9. Kapitel

 

Es war eine Nacht, die nie zu enden schien.

Im Schein der Laternen zuckten Schatten über die Planken der Lotus.

Der Golem brüllte zornig. Ihm war der Übergang in diese Welt gelungen. Er hatte sich offensichtlich an das Schiff geklammert und war genauso wie Bluma und Darius durch die Dimensionen des Übergangs gezogen worden.

Es hört niemals auf!, dachte Bluma verzweifelt. Sie hatte die Nase voll von Kampf und Wut und Gefahr. Nur ein paar Stunden schlafen, ruhig und behaglich, das wünschte sie sich. Was sie in den letzten Tagen erlebt hatte, forderte nicht nur ihren Verstand bis zum äußersten sondern auch ihren Körper. Alle Muskeln schmerzten, die Knochen fühlten sich an wie störrische verkantete Äste.

Mit bebenden Fingern tastete sie nach dem Messer, das sie aus der Kombüse mitgenommen hatte. Sie rückte ihr Haartuch zurecht und stellte sich in Position.

»Groaaaaar!«

Der Golem war ganz in der Nähe. Nicht mehr lange und er würde sich seine Opfer holen. Ein schneller Blick zu Darius zeigte Bluma, dass auch er am Ende seiner Kraft war. Zwar wirkte er mit dem Schwert in der Hand, den wehenden schwarzen Haaren und dem flammenden Blick wie ein Held aus einer Sage, doch zwischen seinen Augen hatte sich eine tiefe Falte gebildet und seine Augenbrauen verzerrten sich zu einem dunklen Strich.

Was mußte Darius durchmachen?

Sein Leben war ein einziges großes Rätsel geworden.

Würde er jemals die Antworten auf seine Fragen erhalten?

Oder würden sie zuvor sterben?

Bluma sehnte sich nach Hause zurück. Nach Fuure. Sie vermißte den Duft der Blüten, das Wiegen der Palmen, die sanfte Brise, die über den Strand wehte, die Abende am Feuer und die Umarmungen ihrer Eltern. Ja, sogar den unverschämten Bulnaz hätte sie ertragen – und das bedeutete was! Wie es ihrem kleinen Bruder gehen mochte? Und den anderen der Gemeinschaft? Wer hatte das Massaker der Drachen überlebt? Wie sah es aus auf Fuure?

Ihr unstillbares Heimweh schmerzte.

Sie ahnte, dass sie sich verabschiedete. Abschied bedeutete in ihrem Fall Resignation. Und dazu war sie nicht bereit. Nein, nicht solange es eine Chance gab, und sei sie noch so gering!

Als habe der Kosmos ihre positiven Gedanken aufgefangen und sie in Form von Hoffnung zurückgesandt, sah sie ungläubig, dass sich die Schatten von Darius im Schein der Lampen veränderten.

Das bedeutete ...

Zuerst klang es wie das Schmatzen eines Crockers. Dann, als breche ein Ast und noch einer und ein weiterer. Darius knurrte und ging in die Hocke. Er schlug die Handflächen vor sein Gesicht. Die Weste riß am Rücken entzwei, seine Hose platzte auseinander. Aus seiner Stirn schoben sich Ausbuchtungen, die immer größer wurden und schließlich als Hörner zu erkennen waren. Noch hatte er ein schönes Gesicht, doch es wurde breiter, die Nase beulte sich, die Zähne wurden größer, die Augen verschwanden vorübergehend unter dicken Fleisch- und Knochenwülsten, während sich die Hörner ausbildeten. Dort, wo seine Ohren gewesen waren, taten sich Löcher auf, aus denen Dampf quoll. Sein Oberkörper wölbte sich und riß auseinander, Muskeln klatschten aneinander, wickelten sich umeinander, Innereien glänzten und zuckten an neuen Venen, dick wie Schläuche.

So ging es weiter.

Schwarze Haut überzog die Gestalt, welche sich nach wie vor zu verändern schien, jedoch – wie Bluma es inzwischen kannte – die Grundform beibehielt. Um die Gestalt des Dämons huschten blaue Entladungen.

Aus den Tiefen des Dämonenkörpers grollte es, als habe sich unter dem Schiff eine bebende Höhle aufgetan, als wären sie auf dem Rückweg zurück zu den verlorenen Kreaturen. Doch so war es nicht, vielmehr richtete der Dämon sich auf, wobei seine Knochen barsten und sich neu bildeten.

