sich auf die Frau, denn sie wusste, dass es nie Beschwerden gab. Wer zu Vira ging, konnte sich danach seiner Sache sicher sein.
Sie zog eine der zwei Phiolen aus ihrem Kleid und entkorkte sie. Sie schnupperte daran, doch roch nichts. Sie beugte sich vor und nun fingen ihren Hände doch an zu zittern.
Sreidel lag auf dem Rücken, seine übliche Schlafstellung, wenn er zu viel Wein getrunken hatte. Der Unterkiefer war etwas aufgeklappt, aus dem Mundwinkel rann Speichel.
Früher – und es schien Mari eine Ewigkeit her zu sein – hatte sie ihm den Speichel weggetupft, während er schlief, heute ekelte es sie davor. Mit dem Daumen versuchte sie, den Mund des Schlafenden etwas zu öffnen. Sreidel grunzte und bewegte sich.
Als hätte sie an glühende Kohlen gefasst, fuhr Mari zurück und versteckte die Phiole so hastig, dass etwas von dem Trank überschwappte. Sie hatte aufgehört zu atmen. Ihr Herz schlug wie ein Schmiedehammer. Es dauerte eine kleine Weile, bis sie sich beruhigte. Erneut versuchte sie, Sreidels Mund zu öffnen. Um Haaresbreite hätte sie gejubelt, denn das Gesicht reagierte.
Sreidel öffnete die Augen.
Er starrte sie an.
Seine blauen Augen kontrastierten mit seinen blonden Haaren und Mari seufzte erschrocken. Wenn er sah, was sie vorhatte, würde er sie ...
Bevor sie diesen Gedanken zu Ende spinnen konnte, schloss Sreidel seine Augen und schlief. Mari hatte keine Zeit zu verlieren. Sie drückte dem Mann die Phiole an die Unterlippe und schütte ihm die Flüssigkeit in den Mund. Es war nicht mehr als ein Schluck, doch der genügte, um den Schlafenden zu wecken. Mari sprang zurück und warf das Glas in eine Ecke des Raumes. Sie stand vor der Schlafstatt und unbändige Angst machte sich in ihr breit. Würde der Inhalt einer Phiole ausreichen?
Er hatte es gemerkt.
Nun würde er sich rächen.
Er bäumte sich auf und hustete, wobei er Mari anstarrte, als sehe er einen Geist. Er war noch nicht wach, lediglich sein Körper reagierte, aber es würde nicht mehr lange dauern.
Mari überlegte sich, ob sie davonlaufen sollte, fliehen, irgendwohin, wo er sie nicht fand. Nein, er würde sie überall finden, denn er gönnte sie keinem Anderen. Und schon gar nicht ihm. Jenem Unbekannten, der Maris Herz gestohlen hatte.
Sreidel schluckte und hustete. Er blinzelte und fiel auf den Rücken. Sein Mund öffnete sich und er jammerte etwas, das Mari nicht verstand. Verworrene trunkene Worte. Doch, nun hörte sie es. Dass er sie liebe, dass er sie hasse, dass er sie brauche, dass er sie verstoße, dass er sie begehre und nicht wolle.
Sein verwirrter Geist sprach, jener Geist, den zu beruhigen sie stets versucht hatte. Alles, alles hatte sie für ihn getan, doch als es daran war, dass er etwas für sie tun sollte, hatte er gelacht und noch mehr Wein in sich hinein geschüttet. Sie war satt von ihm. Sie war überfressen. Sie wollte nicht mehr geben, sondern bekommen. In ihr gab es keinen Raum mehr für ihn, sie fühlte sich, als habe sie einen ganzen Truthahn vertilgt!
Sreidel war wach, zweifellos, denn er grinste. »Was hast du mir eingeflößt?«, fragte er mit grausamer Klarheit. Er wollte sich bewegen, doch das gelang nicht. Nur sein Mund sprach und das Grinsen fror ein. »Etwas, um mich los zu werden?«
»Würdest du mich je gehen lassen?«, flüsterte sie und Schweiß lief über ihr Gesicht.
»Habe ich das nicht schon längst getan?«, wollte er, wollte sein Mund wissen.
