11. Kapitel
Magus Claudel blickte auf seinen Patienten hinab.
Inquister Loouis Balger wand sich in Schmerzen. Die Prellungen quälten ihn, den sie schmerzten schlimmer als Brüche. Der aufgedunsene Körper des Mannes war mit blauen Flecken übersät, von denen manche mehr als handtellergroß waren. Seine Fettmasse hatte ihm das Leben gerettet. Ein hagerer Mann wäre unter den Schlägen gestorben oder hätte schwere innere Verletzungen davon getragen.
»Ich kann Euch davon erlösen, Inquister. Was ist es Euch wert?«
»Scheiß drauf«, spuckte Balger aus und blinzelte Schweiß aus seinen Augen. »Ich lasse mich nicht erpressen.«
»Die Schmerzen werden unerträglich. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob Ihr innere Verletzungen davon getragen habt.«
»Dann tut endlich Eure Arbeit, Claudel und heilt mich.«
Claudel wandte sich vom Bett und öffnete eines der Fenster. »Ihr stinkt« sagte der kleine Magus. »Ihr stinkt nach Schweiß, Blut und Tränen. Ihr stinkt nach Wahnsinn. Nur ich bin in der Lage, den Skarabäus, der Euch so sehr quält, zu entfernen…«
»Ich denke, es gibt keinen Käfer? Das habt Ihr gestern gesagt!«
»Ich könnte die Stimmen in Eurem Schädel verschwinden lassen. Doch alles hat seinen Preis.«
Balger zischte und spuckte. Er fluchte in sich hinein und eine weitere Schmerzwelle drückte ihn in sein schweißnasses Kissen.
Noch immer mit dem Rücken zu Balger sagte Claudel mit einer Stimme, die klang, als habe man sie dreifach geschmiedet: »In Dandoria beginnt die Anarchie. Seitdem bekannt wurde, dass General Syndar tot ist, haben sich neue Hierarchien gebildet. Man sagt, ein Halbling namens Störmer, ein Protegé des verblichenen Generals, habe das Regiment übernommen. Seitdem ist niemand in der Stadt sicher vor Gardistenübergriffen. Störmer ist ein Heißblut. Er kennt nur seine eigenen Vorteile.«
»Da ist er nicht der Einzige«, schnappte Balger.
»Wenn Ihr noch lange wartet, wird Euch Dandoria entgleiten und jede Möglichkeit, den Thron zu besteigen, wird in einem Militärputsch enden. Hier geht es nicht um Tage, sondern um Stunden, Inquister.«
»Wenn Euch so viel daran gelegen ist, dass ich den Thron besteige, frage ich mich, warum Ihr mich nicht heilt?«, drang es vom Bett her.
»Ihr solltet mir nicht den Naiven vorspielen, Balger. Ihr wisst, was ich fordere.«
Die Männer schwiegen. Balger schnaufte. Claudel drehte sich ganz langsam um. »Ich möchte an Eurer Seite sein. Ich werde Euch beraten. Ich habe in der Stadt einen guten Ruf. Kaum jemand weiß von meinen Experimenten mit dem Übergang nach Unterwelt und jene, die es wissen, befürworten es. Man hält mich für einen alternden Magier, der weise und richtige Entscheidungen trifft.«
»Aber mich hasst man«, sagte Balger nicht zum ersten Mal.
»Wie oft sollen wir noch darüber sprechen?«, sagte Claudel barsch. »Zeigt dem Volk, dass Ihr geläutert seid. Ruft Spiele aus, eine ganze Woche klang Spaß und Vergnügen. Senkt für die nächste Ernte die Abgaben. Verteilt Geschenke an die Gilden. Streut dem Volk Sand in die Augen, bis sie euch blind folgen und lieben. Dondrick wird schnell vergessen sein. Denn der König ist tot – es lebe der König!«
»Und was ist, wenn Dondrick wider Erwarten zurückkehrt?«
»Dann töten wir ihn!« Claudel schlug mit erstaunlicher Kraft auf eine Kommode. »Mir reicht es mit Euren Gewissensbissen. Ihr seid nicht mehr der Balger, den ich einst kannte. Jener Balger hätte keine Sekunde gezögert …«
»Ist ja schon gut«, seufzte Balger und man sah ihm die Schmerzen an, die ihm das Winken abrangen. »Es soll geschehen, wie Ihr es wünscht. Mir ist alles egal, aber nehmt den Schmerz von mir.«
Claudel lächelte sanft, ein freundlicher alter Magier, der seinen Pflichten als Heiler nachkommt. »Euer Wunsch sei mir Befehl – mein König!«
Das Schiff schaukelte auf den Wellen.