Endlich war es geschehen!

Glühend rote Augen blitzten Bluma entgegen. Aus dem Maul, das mit Hauern bewehrt war, quoll Dampf. Aus Darius Darken war eine Kreatur der Düsternis geworden.

Als spüre der Golem, dass er nun nicht mehr die einzige Gestalt der Unterwelt war, brüllte Murgons Jägers wie ein Ungeheuer der tiefen See, welches jeden Moment aus dem Wasser stößt, um sein Opfer zu greifen.

Bluma rannte weg. Was gleich geschehen würde, überstieg ihre Kräfte. Hierbei hatte sie nichts zu tun. Darius – oder besser, der Dämon – würde gegen den Golem kämpfen. Und er würde, daran zweifelte Bluma nicht, den Golem besiegen!

Sie kauerte sich neben eine Taurolle und machte sich so klein wie möglich. Vergeblich suchte sie nach Angst. Im Gegenteil erstaunte sie ihr Vertrauen in die schwarze Gestalt, der sie nichts Gruseliges abgewinnen konnte. Diese Gestalt hatte sie aus dem Kerker gerettet. Sie mochte grauenvoll aussehen und war dennoch Darius Darken, der gute Menschenmann.

Der Dämon blickte zu ihr und schien beruhigt, dass sie sich versteckt hielt. Nun konnte er ans Werk gehen. Er trommelte auf seine Brust und brüllte so laut, dass Bluma sich die Ohren zuhalten musste. Der Golem antwortete mit ähnlichen Lauten.

Er war noch nicht bei ihnen, doch es konnte nicht mehr lange dauern.

Der Dämon bewegte sich nicht von der Stelle, trotzdem wirkte es, als schwebe er einige Handbreit über den Planken. Seine Aura war ein eiskaltes Blau. Sein Geruch wehte über das Schiff, eine Mischung aus Schwefel und modriger Dunkelheit, ähnlich den Ausdünstungen, die Bluma von den Grubentrollen kannte.

Nun kroch doch Furcht in sie.

Sie konnte nichts dagegen tun. Sie hatte eine geruhsame Kindheit erlebt und eine erfüllte Jugend. Bald hätte sie sich einen guten Barb gesucht, um mit ihm eine Familie zu gründen. Sie war noch nie auf einem Schiff gewesen, das Meer war für sie fremder Raum. Bis zum Drachenüberfall waren das schlimmste, was ihr je widerfuhr, Alpträume gewesen. Und die wurden tagsüber vergessen, wenn die Sonne schien, wenn ...

RUMMS!

Holz splitterte, Bohlen flogen durch die Gegend. Wie ein böser Geist brach der Golem durch die Deckplanken, die zur Seite spritzten, als seien sie explodiert. Eine schemenhafte Bewegung und die Kreatur zog sich geschmeidig und kraftvoll nach oben. Die doppelreihigen Zähne eines Margolous blitzten im Licht des Sichelmondes.

Bluma schloß die Augen.

Sie wollte nicht sehen, was nun geschah.

Sie hatte genug von Gewalt.

Sie kroch in sich zusammen und verschmolz mit der Taurolle. Am liebsten hätte sie ihre Ohren vor den schrecklichen Geräuschen verschlossen, die nun begannen.

Zwei Giganten der Unterwelt rangen miteinander. Stinkende Feuerbälle krachten in Körper. Sie wollte nicht wissen, wer jaulte, stöhnte, knurrte und brüllte. Sie wollte das alles nicht. Sie wollte nur weg hier.

Nach Hause!

Sie stöhnte und stemmte sich hoch. Bei Bross, dem Gott der Winde und Broom, dem Gott des Lebens, sie war es Darius schuldig. Sie konnte, sie durfte die Augen nicht vor der Realität verschließen. Das Leben geschah jetzt und hier!

Sie zwang sich hinzuschauen.

Was sie sah, ließ ihren Herzschlag aussetzen. Zwei Körper, die ineinander verschlungen waren wie wahnsinnig gewordene Schlangen. Fleisch und Muskeln, die miteinander rangen, umgeben von einer grauen dampfenden Aura. Die Kreaturen stürzten gegen die Schiffsaufbauten, welche auseinander brachen wie Behausungen aus Stroh.

Laute, die nicht mehr voneinander zu trennen waren, als verschmelze das Böse miteinander und bilde ein neues Geschöpf. Für zwei Atemzüge lösten sich die Dämonen voneinander, umkreisten sich und stürzten erneut aufeinander.

