6. Kapitel
Rondrick erwachte und erkannte im selben Moment, dass er träumte. Es war ein intensiver Traum. Als wäre er durch eine unsichtbare Pforte getreten.
Es war heller Tag.
Seine Umwelt hatte sich verändert. Er versuchte, sich zu orientieren. Hier gab es nichts Geläufiges. Alles wirkte fremdartig.
Graue Nebel waberten über mannshohes Gras. Es roch nach Krume und Nässe. Die Luftfeuchtigkeit war so hoch, dass Tau von den Blättern des Baumes tropfte, unter dem Rondrick saß. Es war windstill und warm.
Er betastete seinen Körper. Seine Kleider waren dieselben, mit denen er eingeschlafen war. Enganliegende schwarze Beinlinge, feste Schuhe und ein blaues Hemd, welches er wegen der Hitze des Herdfeuers bis zum Bauchnabel geöffnet hatte. Er knöpfte es zu und fühlte sich sofort sicherer. Eine Waffe trug er nicht bei sich.
Erstaunt stellte Rondrick fest, dass er den Traum akzeptierte. Er fand die Situation weder beängstigend noch seltsam, obwohl er noch nie so ausgeprägt geträumt hatte.
»Der Traum ist ein Geschenk von Okor«, sagte eine Stimme rechts von ihm. Er sah niemanden.
»Und ein Geschenk von Talus«, fügte eine andere Stimme hinzu, links von ihm und genauso unsichtbar.
»Egg?«, fragte Rondrick. »Jamus? Seid ihr das?«
Die Stimmen schwiegen. Sie hatten hell geklungen, fragil wie Glas.
»Dann eben nicht«, sagte Rondrick trotzig und erhob sich. Sein Blick glitt über eine Landschaft, die ihn nächtens geängstigt hätte. Bodennebel, so weit das Auge reichte, nur wenig Erhebungen, dafür schwarze ölige Pfützen, angefüllt mit Inseln aus Schilf und Gras. Sumpfgras!
»Wo bin ich?«, murmelte er. Erhoffte er eine Antwort? Sie blieb aus. Er reckte sich.
Das mag ja ein ganz nettes Geschenk sein, Talus, doch was soll ich hier?
»Lernen!«, wisperte es, als hätte der Wind ein Glöckchen aus Kristall berührt.
»Wenn du mit mir redest, zeige dich.«
»Schau dich um.«
Er drehte sich um und sein Herz machte einen Sprung. In einiger Entfernung hockte Symbylle. Sie trug ein ärmelloses weißes Kleid. Vor ihr lagen ein Dutzend gelbe Blüten, die sie neu sortierte. Sie blickte für eine Sekunde auf und ihr tiefgründiger Blick berührte Rondrick.
Vorsichtig, um nicht in Pfützen zu versinken, ging er in ihre Richtung. Als er sich ihr so weit angenähert hatte, dass er den Duft der Sonnenblumen wahrzunehmen meinte, löste sich das Bild auf und der König von Dandoria war alleine.
»Was, bei den Göttern, soll ich lernen? Wie man ein kleines Mädchen fängt?«
»Du bist der Ron«, wisperte es direkt neben seinem Ohr.
»Ja, ja, das weiß ich.« Ihm wurde schwindelig. Plötzlich veränderte sich alles. Wurde kleiner und kleiner und er hatte das Gefühl, einen Berg zu besteigen, obwohl er an Ort und Stelle stand.
»Was geschieht?«, fragte er leise. Seine Stimme hallte und war tief. Er blickte an sich hinab und fing an zu keuchen. Seine Kleidung veränderte sich und er wuchs. Aus seinem Gesicht spross ein Bart, seine Haare fielen bis weit über die Schultern. Seine Arme waren mit Leder geschmückt. Sein ärmelloses Wams bestand aus dickem Leinen und stinkendem Leder, ebenso seine Beinumwicklung, die in einen festen Fußschutz mündete. Von seinem Gürtel baumelte Steinschmuck. Mit der linken Hand stützte er sich auf eine Keule.
ICH BIN EIN RIESE!
Diese Erkenntnis ließ ihn schaudern. Ihm fiel sein Name ein.
RONIUS!
Liebe Güte, das also war ein Geschenk? Er durfte sich in seinem Traum wie ein Riese fühlen, wie ein mythisches Wesen, das seit dreihundertfünfzig Jahren über Mythenland wandelte? Und alle Erinnerungen in sich trug, Bilder, wie sie kein Mensch zuvor sah.
Riesen, die um Feuer saßen.
Neugeborene Riesen, die vierundzwanzig Monde im Mutterleib geruht hatten.
Sterbende Riesen, alt wie die Welt.
Riesen auf der Jagd.
Und Riesen im Kampf.
Mit Grauen erinnerte er sich an seinen Kampf gegen den Sumpfriesen Jorgol. Der mit Hörnern bewehrte Riese hatte eine Keule getragen, die mit Stahlnägeln gespickt war.
Warum kämpfte er gegen Jorgol? Warum hatte er gegen Jorgol gekämpft?
Warum kämpfte ein friedliebender Steinriese gegen einen mörderischen Sumpfriesen?
Noch gab ihm der Traum keine Antwort. Er war jetzt und hier und musste sich zur Wehr setzen.
Ronius wollte Antworten, dann erst Taten, doch der Traum tat ihm den Gefallen nicht.