Kapitän Rick Orloff, den man auch Fat Rick nannte, jedoch nur hinter vorgehaltener Hand, studierte die Schiffpapiere. Er war unterwegs nach Port Metui, um seine Lieferung Sklaven abzuliefern. Die Frachträume waren gut gefüllt und es hatte kaum Ausfälle gegeben, also kaum Tote. Er würde sich eine goldene Nase holen.
Fat Rick fuhr herum, als es an der Tür klopfte. Sein Erster Steuermann trat ein, ein haariger Bursche, dessen schmutziges Hemd bis zur Brust geöffnet war.
»Soll ich sie rausholen?«, fragte er mit knarrender Stimme.
Rick Orloff lächelte. Wenn er das tat, sah er aus wie ein freundlicher Großvater, der seine Kinder auf den Knien schaukelte. »Tanzen lassen?«
»Aye, Käpt’n!«
»Tun sie das, Erster!«
Der Erste drehte sich um. Tanzen lassen gehörte zum täglichen Ritual. Die in Dalven, den Randgebieten von Dandoria und im Norden gefangenen Sklaven wurde für ein paar Minuten die Möglichkeit gegeben, sich an Deck zu bewegen. Ein Trommler schlug den Takt und die Gefangenen bewegten sich im Takt. Das war gut für den Blutkreislauf und hielt gesund.
Wenige Minuten später dröhnte ein regelmäßiges Pochen über das Schiff und das Oberdeck pulsierte von rhythmischen Fußbewegungen.
Heute wollte Fat Orloff sich das Theater anschauen. Er stopfte seine Pfeife, zündete den Tabak an und trat aus seiner Kajüte. Ha, er liebte es, wenn diese unterschiedlichen Wesen, Menschen, Halblinge, einige Trolle und Loreoner im Sonnenschein schwitzten. Er war einer der wenigen Kapitäne, die stets für eine gute Mischung unterschiedlicher Rassen sorgte. Das war manchen Kapitänen zu anstrengend, denn es erforderte, das Sklavenschiff an vielen unterschiedlichen Orten ankern zu lassen.
Die Mischung füllte den Geldbeutel.
Es war ein hartes Handwerk und Fat Orloff war stolz darauf. Er wusste, dass Sklavenhandel verpönt war und achtete stets darauf, keinem dandorianischen Schoner zu begegnen. Es würde nicht mehr lange dauern, und die Gefahr des Sklavenhandels wäre zu groß. Nicht wenige tapfere Händler waren am Galgen geendet. Also hieß es, so schnell es ging, Richtung Süden zu fahren.
Dort waren die Gesetze stabiler, denn man benötigte Sklaven auf den Feldern, in den Gruben und im Haushalt.
Einer, es handelte sich um einen schmal gewachsenen Menschen, brach zusammen. Er rappelte sich jedoch sofort wieder auf, denn die Peitsche des Ersten knallte auf seinen Rücken. Er schimpfte und spuckte aus.
Fat Orloff traute seinen Augen nicht.
So etwas konnte er nicht durchgehen lassen.
Niemand, bei den Göttern, niemand spuckte auf sein Deck. Er streckte die Hand aus und der Trommler hielt inne. Mit dem Zeigefinger winkte er den Mann zu sich. Dieser senkte den Kopf und verließ mit schweren Schritten die Gruppe. Er wirkte ausgelaugt, übermüdet und halb verhungert. Einer, der die Überfahrt vermutlich sowieso nicht überleben würde.
Genau der Richtige, um ein Exempel zu statuieren.
Fat Orloff lächelte sein Großvaterlächeln und sagte: »Verstehst du die Hohe Sprache?«
»Ja«, gab der Mann bedrückt zurück.
»Du hast auf mein Deck gespuckt!«
»Es tut mir Leid, Kapitän.«
»Warum hast du das getan?«
Der Ärmste zog die Schultern hoch, eine bemitleidenswerte Geste.
»Das, Sklave, lasse ich nicht zu!« Fat Orloff erhob seine Stimme und sein Blick blitzte über die Sklaven, welche verängstigt zuschauten. »Merkt euch das – niemand benimmt sich an Bord dieses Schiffes schlecht! Was sollen eure zukünftigen Herren über mich denken, wenn ich spuckende Sklaven abliefere, die kein Benehmen haben?«
Der Kapitän machte eine mild wirkende Geste und der Erste ergriff den Sklaven, zwang ihn in die Knie und ehe der sich bewusst war, was geschah, klatschte die Peitsche auf seinen Rücken. Der Mann schrie auf und schon war der nächste Schlag da.
Fat Orloff wusste, dass man so und so peitschen konnte. Es war eine Sache der Technik. Entweder fügte man nur Schmerzen zu oder man zerriss dem Opfer die Haut. Der Erste hatte sich für letzteres entschieden.