Bluma hatte befürchtet, der Golem sei stark, dass er derart mächtig war, erstaunte und schockierte sie. Sie hatte Darius in seiner dämonischen Gestalt für unbesiegbar gehalten. Hatte sie sich getäuscht? Wie war es dem Golem gelungen, die Feuerblitze aus Darius‘ Augen abzuwehren?

Bluma kicherte, als ihr klar wurde, dass sie den Dämon mit seinem menschlichen Namen benannte. Das Kichern setzte sich über ihren ganzen Körper fort. Ihre Nerven revoltierten. Genug war genug! Tränen rannen aus ihren Augen, während sich ihre Anspannung in einem hellen Jammern Luft verschaffte.

Darius brüllte und hob den Golem hoch.

Die grausige Gestalt des Jägers zuckte in den Klauen des schwarzen Dämons. Mit Wucht krachte der Golem gegen die Reling, deren Verstrebungen brachen wie Stroh.

Darius setzte nach.

Schoss Feuerstrahlen aus seinen Augen.

Der Golem dampfte, glühte, schrie grell und rollte sich aus der Gefahrenzone. Schwere Schritte stampften über das Deck. Die Lotus bebte. Lediglich die wenigen intakten Segel waren gleichmäßig gebläht. Eine milde Brise hielt das Schiff auf Kurs.

Blitzschnell sprang der Golem aus Darius‘ Reichweite.

Der schwarze Dämon revanchierte sich, indem er so schnell die Positionen wechselte, dass Bluma dies kaum mitbekam. Das hatte sie schon einmal erlebt, als sie geflüchtet waren und sich den Wachsoldaten stellen mussten. Auch da hatte Darius die Positionen auf magische Weise gewechselt.

Der Golem war verwirrt.

Seine vielen Augen schnellten hierhin und dorthin.

Seine unzähligen Ohren zuckten.

Das zum Teil frei liegende Rückgrat schimmerte feucht. Seine Arme fuchtelten herum, ohne Darius‘ Dämonengestalt zu fassen.

Der Golem kreischte wie ein Todesbote. Aus dem Stand sprang er hoch, überschlug sich, wirbelte dabei herum und kam auf seine Füße. Seine mit Stacheln versehenen Beinen zuckten. Der schwarze Dämon feuerte erneut, diesmal verfehlte er den Golem.

Bluma stieß es sauer auf. Sie spuckte aus. Sie war kurz vor einer Panik. Es war offensichtlich, dass Darius kein leichtes Spiel mit diesem Monster hatte. Der Ausgang des Kampfes war und blieb ungewiß.

»Mach ihn fertig!«, kreischte Bluma verzweifelt. Wenn sie sterben mußte, dann nicht versteckt hinter einer Taurolle. Sie sprang auf und stellte sich breitbeinig hinter Darius. »Mach ihn fertig, Darius! Du bist stärker! Du bist mächtiger!«

Der Golem hatte bisher nicht auf Bluma geachtet, nun zuckte sein Schädel herum und aus seinem Maul drang ein zischendes Grunzen, als lache er. Blitzschnell zuckten zwei Klauen auf Bluma zu. Bei den Göttern, er konnte seine Arme verlängern! Sie ließ sich fallen und die Klauen glitten über sie hinweg.

Im selben Moment griff der schwarze Dämon zu. Er packte zwei Arme des Golem, verknotete sie und riss sie empor. Der Golem stolperte und grölte, als der Dämon die verlängerten Arme nicht losließ, sondern zu schwingen begann. Seine schwarze Haut pumpte, seine Muskeln sangen, doch es gelang ihm, den Golem in die Höhe zu schleudern. Mit aller Kraft schwang er den Golem an dessen Armen über seinen Kopf, herum und immer wieder herum, eine gewaltige Masse an zwei Armen, die wie Taue wirkten. Mit einem ächzenden Schrei ließ der Dämon los.

Bluma zog sich an der Reling hoch und traute ihren Augen nicht.

Der Golem flog weit weg, immer weiter, bis er aufs Wasser klatschte und versank.

»Wir müssen weg! Falls er schwimmen kann, wird er uns auf den Fersen bleiben! Darius! DARIUS!«, schrie Bluma, denn zu ihrem Schrecken sah sie, dass der Dämon sich anschickte, seinem Gegner ins Wasser zu folgen.