Mari schwieg und wartete. Sie war unfähig, Worte zu formen. Eine Woge Mitgefühl wallte über sie. Was, bei den Göttern, hatte sie getan? Sie liebte ihn doch, oder? Aber sie liebte auch den Unbekannten und den liebte sie mehr, viel mehr, denn zu ihm zog es sie, nach seinen starken Armen rief ihr Herz. Ein Blick in seine Augen hatte genügt. Und, dass er sie nicht wahrgenommen hatte. Der einzige Mann in ihrem Leben, der sie nicht wahrgenommen hatte.
Sreidels Mund schwieg. Wollte er noch etwas sagen? Quälte ihn eine furchtbare Lähmung? Funktionierte sein Verstand noch? Sah er das Unvermeidliche auf sich zukommen, ohne seine Furcht herausbrüllen zu können?
Mari ging mit zitternden Beinen zu ihm. Sie blickte in seine wachen Augen. Sie schienen ihr etwas sagen zu wollen, aber sie war nicht bereit dafür. Was geschah, war gut so. Sie hatte sich von ihm befreien, hatte ihre Seele reinigen müssen, damit sie Raum fand für ihn, den schönen Hünen.
Sehr langsam trübte sich Sreidels Blick und sie fragte sich, was er als Letztes wahrgenommen hatte, als Letztes gedacht hatte? Dass er sie liebe oder verdamme? Hatte er einen stillen Fluch über sie gelegt?
Sie drehte sich um und rannte aus dem Haus. Als sie den Todesfall meldete, glaubte sie selbst daran, dass ihr Mann an einem Herzanfall gestorben sei. Alles andere hatte sie vergessen.
Die Gefährten erwachten im Schutz der Büsche und Felsen am Rande des Teiches.
Die Herbstsonne quälte sich hinter grauen Wolken hervor und Frethmar blinzelte, denn sie stach ihn und verscheuchte seine dunklen Träume.
Der Zwerg reckte sich und schaute sich um.
Es dauerte eine Weile, bis er sich orientierte. Was in den letzten Tagen geschehen war, mochte er kaum zusammen zählen.
Sie waren auf eine lange Reise gegangen, welche sie stets in große Gefahren gebracht hatte. Erst gestern hatte die dandorianische Garde versuchte, ihn, Frethmar und seinen Freund, den Barbaren Connor zu töten. Mit Hilfe der Amazone Lysa hatten sie sich retten können und in der unberührten Wildnis, nicht weitab der Burg, versteckt. Hier waren der Manndämon Darius, der Häuptling der Barbs, Bob und sein Weib Bama, sowie deren Tochter Bluma zu ihnen gestoßen.
Es gab auch einen Neuen in der Gruppe. Er hieß Biggert und war ein Barb, der seinen Freunden mit einem anderen Schiff gefolgt war – denn er hatte das Drachenei gefunden, welches Lysa so dringend benötigte, um aus dessen Schale ein Elixier zu extrahieren, um die Männer ihres Stammes vor dem sicheren Tod zu bewahren.
Alles hätte gut sein können, doch Biggert war während seiner Überfahrt nach Dandoria das Ei gestohlen worden. Hinzu kam, dass die Gefährten vermutlich von der dandorianischen Garde verfolgt wurden. Selbst, wenn sie sich zu ihrem im Hafen ankernden Schiff, der Wing durchschlagen konnten, war es kaum möglich, abzulegen, ohne gefangen genommen zu werden.
Eine unmögliche Situation.
Frethmar rieb sich den Schlaf aus den Augen. Wie auf ein geheimes Kommando hin reckten und streckten sich auch die Anderen und rappelten sich auf.
Bob stiefelte zum Teich und wusch sich das Gesicht, wobei der Barb schnaufte und rotzte. Darius wischte sich seine langen schwarzen Haare aus den Augen. Bluma, die hochintelligente junge Barb, welche gemeinsam mit Darius in Unterwelt gewesen war, versuchte ihre filzigen Haare zu richten, als wolle sie es Darius, den sie mit großen runden Augen anblickte, nachmachen. Man musste kein Wahrsager sein, um zu erkennen, dass das kleine vierschrötige Wesen in den schönen großen Mann verliebt war.
Frethmar schmunzelte. Eine Liebe ohne Zukunft.