Dies war der Moment, den Fat Orloff liebte.
Die Meute bäumte sich auf. Sie knurrte, fletschte die Zähne, einige weinten. Sie waren voller Hass und hätten sich am liebsten auf ihre Peiniger gestürzt. Er sah, wie ihre Muskeln zuckten, wie sie die Hände zu Fäusten ballten, er roch die Mischung aus Furcht und unbändigem Zorn. Sie glichen einer Herde wilder Tiere, die nicht mehr lange an sich halten würden, um das schreckliche Geschehen zu beenden, dennoch – und das machte es so spannend – würden sie es niemals tun. Sie mussten mit ihrer Wut klarkommen, bis zum bitteren Ende, sonst wäre sie selbst dran.
Diesen Zwiespalt auch Angst und Courage, den inneren Kampf und die Panik vor den Konsequenzen, vermittelte Fat Orloff ein Glücksgefühl der Macht. Er wusste, dass, sollten Sklaven es wirklich wollen, sie jedes Sklavenschiff einnehmen konnten. Zwar würden einige den Tod finden, doch manche würden überleben. Der Frachtraum war voller Leben, dass auszubrechen versuchte, trotzdem konnten Sklavenjäger sich relativ sicher fühlen.
War es die Peitsche?
Resignierten die Sklaven?
Oder hatten sie Hoffnung?
Fat Orloff fand, dass es ein Gemisch aus allen drei Dingen war, nein, nicht ganz – vermutlich war die Hoffnung die härteste Fessel.
Dennoch – und das war die spannende Komponente – konnte man sich nie vollkommen sicher sein. Genauso gut konnte die Meute sich wehren, ihren Mitgefangenen schützen und es würde ein Blutbad geben.
Viermal hatte die Peitsche getroffen und selbst wenn der Sklave es gewollt hätte, er konnte sich nicht mehr aufrichten. Stattdessen lag er auf den Knien, den Kopf bis zu den Deckplanken gebeugt.
Fat Orloff machte eine Handbewegung, die bedeutete, der Erste solle sich Zeit lassen. Wurde ein Delinquent bewusstlos, verdarb das den Spaß. Auspeitschen war eine Kunst, auch deshalb schätzte der Kapitän seinen Ersten. Der Mann mochte fünf Meilen gegen den Wind stinken, mit Sklaven kannte er sich aus.
Im selben Moment gab es am Heck ein Poltern, welches das ganze Schiff erschütterte. Der Steuermann schüttelte wild den Kopf, was nichts anderes bedeutete als: Nein, wir sind nicht auf ein Riff gelaufen! Hier gibt es keine Riffe und keine Untiefen.
Fat Orloff fuhr herum, sogar der Gepeitschte hob den Kopf und alle starrten zum Heck.
Eine Fratze schob sich darüber hoch.
Ein riesiger Schädel mit unzähligen Augen und einer Reihe Ohren an jeder Schädelseite. Mit einem wilden Sprung überwand die Kreatur die Reling und Fat Orloff begriff sofort, dass man vergessen hatte, die Fallreep einzuholen. Wie sonst …?
Er kam nicht dazu, sich weitere Fragen zu stellen.
Mit einem grollenden Laut sprang die Kreatur über seinen Kopf und landete inmitten der aufgeregt kreischenden und auseinander spritzenden Sklavenmeute.
»Roooaaar! Guuut!«, bellte die Kreatur und Fat Orloff traute seinen Ohren nicht, als er das zweite Wort zu erkennen meinte, da es fast menschlich klang. Die Kreatur verfügte über vier unterschiedlich lange Arme, von denen eines schlaff herab hing. Es hatte scharfe Klauen. Sein massiger Körper sah aus, als habe ihn ein Wahnsinniger zusammen gestückelt. Die Haut wirkte wie Leder. Der Rücken war offenes Fleisch, aus dem ein seltsam verkrümmtes Rückgrad hervor ragte, das nicht zu diesem Wesen zu gehören schien. Die stempelartigen Beine waren mit Stacheln gespickt, doch das schlimmste war das Maul.
Fat Orloff hatte einmal eine unangenehme Begegnung mit einem Margoulus gehabt, einem Wesen aus der Tiefsee, bei dem er fünf seiner besten Männer verlor. Und diese Kreatur hatte ein Margoulusmaul, welches auf und zu schnappte und aus dem glibberiger Schleim tropfte.
An Bord brach Panik los.
Der Kanonier wartete nicht auf einen Befehl und zündete. Die Kugel krachte gegen den Großmast, der knirschend zusammenbrach und ins Wasser klatschte. Das Segel faltete sich und trieb auf den Wellen.
»Verdammt!«, brüllte Fat Orloff. »Was soll das? Richte die Kanone auf die Kreatur!«
Degen und Messer wurden gezückt.