»NEIN!«

Der Dämon wirbelte herum. Riesig, schwarz und dampfend blickte er zu der kleinen Barb hinab.

»Nein, Darius! Wir sind auf einem Schiff. Niemand schwimmt so schnell, wie ein Schiff fährt!«

Der Dämon brummte. Seine glühenden Augen ließen die Wasseroberfläche nicht aus den Augen. Ein Hin und her. Suchend! Sichernd! Bluma, das Meer und wieder Bluma.

»Ich weiß, dass du mich verstehst, hörst du? Du wirst dich auf der Stelle um mich kümmern. Du wirst auf mich aufpassen, ist das klar?«

Der Dämon zögerte. Er grunzte und Bluma spürte, dass er jeden Augenblick über Bord springen würde, um seinem Vernichtungstrieb zu folgen.

Sie hasste sich für das, was sie nun sagte. »Oder willst du dem Dämon erneut ein Mädchen opfern? Reicht dir deine Tochter nicht?«

Der Dämon schnaufte. Er fuhr seine Hauer aus und für einen Moment dachte Bluma, er würde sie am Hals hochheben und ihre Kehle zerdrücken. Liebe Güte, sie hatte es übertrieben. Sie hatte ihren Mund zu weit aufgerissen. Es wäre nur gerecht, wenn ...

Der Dämon nickte, zumindest machte er eine Andeutung.

»Was muss ich tun, um das Schiff schneller zu machen?«, fragte Bluma mit zitternder Stimme, während sie befürchtete, es sei ohnehin unmöglich ein so großes Schiff ohne Mannschaft zu segeln.

Der Dämon blickte zu den Masten hoch, starrte zum Steuerrad, grollte und ließ sie einfach stehen.

Bluma sah ihm nach, wie er mit gebeugtem Rücken davon stampfte.

 

 

König Rondrick resignierte. Zum fünften Mal hatte er den Riesen gefragt, was dieser mit Zuhause gemeint hatte. Der Riese schwieg. Die Kreatur hatte ihn Ron genannt, als gehöre sie zur königlichen Familie. Rondrick erinnerte sich nicht daran, wann ihn zuletzt jemand so genannt hatte. Es musste in seiner Kindheit gewesen sein.

Der rothaarige Barde, Jamus Lindur, hockte auf der Schulter des Riesen und sein Gesicht strahlte fröhlich. Machte er sich keine Sorgen um seine auf dem Marktplatz zurückgelassenen Habseligkeiten?

Sogar der introvertierte Egg T’huton schien ein ausgesprochenes Vergnügen an der Situation zu haben. Einmal, als der Barde abzurutschen drohte und sich festklammerte, schob der Riese ihn mit der Fingerspitze in Sicherheit und Egg lachte lauthals. »Ich freue mich, dass er gut auf dich achtet, Rotschopf!«

»Warum freut dich das?«

»Dann achtet er auch gut auf mich!«

Rondrick selbst fühlte sich behaglich wie ein Kind in der Armbeuge des Riesen.

Sie hatten den Gipfel erstaunlich gut überstanden. Der Riese war gerannt und sie waren nicht ohnmächtig geworden, obwohl sie wie Fische auf dem Trockenen nach Luft schnappten und es jämmerlich kalt war.

Nun blickten sie in ein Tal hinunter, wie es sich die menschliche Phantasie kaum vorstellen konnte. Warum wusste er nichts von dieser Stätte? Zwischen dem Tal und der Ebene nach Dandoria lag eine Bergkette, die der Riese zwar leichtfüßig erklettert hatte, für die ein Mensch hingegen Tage benötigt hätte, falls er es überlebte. Die Bergkette umschloss das Tal wie eine überdimensionale Mauer.

Dadurch, dass alles größer war, spiegelte die menschliche Wahrnehmung Rondrick manchen Streich. Er meinte, einfache Möbel, Utensilien wie Töpfe und Stampfer, Werkzeuge und Keulen, anfassen zu können, so sehr täuschten ihn seine Eindrücke, welche die reale Entfernung schrumpfen ließ.

Der Riese stieg kolossale Stufen hinab, die für einen menschlichen Kletterer nicht als solche erkennbar gewesen wären.

Riesenkinder stürzten auf ihn zu. Grollend und lachend drückte er sie an sich. Ihre Stimmen klangen wie Donnerhall, ihre Bewegungen wirkten langsam. Mit ihren Armen und Körpern verdrängten sie die Luft und Wind rauschte über ihre Körper. Rondrick fühlte sich hochgenommen wie eine Maus und auf den Boden abgesetzt.