Connor stemmte sich hoch. Der Hüne hatte erst kürzlich seine Erinnerungen wieder gefunden und wusste nun, dass er aus dem Norden stammte und ein Barbar war. Seine schulterlangen blonden Haare glühten und sein kantiges Gesicht sah zerknautscht aus.
Lysa und Laryssa, die Amazonen wirkten ausgeschlafen und wie immer schön. Schlanke bemalte Körper und knappe Kleidung. Frethmar grinste. Es machte ihm Freude, mit diesen selbstbewussten Weibern zu schäkern. Besonders mit Lysa verband ihn eine zwar spannende, aber dennoch peinliche Geschichte, über die er jetzt lieber nicht nachdenken wollte.
»Hallo, mein Freund«, brummte Connor. »Gut geschlafen?«
Frethmar musterte den Hünen. Heute Nacht hatte er ihm ein Geheimnis anvertraut. Vor vielen Jahren hatte Frethmar einen gigantischen Schatz gefunden, von dem nur er wusste, wo er zu finden war. Als Connor dies erfahren hatte, hatte sich seine Anmutung schlagartig geändert und der Zwerg war erschrocken gewesen. Hatte er einen Fehler begangen, indem er sich jenem Mann anvertraute, der ihm mehrfach das Leben gerettet hatte? Nun, die Zukunft würde es zeigen.
»Und selbst?«, fragte Frethmar.
»Ich habe geträumt«, gab Connor zurück und streckte sich. »Von einem sagenhaften Schatz.« Der Barbar grinste schräg, als wolle er sich für sein seltsames Verhalten entschuldigen. »Keine Sorge, Fret, dein Geheimnis ist bei mir sicher.«
Frethmar nickte. »Ich weiß!« Wusste er das wirklich? Und schon wieder ein Gedanke, der es wert war, verscheucht zu werden. Es gab unzählige andere Dinge, die zu bedenken waren – Misstrauen gehörte jetzt nicht dazu. Sie würden zusammen halten müssen, um die missliche Lage zu meistern.
Bob kam zu ihnen. »Ich habe Hunger«, knurrte er missmutig. »Mein Magen knurrt wie eine ganze Crockerherde.«
Darius und Bluma gesellten sich zu ihnen, die anderen Gefährten auch und so standen sie zusammen, während ein kühler Wind aufkam.
»Was tun wir?«, wollte Lysa wissen.
Darius verschränkte die Arme vor der Brust. Der Manndämon hetzte nach wie vor hinter seinem Geheimnis her. Er hatte in Dämonengestalt versehentlich seine Tochter getötet und war zurückverwandelt in Menschengestalt hingerichtet worden. Er war in Unterwelt erwacht und hatte von dort mit Bluma fliehen können. Sie waren den Häschern des grausamen Lords der Unterwelt, dem Dunkelelf Murgon, entkommen. Seltsamerweise hatte Darius den Übergang ins Land der Mythen bei voller Gesundheit überstanden. Ein Unding, denn ein Dämon war stets ein Dämon und konnte nie wieder in seine ursprüngliche Gestalt zurück.
Darius sagte: »Wir wissen, dass wir das Drachenei für Lysa finden müssen. Wir wissen weiterhin, dass Lord Murgon einen Überfall auf Dandoria und Mythenland plant. Außerdem müssen wir einen gewissen Agaldir finden, da uns dies geweissagt wurde. Letztendlich gibt es noch eine Sache, die erledigt werden muss.«
Connor lächelte. »Es geht um dich, nicht wahr?«
Darius nickte. »Was ist mit mir geschehen? Die Antwort kann ich nur hier finden. In Dandoria. Hier war ich früher als Anwalt tätig. Und hier wurde ich aufgehängt.«
Bluma blickte zu ihm hoch. »Du warst verheiratet, nicht wahr?«
»Das weißt du, liebe Freundin.«
»Und du hast geträumt, dieses Weib habe persönlich den Hebel umgelegt, der die Klappe unter deinen Füßen öffnete.«
»Auch das weißt du.«
»Dann schaue vor deine Füße, und nicht in die Ferne.«
Frethmar grinste. Das war typisch Bluma. Sie spielte mit ihrer Intelligenz und ließ alle anderen gerne wissen, dass sie ihnen intellektuell überlegen war.
»Was meinst du?«, fragte Darius.