Doch die Kreatur war schnell. Blitzschnell.
Er fegte mit einer Armbewegung einen Halbling über Bord. Den anderen Arm entrollte er und bohrte seine Kralle in den Bauch eines anderen Sklaven. Sein Maul schnappte zu und der Schädel wirbelte hin und her, wobei er sein drittes Opfer entzwei riss.
Fat Orloff traute seinen Augen nicht. Die Kreatur wütete auf seinem Schiff wie ein tollwütiger Hund in einer Rattenarena.
Erneut donnerte die Kanone und durchschlug das Deck, nur eine Handbreit neben der grässliche Kreatur, die – unglaublich! – der Kugel ausgewichen war. Nun hielt die Kreatur inne und starrte zu Fat Orloff hoch. Seine unzähligen Augen blitzten. Dann schnellte er aus dem Stand hoch, seine Beine hämmerten gegen den Brustkorb des Ersten, der brüllend zu Boden fiel. Die Peitsche entglitt seinen Fingern. Bevor der Erste den Mund schließen konnte, fehlte ihm erst ein Arm, dann das Leben.
In Fat Orloff kam Bewegung.
Er musste sich eine Möglichkeit suchen, um diesen monströsen Überfall zu überleben. Die Sklaven interessierten ihn nicht mehr. Nun galt es, die eigene Existenz zu sichern.
Die Kreatur sprang neben den ausgepeitschten Mann, der seine Stirn auf die Planken drückte, als suche er dort einen Ausweg.
Die Kreatur verhielt und schnüffelte. Aus dem Margoulusmaul schnellte eine Zunge, die den Rücken des Gepeinigten ableckte, langsam rauf und runter, bis er wie gewaschen aussah. Währenddessen schluchzte der Ärmste, bewegte sich aber nicht.
Zwei Messer flogen. Eines davon bohrte sich in die Schulter der Kreatur, die sich nun dem Messerwerfer zuwandte, der unglücklicherweise hinter dem Kapitän stand.
»Roooaaar!«, brüllte das Wesen, sprang wie von Sinnen und prallte gegen Fat Orloff, der wie ein nasser Sack gegen die Kajüte geschleudert wurde. Er starrte zu der Kreatur hoch, die den Messerwerfer, einen tapferen Matrosen griff und über Bord warf.
Jetzt bin nur noch ich da!
Der Kapitän wusste, dass er sterben würde. Seltsamerweise hatte er keine Angst. Im Laufe seines Lebens hatte er viele schreckliche Erlebnisse auf dem Meer überlebt, Stürme, Dämonen und Meeresungeheuer. Doch keines hatte so gezielt, so suchend, so… intelligent? gewütet, wie dieses zusammengestückelte Wesen. Er staunte so sehr, dass er mit einer morbiden Faszination darauf wartete, was die Kreatur als nächsten tun würde.
Guuut!, hatte sie gebrüllt. Ein Wort in der Hohen Sprache aus einem Margoulusmaul. Ein grelles Kichern stahl sich Fat Orloff Kehle hoch. Das schien einfach… unglaublich, oder spielte sein Verstand nicht mehr mit? Die Kreatur beugte sich zu ihm vor. Das stinkende Maul war nur noch zwei Handbreit von Orloffs Nase entfernt. Die spitzen vielreihigen Zähne knirschten. Die Augen schienen den Kapitän zu durchdringen. Erneut spürte Orloff die Intelligenz, die irgendwo dort in diesem Schädel kauern musste.
Er überlegt, ob er mich töten soll!
Rick Orloff hatte ein treues Weib und zwei Töchter. Er hatte nie wirklich verwunden, dass ihm Söhne versagt geblieben waren, echte Kerle, die er zu sich an Bord holen konnte. Nun durchströmte ihn Liebe zu seinen Töchtern, wie er sie noch nie gespürt hatte. Eine unendliche Sehnsucht nach den Mädchen bemächtigte sich seiner und eine fast schmerzende nach seinem Weib. Er würde die Drei nie wiedersehen. In diesem Moment begriff er, dass er seine Familie erst wertschätzte, als er sie verloren wusste.
Die Kreatur fuhr mit ihrer – sollte man es Nase nennen? – also mit ihrer Nase an seinem Gesicht entlang, zu seiner Halsbeuge, weiter zu seiner Uniform, die bis zur Brust geöffnet war. Rick Orloff verzahnte sich mit den Gedanken der Kreatur und erkannte auf einer tiefer liegenden Ebene, dass sie etwas suchte, erkennen wollte. Sie mochte wahllos getötet haben, doch nun ging sie fordernd und strategisch vor. War er jener, der nun sterben musste?