Endlich hatte Rondrick Zeit, sein heftig klopfendes Herz zu beruhigen und sich umzuschauen. Es kam ihm vor, als sei er geschrumpft. Alles um ihn herum war groß, nein viel größer! Er zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern und hielt Ausschau nach Höhlen oder etwas, wo er sich verstecken konnte, um in der allgemeinen Wiedersehensfreude der Riesen nicht zertrampelt zu werden.

Hier saß ein Riese auf einem Fels und hielt seine Hände beschwörend über farbige Steine, von denen Rondrick einige erkannte. Kohle, Granit, Basalt. Er murmelte vor sich hin und sah sehr glücklich aus. Seine Haare waren zu schulterlangen Zöpfen geflochten, in denen Hölzer steckten.

Etwas entfernt lagen Werkzeuge nebeneinander. Hammer, Meißel, Körbe und daneben zu Kies geschlagener Stein. Zwei Feuer loderten, obwohl es im Tal sowieso warm und angenehm war.

»Mein König, habt Ihr eine Ahnung, warum uns der Riese hergebracht hat?«, fragte der Barde ehrerbietig und senkte den Kopf.

Rondrick grunzte. »Lass den Unsinn, Barde. Wir haben keine Zeit fürs Protokoll.«

Der Barde sah auf und grinste. »Ich danke Euch, mein König.«

Egg neben ihm brummelte und sein roter Bart bebte.

Rondrick erwiderte das Grinsen des Barden und sagte: »Solange wir hier sind, nenne mich bei meinem Namen.«

Egg legte den Kopf schief.

»Du auch, Bibliothekmeister.«

Egg T’huton verneigte sich. »Ich danke Euch für Euer Vertrauen, mein ...«

»Rondrick!«

»Mein Rondrick!«

Jamus kicherte. Der König seufzte. »Erkläre es ihm, Barde.«

»Alles klar, Rondrick.«

Der Bibliotheksmeister fuhr zusammen und wirkte für einen Augenblick, als wolle er den Barden für seine ungehörige Ausdrucksweise bestrafen. Rondrick schüttelte langsam den Kopf und ließ die beiden stehen. Es galt Antworten zu erhalten. Von einem, dessen Namen er nicht kannte und der ihn Ron genannt hatte.

Ihr Entführer ging in die Hocke, streckte den Arm aus und zog Rondrick sanft zu sich. »Ich lade dich und deine Leute an mein Herdfeuer ein.«

Herdfeuer?

Rondrick schossen kalte Schauer über den Rücken. Würde sich seine dumpfe Voraussage nun bewahrheiten? Würden er und seine Begleiter gebraten und verspeist werden?

»Wir nennen unser Heim Herdfeuer«, sagte der Riese.

Aha! Rondrick seufzte. »Ich danke dir, Riese. Schöner wäre es, wenn ich deinen Namen wüsste.«

Der Riese richtete sich auf und behielt auch die Hohe Sprache bei, als er sich an seine Artgenossen wandte. »Hört, hört, meine Lieben! Dieser Winzling maßte sich an, mich zu fangen. Er ließ mich mit einem Zauberspruch betäuben und schmiedete mich in Ketten.«

Ungefähr drei Dutzend Riesen und ihre Kinder wandten sich zu ihm, lauschten und lachten, was wie ein Donnern klang.

»Selbstverständlich befreite ich mich und gab diesem Menschen, dem König von Dandoria, das, wovon wir viel haben ...«

»Ja, ja, ja ...!« skandierten die anderen. »Das, wovon wir viel haben!«

»Nur eines gab ich ihm nicht.«

»DEINEN NAMEN!« riefen sie. Kinder lachten und hüpften von einem Bein aufs andere. Riesenfrauen kicherten und ihre gigantischen Brüste bebten. Männer mit sehr unterschiedlicher Anmutung schlugen sich auf die Oberschenkel.

»Nun ist er da. Ich habe Ron mitgebracht!«

»ROOOOOOON!«, murmelten die Riesen wie aus einem Mund.

Der König zuckte zusammen. Egg und Jamus waren zu ihm getreten.

»Irgendwie komme ich mir ziemlich winzig vor«, sagte der Barde.