Bluma schüttelte den Kopf. »Du hetzt durch die Stadt und suchst Antworten. Dabei liegt die Antwort direkt vor dir.«
Darius kniff die Augen zusammen, dann schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Du hast Recht, wie immer.«
»Häh?«, ließ sich Bob hören. Wie so oft wurde er aus seiner Tochter nicht schlau. Seitdem er wusste, dass Bluma die erste Barb war, die über die Macht der Magie verfügte, war sie ihm ein noch größeres Rätsel geworden. Erst gestern hatte sie mit einer magischen Kreatur kommuniziert. Ein freundlicher Junge, Steve, hatte sie unter ein Haus in eine Höhle geführt. Dort lebte Ringo, der Lichtwurm, das Gewissen von Mythenland. Bob würde nie vergessen, wie seine Tochter sich verändert hatte, nachdem sie vom magischen Wasser des Höhlensees getrunken hatte. Hinzu kam, dass seine Tochter dem Dämonenmann mehrfach das Leben gerettet und sogar mit einem Golem, der von Murgon geschickt worden war, um sie zu fangen, gekämpft und gesiegt hatte.
Darius strahlte und blickte in die Runde. »Mein Weib! Wieso bin ich nicht eher darauf gekommen?«
»Mmpf«, machte Bob, der nichts verstand.
»Mit ihr zusammen hatten wir Riousa, unsere Tochter, die ich versehentlich tötete.« Seine Augen wurden dunkel. »Mein Weib lieferte mich den Bütteln aus und sorgte dafür, dass ich hingerichtet wurde. Sie lebt hier und ich werde zu ihr gehen. Sie wird mir einige Fragen beantworten müssen.«
Agaldir schlief selten.
Als Blinder Magister war ihm Schlaf nicht wichtig, denn er ruhte so sehr in sich selbst, dass er seinen Geist entspannen konnte und Träume herbeirufen, ohne die Nacht zu benötigen.
Obwohl er schon viel in seinem langen Leben erlebt hatte, belastete ihn, was gestern geschehen war. Nachdem König Rondrick zu den Riesen gegangen war und sein Weib Grisolde von einem Dämon getötet worden war, hatte für einige Tage Anarchie geherrscht. Ein Halbling namens Störmer hatte das Regiment übernommen. Inquister Loouis Balger hatte jedoch das Ruder herumgerissen und eine Ratssitzung einberufen, zu der Agaldir als Gast geladen war.
Dort war es zu einer Auseinandersetzung mit Balgers Magus Claudel gekommen, in dessen Verlauf Agaldir den Magier töten musste. Es war ein handfester Magierkampf gewesen, eine explosive Mischung geballter Macht und Magie. Danach war Agaldir in die Stadt gegangen, um sich zu vergewissern, dass es seinem Enkel Steve gut ging.
Agaldir wusste, dass Steve eine gemischte Gruppe zum Lichtwurm geführt hatte und er war erstaunt, wie Steve seine keimende Magie umsetzte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Steve würde sein Nachfolger werden. Wenn der Junge ein Mann geworden war. Der Blinde Magister wusste, wo sich die Gruppe aufhielt und würde gemeinsam mit Steve dorthin gehen.
Den Hünen und den Zwerg hatte Agaldir kennen gelernt, denn er hatte die Beiden beim Kampf beobachtet und war fasziniert gewesen, mit welcher Energie und Kraft das ungleiche Paar sich gegen eine Überzahl Soldaten durchgesetzt hatte. Wirklich fasziniert jedoch hatte ihn eine andere Szene.
Während der Kampf tobte, hatte der blonde Hüne eine Amazone umarmt, hochgehoben und geküsst. Liebe inmitten der Schlacht. Nein, ihn faszinierte nicht die Gewalt, sondern, wie aufopfernd sich die Freunde gegenseitig die Leben gerettet hatten. Sie hatten gekämpft und stets einen Blick auf den Anderen geworfen. Agaldir kannte sich mit Kampf und Grausamkeit aus und er wusste, dass so etwas sehr selten war. Meist versuchten die Kämpfenden ihre eigene Haut zu retten. Heldentaten und Freundschaft gab es nur in Sagen, sie waren ein Mythos. Jeder war sich selbst der Nächste, wenn es um sein Leben ging. Bei dieser Gruppe war das anders gewesen, was von großer Liebe, Zuneigung und Freundschaft zeugte.