Die Kreatur zauderte, hielt inne, und sprang davon.
War sie satt?
Befriedigt?
Hatte sie ausreichend gewütet?
Die Kreatur schnellte zwischen die verbliebenen Sklaven, scheuchte diese auf und rannte zum Bug. Dort huschte sie auf die Reling und sprang ins Meer.
Es war vorbei!
Der Alptraum hatte ein Ende.
Der Kapitän ächzte erleichtert und richtete sich auf. Mit Erschütterung spürte er, dass er sich eingenässt hatte. Belanglos!
Es galt, die Disziplin aufrecht zu erhalten. Auf seinem Schiff gab es unzählige Sklaven. Doch wo waren seine Männer?
Er starrte in das Gesicht jenes Sklaven, den er hatte auspeitschen lassen. Der von der Kreatur ebenso verschont worden war. Und er starrte in die schmerzerfüllten, hasserfüllten und grimmigen Mienen der Sklaven, die sich ihm Schritt für Schritt näherten, sie verkörperten pure Mordlust.
Während Kapitän Rick ‚Fat’ Orloff der Schweiß aus den Poren schoss, schloss er mit seinem Leben ab. Der Alptraum war nicht zu Ende, er begann!
Er schoss durchs Wasser wie eine Kanonenkugel. Dogdan der Unselige hatte gelernt, wie man schwamm. Er hatte die Fische beobachtet und es ihnen nachgetan. In seinem einfachen Verstand formten sich Bilder. Er war längst über den reinen Instinkt hinaus, sein Hirn lernte.
Es gab eine Aufgabe zu erledigen.
Sein Erschaffer, Murgon, Lord von Unterwelt, vertraute ihm. Da waren der Manndämon und die Barb. An beide erinnerte er sich mit düsteren Gedanken. Beide hatten ihn – jeder auf seine Art – besiegt. Einer wie Dogdan würde sich immer daran erinnern. Er würde sich rächen.
Rache!
Er wusste nicht, was das war, aber dieses Brennen, dieses Summen, diese Mordlust, gaben ihm Kraft.
So durchquerte er das Meer, bis er in einiger Entfernung etwas wahrnahm, das ihn erschreckte. Seine vielen Augen setzten das Bild zusammen. Es wirkte, wie die Festung seines Herren in Unterwelt. Doch es war heller und glühte in der Sonne.
Dogdan wusste nicht, was eine Stadt war, doch das war nicht wichtig. Entscheidend war die Schwingung, die von diesem Ort ausging. Er näherte sich den Häusern, vor denen einige Schiffe lagen. Er hielt inne und überlegte. Ja, er kannte eines der Schiffe, hatte es schon einmal gesehen.
Zufrieden dachte er an das Schiff zurück, auf dem es viele bärtige Männer und fast nackte Wesen gegeben hatte. Er hatte gewütet. Hatte gesucht. Hatte Fleisch zerrissen und Blut getrunken. Hatte sich auf berauschende Art und Weise gesättigt. Fleisch schmeckte besser als Fisch. Das hatte er gelernt, als sein Herr ihm gestattete, den Zweiköpfigen zu verspeisen.
Hier gab es viel Fleisch. Es wimmelte vor Fleisch.
Sachte schwamm er weiter heran. Niemand sollte ihn sehen. Er hatte gelernt, dass der direkte Angriff nicht immer zum Erfolg führte. Ausgerechnet diese Barb, ein winziges fleischiges Wesen, hatte ihm das beigebracht. Dachte Dogdan an seine Befehle, nach denen er die Barb lebend zu Lord Murgon bringen sollte, schmerzte etwas, das tief in ihm schlummerte.
Begriffe wie Seele, Herz und Gefühl waren Dogdan nicht bewusst, dennoch begriff er, dass es etwas gab, das auch ihn schmerzen konnte. Ein tiefer, merkwürdig fremder Kummer, eher ein Schatten, der sich über ihn legte. Zu gerne hätte er sich an der Barb gütlich getan, doch er würde seinem Herrn – seinem Vater! – gehorchen.
Sie waren hier.
Schon oft war er ihnen nahe gewesen.
Einmal waren sie ihm entschlüpft, waren verschwunden wie Trugbilder, unsichtbar, obwohl er sie gewittert hatte. Ganz nahe war er ihnen gewesen. Was er spürte, war Kälte und Furcht. Nicht seine Furcht, wohlgemerkt, sondern die seiner Opfer. Danach waren sie wieder erschienen und erneut waren sie ihm entkommen.
Sie waren hier.
Alles in ihm schlug an, seine Nerven waren aufs Äußerste angespannt. Inzwischen wusste er, dass sich in dieser Welt das Licht veränderte. Es wurde dunkel und wieder hell. Er hatte festgestellt, dass er während der Dunkelheit schlecht sehen konnte, als nahm er an, dass das diesen Wesen nicht anders ging.