»ROOOOOON!«

Als die Riesen schwiegen, stemmte Rondrick die Hände in die Hüften und schrie: »Was soll das? Warum ruft ihr meinen Namen? Und wovon habt ihr viel?«

Der Riese hockte sich wieder hin, wobei er Staub aufwirbelte. Unter den Schritten seiner Artgenossen, die sich näherten, erbebte das Tal. »Du wirst Antworten erhalten, Ron. Doch nun lasst uns an mein Herdfeuer gehen. Wollt ihr laufen oder soll ich euch tragen?«

»Solange ich Beine und Füße habe, kann ich laufen«, sagte Rondrick.

Jamus reckte den Arm. »Ich würde lieber ...«

Egg stieß ihn in die Seite und knurrte: »Wir laufen!«

»Wie ihr meint«, sagte der Riese. »Folgt mir. Ihr braucht keine Angst zu haben. Niemand wird auf euch treten. Ebenso wenig, wie ihr eure Haustiere willentlich verletzt. Wir mögen in euren Augen grobschlächtig wirken, doch wir sind es nicht.« Er drehte sich um und schritt donnernd davon.

Rondrick folgte ihm im mit schnellen Schritten. Was für den Riesen nur eine kleine Wegstrecke war, brachte ihn zur Verzweiflung. Sie durchquerten einen Gutteil des Tales. Immer wieder mussten sie Steinquadern ausweichen. Rondricks Herz klopfte, er atmete schwer und schwitzte.

»Das nächste mal lasse ich mich tragen«, maulte Jamus.

»Hast du keinen Stolz?«, raunzte Egg.

»Sag das mal meinen Füßen«, gab der Barde zurück und hielt sich die Seite.

Vor einer Höhle blieben sie stehen. Der Riese bückte sich und trat ein. Rondrick folgte ihm.

Erstaunt hielt er inne.

Was sich in einer gigantischen Halle vor ihm erstreckte, war nicht wesentlich anders, als eine einfache menschliche Behausung. Sah man davon ab, dass die Proportionen abstrus wirkten und sich der menschliche Verstand nur langsam daran gewöhnte, war alles ... herkömmlich!

An einer Wand erstreckte sich eine Arbeitsbank, auf der Töpfe, Gläser und ein Hauklotz standen. In der Mitte gab es eine erkaltete Feuerstelle, auf der ein Kessel ruhte. Wassertröge mit Schöpfkellen, Werkzeuge und an der anderen Wand Waffen. Eckige Keulen, runde, mit Steinen gespickte und welche mit Metallspitzen. Außerdem zwei Äxte, die kein menschlicher Schmied hätte bewegen können. Im Hintergrund ein Tisch, hoch wie ein Haus und daneben zwei Stühle, aus Stein gehauen, mit Rücken- und Seitenlehnen. Besonders imposant war die Wanddekoration. Mehrere Teppiche mit bunten Ornamenten und schön ausgearbeiteten Kampfbildern schenkte der Höhle Behaglichkeit. Von der Decke baumelten Käfige. Aus einem steckten zwei Schweine ihre runden Nasen, der andere war leer. Der Boden war übersät mit Holz, Ästen und großen Flußkieseln.

Alles wurde durch mannsgroße Fackeln beleuchtet, die entsprechende Hitze aussandten.

Der Riese blickte zu Rondrick und sein Gesicht zog sich in die Breite. »Hier wohne ich.« Seine Stimme echote durch die Höhle und Rondrick winkte ab.

»Leiser reden, bitte. Meine Ohren ...«

Der Riese nickte verständnisvoll. »Das ist mein Herdfeuer. Eigentlich nennt es sich Hetlirhame, doch diesen Begriff benutzen wir nicht, denn er würde preisgeben, dass ich in einer Höhle lebe. Manche leben an Steilküsten, andere an Hügel geschmiegt, wieder andere in Wohnungen, die in Felswände gehauen sind. Für jede haben wir einen eigenen Begriff. Also bleiben wir bei Herdfeuer.«

Rondrick zog sich auf einen Stein und reckte seine Knochen. »Ich habe viele Fragen an dich.«

Anstatt einer Antwort drehte der Riese ihm den Rücken zu und öffnete einen Käfig. Er nahm ein quiekendes Schwein heraus, drückte dem Tier mit einer Hand die Kehle zusammen und wirbelte es einmal über den Kopf. Das Genick des Schweins brach wie ein Ast. Er warf das Schwein in den Kessel.