Härte und Sanftheit, Mitgefühl und Grausamkeit.
Agaldir war stets von Gegensätzen fasziniert gewesen, schließlich war er der lebende Beweis. Er war blind und konnte sehen. Die Tätowierungen, die seinen ganzen Körper bedeckten, Schlangen und Runen, Zeichen und Motive, waren seine Augen und seine größte Hilfe.
Er rüttelte Steve wach.
Der Junge grunzte unmutig, er genoss den Schlaf der Jugend.
»Wir wollen gehen, Steve …«, flüsterte Agaldir.
Steve riss die Augen auf und war im Nu wach. Er sprang aus dem Bett und kleidete sich hastig an. »Habe ich verschlafen?«
Der Alte lächelte. »Nein, das hast du nicht. Du weißt, wohin du mich führen sollst?«
»Zu den freundlichen Leuten, die ich gerettet hab? Mit denen ich bei Ringo war?«
»Ja, mein Junge.«
Steve grinste jungenhaft und stolz. Er würde seinem Großvater den Weg weisen. Denn er wusste, wo die Leute waren.
Agaldir ließ seinen Enkel in diesem Glauben. Das würde sein jugendliches Selbstbewusstsein stärken.
Bald hatten sie die Stadt verlassen.
Dandoria erwachte zum Leben. Ein buntes Gewimmel unterschiedlicher Rassen. Laut, lebendig, farbenfroh. Eine gesunde Stadt, die einen neuen Herrscher brauchte. War Balger der richtige Mann dafür? Das mochte sein, denn der fette Inquister hatte derart schreckliche Erfahrungen gemacht, dass zu vermuten stand, er habe sich verändert. Vielleicht hatte sein Schicksal ihn geläutert? Balger war einer von Zwanzig. Gestern hatte sich der als grausam verschriene Mann mit großem Mut dem Anarchisten Störmer entgegen gestellt. Eine große Tat, die der Inquister durchaus hätte mit seinem Leben bezahlen können. Das es nicht zum Äußersten gekommen war, hatte Balger zwei Amazonen zu verdanken, welche den Hünen und den Zwerg befreit hatten, wobei sie Störmer und dessen Männer mit Pfeilen töteten.
Steve schlug sich ins Unterholz.
Agaldir folgte ihm mit leichtem Schritt. Obwohl er nach dandorianischen Maßstäben ein alter Mann war, loderte in ihm noch ein Feuer, das stetig brannte und ihm die Spannkraft der Jugend verlieh.
Steve hielt inne und blickte Agaldir an. »Hier sind se. Ich geh erst mal alleine, damit se sich nich erschrecken.«
Der Blinde Magister nickte gütig.
Er hockte sich hin und öffnete das Buschwerk vor sich mit den Händen, so war ihm ein Blick auf das Ufer des Teiches vergönnt.
Zwei Frauen, die er sogleich als jene Amazonen erkannte, welche die Garde mit Pfeilen eingedeckt hatten, der Zwerg und der Hüne, die so leidenschaftlich gekämpft hatten, vier kleinwüchsige Wesen, rund und stämmig, zweifellos Barbs und ein schlanker dunkelhaariger Mann. Steve fuchtelte mit den Armen und sagte etwas. Er wurde freundlich begrüßt und Steve wies in die Richtung, aus der Agaldir alles beobachtete – und belächelte. Er erhob sich und trat auf die kleine Lichtung.
Die Gruppe starrte ihn offenen Mundes an.
»Agaldir?«, knurrte der Hüne.
»Agaldir?«, echote der Zwerg.
Der Blinde Magister beschloss, sich abwartend zu verhalten. Hatte man ihn erwartet? Warum wirkten die Leute so erstaunt?
Er nickte und strich sich den karogemusterten Rock zurecht. »Ja, man nennt mich Agaldir.«
»Und Ihr, Ihr seid der Großvater von Steve?«, fragte eine der Amazonen.
»Das bin ich«, gab der Magister zurück.
»Verdammt, wir haben Euch gestern schon mal gesehen, als wir auf dem Burghof kämpften. Ihr standet mit einem dicken Mann und einem hageren Greis zusammen«, sagte der blonde Hüne.