Guuuut! Fein!
Er würde warten, bis es wieder dunkel war. Dann würde er dem Wasser entsteigen und seine Beute suchen. Er war sicher: Dieses Mal würde es ihm gelingen!
»Biggert!« Bluma rang nach Luft.
«Bluma! Wir haben so gehofft, dass du noch lebst. Dein Bobba und deine Momma ... sie ... sie ... suchen ...«
»Ich weiß, Biggert. Ich weiß. Sie haben mich gefunden.« Tränen rannen über Blumas Wangen und der Lehrer lächelte glücklich. Dann tat er etwas, dass er noch nie mit Bluma getan hatte und wahrscheinlich in seinen kühnsten Träumen nie zu tun gedacht hatte. Er breitete seine Arme aus und zog die kleine Barb ganz fest an sich.
»Bob und Bama sind auch hier?«, murmelte Biggert.
»Ja, oh ja ...«, flüsterte Bluma. »Alles ist gut. Wir sind wieder eine Familie. Wenn auch eine kleinere ...«
Sie drückten sich und die Trauer um alles, was sie verloren hatten, was fast greifbar.
Darius stand daneben und beobachtete das Wiedersehen.
Nach einer kleinen Weile löste sich Bluma von Biggert und trat einen Schritt zurück. »Was tust du hier in Dandoria? Wie kommst du hier hin? Und warum?«
Biggert rieb sich die Nase und sah Darius an.
»Er ist mein Freund«, beeilte sich Bluma zu erklären.
Biggert runzelte die Brauen, als überlege er, wieso die natürliche Distanz zwischen Lehrer und Schülerin dahin geschwunden schien.
»Es geschah, als ihr von Fuure losgefahren seid. Einer meiner Schüler, der freche Boik, kam zum Strand, wo Bemtoc euch hinterher blickte. Was glaubst du, was Boik bei sich trug?«
Blumas Unterlippe zitterte. »Mach es nicht so spannend.«
»Er hatte das Drachenei gefunden!«
Darius sprang auf und Biggert wich erschrocken zurück. Er starrte den hochgewachsenen Mann an, als fürchte er um sein Leben. Darius winkte ab und lächelte gewinnend. »Hab keine Furcht ... Was Bluma sagt, stimmt. Wir haben gefährliche Abenteuer miteinander erlebt und wissen uns zu schätzen. Keiner von uns beiden würde den anderen je im Stich lassen.«
Bluma nickte begeistert und als Biggerts Blick sie traf, bekam sie heiße Ohren. »Das Drachenei?«, hauchte sie. »Jenes, das die Amazonen suchten?«
Biggert sagte: »Wie soll ich wissen, ob es das richtige Ei ist? Eben das Ei.«
»Da wird Lysa glücklich sein«, murmelte Darius. »Endlich hat sie das Mittel, mit dem sie ihren Stamm retten kann.«
Biggert sagte: »Deshalb habe ich das nächste Händlerschiff genommen. Ich dachte mir, euch hier in Dandoria zu begegnen. Nein, nicht euch beide, aber ... liebe Güte ... das ist ein Wunder!« Er rang um Fassung. »Meine Schüler freuen sich. Der Lehrer ist weg. Aber Bemtoc wird ein Auge auf die Racker haben.«
Bluma fasste sich. »Dann ist unsere Reise fast beendet.«
Biggert schaute fragend. »Fast?«
»Es haben sich noch andere Dinge ergeben«, gab Bluma zurück. »Geheimnisse, die gelüftet werden müssen. Geheimnisse, die mit Darius, Connor und uns allen zu tun haben.«
»Was ist in dieser Stadt los?«, wollte Darius wissen. »Mir scheint, das Militär hat die Macht übernommen.«
Biggert zog ein Gesicht. »So viel ich weiß, ist der König verschwunden, sein Weib wurde getötet, der Inquister ist verschwunden und der General verschollen. Dandoria ist führungslos.«
»Es ist stets das gleiche«, knurrte Darius. »Keine Linie, kein gerader Weg. Du sollst wissen, dass wir nach unsere Freunden suchen. Connor und Frethmar wurden festgenommen. Bob und Bama sind in der Stadt unterwegs und es bleibt zu hoffen, dass ihnen nichts geschehen ist. Lysa und eine ihrer Kameradinnen sind ebenfalls losgezogen, um Dandoria zu erkunden. Wir wollen uns später auf dem Schiff treffen und unsere Informationen austauschen.«
»Connor und Frethmar? Der Barbar und der Zwerg, wenn ich mich an die Namen richtig erinnere? Ich hatte den Eindruck, die beiden mögen sich nicht.«
Bluma lachte leise. »Das hat sich geändert, Biggert. Inzwischen sind sie die besten Freunde geworden.«
Der Lehrer der Barbs kratzte seine filzigen Haare. »Warum hat man sie festgenommen?«
Darius ging dazwischen. »Das ist eine lange Geschichte. Sie haben nichts schlimmes getan, wenn du das meinst.« Er musterte den Barb. »Du kennst mich nicht, doch verlasse dich auf die Bewertung deiner ehemaligen Schülerin.«
Es klopfte hart an der Tür. Daraufhin wurde gerüttelt.