Die zerrissenen Ketten an seinen Handgelenken klingelten. Er nahm seine Arme hoch und musterte die Glieder. Dann grinste er und tat, als sei nichts geschehen.

Das zweite Schwein grunzte und schrie markerschütternd. Mit fast menschlichen Augen und klappernden Wimpern starrte es auf seinen toten Artgenossen. Der Riese legte einen Finger auf den Käfig und sagte in der Hohen Sprache: »Sei still!«

Das Schwein quiekte immer lauter. Er griff hinein und zwei Atemzüge später war das Tier tot. »Macht nichts. Wir sind zu viert. Vier haben mehr Hunger als einer«, sagte er und auch dieses Schwein landete im Kessel.

Mit großen Augen hatte Rondrick der Schlachtung zugeschaut. Endlich schloss er seinen Mund.

Jamus murmelte: »Ich glaube, ab sofort ernähre ich mich nur noch von Obst und Gemüse.«

Egg sagte nichts. Seine Miene hingegen sprach Bände.

Der Riese entfachte ein Feuer und schüttete Wasser in den Kessel. Während das Wasser erhitzte, setzte er sich auf den Stuhl und legte seine Arme auf die Lehnen. Wie ein übermächtiger Gott starrte er auf seine winzigen Gäste herunter.

Rondrick hatte sich wieder gefangen und sagte: »Meine erste Frage ist: Warum hast du mich nicht getötet. Du hättest Rache üben können. Schließlich habe ich dich gefangen!«

Der Riese zog seine Lippen breit. »Nein, du hast mich nicht gefangen. Nächste Frage ...«

Rondrick schluckte hart. »Wie heißt du?«

»Nächste Frage ...«

Rondrick biss sich auf sie Unterlippe. »Warum nennst du mich Ron?«

»Weil das dein Name ist!«

»Und die anderen im Tal? Woher kennen die mich?«

Der Riese kratzte sich den Kopf. »Von Symbylle.«

»Aha.« Rondrick war sprachlos.

Jamus fügte hinzu: »Dann ist ja alles geklärt.«

»Verdammt – nichts ist geklärt!«, fuhr Rondrick auf. »Wer ist Symbylle?«

»Unsere Freundin.«

Egg T’huton meldete sich zu Wort. »Was mein König meint, ist folgendes, freundlicher Riese: Wir sind Städter. Wir sind es gewohnt, auf alle Fragen Antworten zu erhalten. Dinge, die wir nicht begreifen, lesen wir nach oder wir denken so lange, bis uns eine Antwort einfällt. Du musst wissen, meine besten Freunde sind Bücher. Das geschriebene Wort, falls du verstehst? Diese Bücher fehlen uns. Wir können nichts nachschlagen, nicht suchen. Wir sind darauf angewiesen, dass du uns alles erklärst. Eine Erklärung ist nicht mit wenigen Worten abgetan. Immer verbirgt sich hinter einer Erklärung eine andere Darlegung. Wie, was, wo, warum, weshalb? Nur dann, wenn wir alles wissen, haben wir eine Information, mit der wir zufrieden sind.«

»Ihr seid nicht zufrieden, seid es nie«, sagte der Riese.

Egg runzelte seine Brauen. Jamus grinste. »Gar nicht dumm, was unser gigantischer Freund sagt.« Eggs Kopf schoss herum. Er öffnete den Mund zu einer Entgegnung, doch der Riese kam ihm zuvor.

»Was nützen euch Erklärungen? Sie verwirren und führen zum selben Ergebnis. Symbylle ist unsere Freundin.«

Im Kessel blubberte das Wasser und ein erbärmlicher Gestank verbreitete sich in der Höhle. Rondrick drehte sich der Magen um.

»Mmmh! Wunderbar, nicht wahr?«, fragte der Riese und tätschelte seinen Bauch. »Ich werde euch den Gefallen tun. Bis unser Mahl gar ist, dauert es eine Weile. Bis dahin haben wir ausreichend Zeit, um Symbylle einen Besuch abzustatten.«

»Wie weit ist es?«, fragte Jamus.

»Soll ich dich tragen?«, fragte der Riese.

»Nein!«, donnerte Rondrick. »Wir laufen.«

Der Riese zuckte die Achseln, wobei die an seinem Wams angebrachten Artefakte klackerten. »Wie ihr wollt.«

 

 

 

 

 

Im Schatten der Drachen
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