»Ein wunderbarer Kampf, wie ich bestätigen muss«, sagte Agaldir. »Und ein wunderbarer Kuss, den Ihr der Schönen dort gegeben habt.«
Der Blonde starrte die Amazone an und der Schwarzhaarige trat vor. »Verzeiht unser Erstaunen, Magister. Man hat uns eine Begegnung mit Euch geweissagt und da wir Steve schon eine Weile kennen, ist unser Erstaunen umso größer, nachdem wir erfahren haben, dass Ihr sein Großvater seid.«
Agaldir lächelte wissend. »Es fügt sich …«, sagte er sophistisch.
Der Schwarzhaarige sagte: »Ich hoffe, Ihr hetzt uns nicht die Königswachen auf den Hals?«
Agaldir winkte ab. »Unsinn – was habe ich mit denen zu schaffen? Es gibt andere Gründe, warum ich hier bin.«
Alle sprachen durcheinander und endlich beruhigten sie sich und machten sich mit Agaldir bekannt. Der Blinde Magister zählte die Namen ab und sofort waren sie ihm geläufig. »Bob, Bama, Bluma, Biggert – die Barbs, bei enen alle Namen mit B beginnen, was ich ziemlich verwirrend finde. Darius Darken, Connor von Nordbarken, Lysa, Laryssa und Frethmar Stonebrock.« Agaldir musterte Bluma. »Ich spüre Magie bei Euch, junge Barb.«
Connor meint: »Ich glaube, wir können uns auf eine persönliche Anrede einigen …« Alle nickten.
»Dann sei es bei mir auch so«, sagte Agaldir. »Ich spüre Magie bei dir, junge Barb.«
Bluma starrte den seltsamen Mann an, dessen braunhäutiger Körper über und über mit Motiven und Runen bemalt, nein, tätowiert war. Zudem trug er eine Felljacke, Ringe und Armbänder und einen seltsamen karierten Rock. Fürwahr ein merkwürdiger Alter. Seine Augen starrten milchig trübe ins Nichts und doch schien er sie alle wahrzunehmen. Zweifellos – er sah! Sie würde ihn fragen müssen, wie …
»Mit dem Herzen, der Seele und Magie«, sagte Agaldir.
Bluma schreckte zurück. Liebe Güte, hatte der Alte ihre Gedanken gelesen?
Bob schlug mit der flachen Hand auf den Trinkschlauch. Steve kam ihm zuvor. »Ich habe diese Leute zu Ringo geführt. Etwas sagte mir, das sei wichtig. Bob hat den Schlauch mit Wasser aus dem See gefüllt. Bluma trank es und …«
Agaldir winkte ab. »Ich weiß es, mein Junge.« Er sah einen nach dem anderen an. »Nicht alle von euch kennen Ringo, doch einige. Ihr habt den Lichtwurm kennen gelernt. Und er sprach zu dir, Bluma.«
Bluma nickte. »Ja, er sagte, er sei das Gewissen von Mythenland.«
»Und wenn er sich verwandelt, wird er zu nem Mädchen«, fügte Steve hinzu und sah seinen Großvater scheu an. »Oder hätt ich das nich sagen sollen?«
»Es ist gut so, Steve«, gab Agaldir zurück. »Du hast getan, was wichtig war.«
»Aber wir verstehen das alles nicht. Warum sprach er ausgerechnet zu uns?«, fragte Bluma.
»Ich habe euch erwartet«, sagte Agaldir.
Frethmar schüttelte den Kopf. »Das ist ja richtig unheimlich.«
Agaldir hob besänftigend die Hände. »Euer Abenteuer neigt sich dem Ende entgegen. Nun wird die Zeit kommen, da ihr eure Bestimmung findet.«
Darius sagte: »Fret hat Recht. Wir waren so oft Spielball des Schicksals, dass wir mehr als eine Frage haben.«
»Genau«, ging Bama dazwischen. »Eine Frage, die wir uns oft stellten. Wer spielt mit uns? Wir waren sogar in einer, in einer…«
»Parallelwelt«, sagte Darius. »Im ewigen Eis!«
Agaldir nickte. »Dort musstet ihr sein, meine Freunde.«
Bob sagte: »Ja, wir wollen endlich alles erfahren. Doch zuvor sag uns, wo wir etwas zum Essen und Trinken finden können …«