»Verschwinden wir«, stieß Darius hervor. »Wohin führt die Treppe?«
»Aufs Dach«, gab Biggert krächzend zurück.
»Kommen wir von dort aus weg?«, fragte Darius.
»Dir wird es vielleicht gelingen, aber meine Beine sind zu kurz«, sagte Biggert.
»Unsinn!«, fuhr Bluma herum. »Barbs können viel mehr, als sie denken. Ich habe gegen einen Golem gekämpft und ihn besiegt. Dann wirst du ja wohl klettern können, oder?«
Biggert schwieg.
»Ich war in Unterwelt, Biggert!«
Der Lehrer starrte Bluma an. »Unterwelt ...?« brabbelte er.
»Und nicht nur dort, Biggert.«
Darius rannte die Stufen hoch.
Es pochte an der Tür und eine harte Stimme begehrte Einlass. »Öffnet die Tür! Wir wissen, dass Ihr da drinnen seid!« Das Pochen wurde zum Poltern und endlich entspannte sich auch Biggert und rannte hinter Bluma und Darius die Treppe hoch.
Sie durchquerten einen stinkenden schimmeligen Raum. Es gab drei Fensteröffnungen und Bluma erkannte sofort, dass sie nur durch eine davon flüchten konnten, da diese an das Nachbardach angrenzte. Es handelte sich um tiefer liegende Ziegel. Ein Sprung war durchaus gefährlich. Darius war schon draußen. Er reichte Bluma seine Hand und fing sie auf. Selbiges mit Biggert, der sich anschließend zitternd am Giebel festhielt.
»Wohin?«, fragte Bluma.
»Zur anderen Seite. Dort gibt es weitere Übergänge zu anderen Dächern, einige davon sind flach. Sie werden uns nicht erwischen, denn hier oben sind wir schneller als sie. Schaut dort hinten ...«
Bluma folgte dem Finger ihres Freundes.
»Mischwald. Wenn wir die drei Dächer schaffen, können wir uns dort verstecken. Wir müssen blitzschnell sein, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Den Göttern sei Dank sieht man uns hier oben nicht, denn die Strasse liegt zur anderen Seite.«
»Also los!«, sagte Bluma.
Es war alles andere als einfach. Mehrfach rettete die Barbs Darius’ helfende Hand. Er achtete auf sich, aber auch auf seine Begleiter. Für ihn war die Flucht über die Dächer eine Kleinigkeit, für Bluma und Biggert eine Tortur. Ihre Beine waren zu kurz, ebenso die Arme. Sie waren nicht gelenkig und mehrmals seufzte Bluma vor Schmerz, als sie sich verdrehen musste, um hinter einer Brüstung Schutz zu suchen. Hinzu kam, dass die Herbstsonne brannte, als sei der Sanfte Jack ihr Herr.
Im Nu waren Bluma und Biggert nass geschwitzt. Darius hingegen war geschmeidig wie eine Gazelle und schaffte kleine Mauern und Vorsprünge mit einer Behändigkeit, die Bluma beneidete. Er war ein Mensch und sie war ein kleines dickes Weib.
Soviel zum Thema verlieben!, machte sie sich klar.
Biggert keuchte und Bluma begriff, warum man den Lehrer nie zum Wareikenziehen eingesetzt hatte. Entweder man hatte es in den Muskeln oder im Gehirn, beides zusammen war selten.
»Beeilt euch«, zischte Darius. Er robbte über ein Strohdach, welches sich verdächtig unter ihm beulte. »Schnell, sonst kracht das Dach unter uns zusammen.«
Von unten wurden Stimmen laut.
Bluma verkniff sich ihr Neugierde. Was war da unten los? Hatten die Gardisten sie gefunden? Vermutlich! Sie würden sich zusammen reimen können, wohin sie geflohen waren. Darius hielt inne und presste den Zeigefinger auf die Lippen, während er nach hinten blickte und versuchte, Bluma und Biggert mit einem aufmunternden Lächeln zu beruhigen.
Bluma spitzte die Ohren.
Unten, in einer Gasse, wurde gestritten.
Worte schwirrten hin und her.