Der Kampf begann und Rondrick fragte sich, warum er so übergangslos in diese Situation geschleudert worden war.
Wie sollte er sich in einem Kampf behaupten, von dem er eine Sekunde zuvor noch nichts gewusst hatte?
Es funktionierte.
So, wie Träume stets funktionieren.
Der Sumpfriese Jorgol zögerte keinen Augenblick und griff Ronius an. Dieser erwehrte sich, indem er mit der Rechten seine Keule schwang und mit der Linken einen jungen Baum aus dem Boden riss. Der Baum wehrte Jorgols Keule ab. Ronius machte einen Ausfallschritt und donnerte Jorgol seine Keule auf den Rücken. Der Sumpfriese brach in die Knie. Ronius knurrte und machte sich daran, den Kampf zu beenden, als Jorgol aufsprang und in Lauerstellung ging.
Ronius hielt den Baum vor sich gestreckt, seine Keule schwang auf und nieder. Sie war aus Wareikenholz gefertigt und hatte einen Kern aus Stein. Sie war nicht gespickt. Ronius zog glatte Keulen vor, da diese sich nirgendwo verhaken konnten. Das hatte ihm Gratos geraten.
Wer war Gratos?
Darüber konnte er nicht nachdenken. Der Traum nahm seinen Weg.
Da Jorgol mit einer gespickten Keule kämpfte, wurde ihm dies zum Verhängnis. Er brüllte, sprang vor und wirbelte einmal um die eigene Achse. Ronius sah das Verderben auf sich zufliegen, er bückte sich und die Keule traf den Baum. Mit einer raschen Bewegung zog Ronius den Baum zu sich, in dem die Keule steckte. Er überlegte nicht lange, sondern warf Baum und Keule weg. Er stampfte auf den entwaffneten Sumpfriesen zu, dessen Augen vor Panik weiß glänzten. Bei den Sumpfern gab es keine Überlebenden. Hier regierte das Gesetz des Stärkeren. Um Leben und Tod!
Erst jetzt nahm Ronius die Zuschauer wahr.
Ich will wissen, was ich hier tue!
Ich brauche Erklärungen!
Die Zuschauer waren stumm gewesen, hatten dem Kampf schweigend beigewohnt. Oder nicht? Schwiegen sie nur deshalb, weil es ein Traum war?
Nun stöhnten sie und schwangen ihre Oberkörper vor und zurück. In ihren Augen glomm Hass auf den Steiner, der es gewagt hatte, ihre Herausforderung anzunehmen.
Welche Herausforderung?
Rondrick wollte wissen und gleichzeitig musste er kämpfen. Warum gönnte der Traum ihm keine Chronologie? Endlich bekam er Antworten.
Erklärungen.
Der Kampf stoppte, das Bild veränderte sich und Jorgol verschwand wie ein Geisterbild.
Sie saßen um ein Feuer und sprachen miteinander. Sie hatten sorgenvolle Gesichter. Unvermittelt war Ronius alles klar und er wunderte sich, nicht vorher gewusst zu haben, warum er kämpfte. Die Aufgabenstellung lag klar und deutlich vor ihm.
Die Sumpfriesen planten einen Überfall auf das Tal der Riesen. Sie würden mordend und brandschatzend über die Steinriesen herfallen. Dabei würde es unzählige Tote geben.
Man hatte versucht, mit den grausamen Sumpfern zu verhandeln. In ihrer maßlosen Arroganz – oder war es der Wein gewesen? – hatten sie den Steinern ein Angebot unterbreitet, das Steinvolk vor eine unmögliche Wahl gestellt. Der Kampf eines Steiners gegen einen Sumpfer - auf Leben und Tod. Ein ungleicher Kampf, da Steiner friedliebend waren und sich im Kampf nicht auskannten. Der Sieger stand von vorneherein fest. Gewann der Sumpfer, würden Weiber und jene, die jung und kraftvoll waren, versklavt.
Würde der Steinriese siegen, veränderte sich Mythenland.
Für fünfhundert Jahre würde Frieden herrschen.
Danach sah man, was geschah.
Sie schlossen den Kontrakt. Kein Riese würde einen Kontrakt jemals brechen, unwichtig, ob er im Rausch getroffen war oder unter anderen Umständen. Ein Kontrakt war heilig!
Fünfhundert Jahre Ruhe und Frieden!
Dafür lohnte es sich jedes Risiko einzugehen.
Die Abgesandten der Sumpfer hatten grölend gelacht, kriegten sich nicht mehr ein. Sie waren – zu Recht – siegessicher.
Fünfhundert Jahre Frieden!
Nicht wenige von ihnen würden den Zeitpunkt noch erleben. Entweder der Zwist zwischen Steinriesen und Sumpfriesen war vergessen, oder der Krieg begann von Neuem.
Ronius erinnerte sich, dass man an den eigenen Feuern überlegt hatte, wo der Haken sei? Es gab keinen. Nicht wenige meinten, den Sumpfern fehle es an Verstand. War dies das Ergebnis ihrer geringen Anzahl? Sie waren stark und mutig, jedoch dumm. Nicht zu ihnen gingen die Künstler von Mythenland, sondern ins Steintal.
Würde der Steiner unterliegen, wäre das Volk der Steinriesen versklavt - für alle Zeiten! Ein idiotischer und arroganter Pakt. Es war wie es war.
Und Ronius wurde ausgewählt, den Frieden zu sichern.