Blumas Herz setzte für einen Moment aus. War das nicht die Stimme ihres Bobba? Darius, der wohl ähnliches erkannte, warnte Bluma, sich zu nahe an den Rand zu schieben. Er wedelte mit der Hand, doch Bluma ließ sich nicht aufhalten.
Waren Bobba und Momma in Gefahr?
Nun schrie eine Frau, ganz eindeutig Mommas Stimme. Langsam entfaltete sie die Worte.
»Das – geht nicht – ehrsame Reisende – nicht zuschulden!«
» – sehe ich nicht ein – Kerker? Ist dahinten – Kerker!«
Bluma fröstelte. Sie begriff, was dort unten ablief. Darius auch.
»Sie warnen uns und wollen uns auf etwas hinweisen ...«, flüsterte Biggert.
»So ist es«, gab Darius zurück und blinzelte anerkennend. »Andererseits habe ich überhaupt keine Lust, dass man unsere Freunde einsperrt. Dann wissen wir zwar, wo sie sind, müssten jedoch vier anstatt zwei Personen befreien.«
»Was willst du tun?«, fragte Bluma erschüttert, denn sie meinte, Darius’ Gedanken zu lesen – und vermutlich geschah es auch.
Darius schwang sich über die Brüstung. »Mir reicht’s. Ich werde diesen Gardisten den Arsch versohlen!«
Dann war er verschwunden.
Inquister Loouis Balger lächelte. »Unglaublich, zu was Ihr fähig seid, Magus Claudel.«
Der hagere Mann grinste müde. »Euch mag es wie ein Kinderspiel vorkommen, Balger. Für mich ist es eine Tortur. Kein Zauber ist anstrengender als ein Heilzauber. Für eine Weile dringen deine Schmerzen in mich ein und ich muss versuchen, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Keine leichte Aufgabe, aber was tut man nicht alles, um an der Seite des Königs zu sitzen.«
Balger richtete sich auf, was erstaunlich gut gelang. Seine Verletzungen heilten in einer Geschwindigkeit, die ihn erschütterte. Dies war das erstemal, dass an ihm Magie vollzogen wurde. Einerseits ein begeisterndes Gefühl, andererseits ängstigend, denn es gehörte nicht zum Lauf der natürlichen Dinge. Er verschränkte die Arme vor die Brust. »Könnt Ihr mich auch schlank machen?«
Claudel blickte den Inquister an wie ein Giftschlange, die sich überlegt, vielleicht doch zuzustoßen. »Fresst weniger, mein König. Dann werden die Fettmassen von alleine schwinden.«
Balger quälte sich ein Lachen über die Lippen, doch sein stechender Blick sprach Bände.
Claudel spitzte die Lippen. »Wenn die Sau satt ist, stößt sie den Trog um, nicht wahr?«
Balger überlegte einen Moment, dann begriff er. »Nein, nein, so sollt Ihr das nicht sehen. Ich bin euch wirklich sehr dankbar.« Große Verbindlichkeiten machen nicht dankbar, sondern rachsüchtig!, dachte er, doch er wollte es nicht zeigen. Claudel würde noch früh genug erleben, was es hieß, einen Loouis Balger zu erniedrigen. Hatte der kleine Magus ihn wirklich eine Sau genannt? Nein, es war wohl nur eine Metapher gewesen, oder?
Es dauerte nicht länger als fünfzehn Minuten und Balger fühlte sich wohl, wie lange nicht mehr. »Was habt Ihr mit dem Käfer in meinem Kopf gemacht?«
Claudel, der am ganzen Körper zitterte und vor sich hin murmelte, setzte sich auf einen Schemel und verbarg das Gesicht in den Händen.
Balger erkannte, dass der Magus zur Regenerierung länger brauchte als er. Deshalb schwieg er und wartete. Er schloss die Augen und suchte nach Anzeichen für den Skarabäus. Wartete er? Würde er gleich anfangen, wieder irgendeinen Unsinn zu reden, etwas davon, dass der Inquister einer von Zwanzig sei oder so? In seinem Schädel herrschte Stille, lediglich ein wohliges Gefühl der Kraft sauste durch seine Gehirnwindungen wie ein Fluss, dessen Schleusen man geöffnet hatte. Das war so – befriedigend! Er war nicht nur gesund, sondern aktiv, viel aktiver als zuvor.
Er dachte an die Elfe Katraana. War ihr der Übergang nach Unterwelt gelungen? Hatte sie inzwischen den Dunkelelf vernichtet? Oder war sie im Grab gestorben, elendig erstickt? Er würde sich gedulden müssen. Früher oder später würde er es erfahren.
Klar war, es hatte einen Dämonenangriff gegeben, bei dem Lady Grisolde den Tod gefunden hatte. Anscheinend wusste man in Unterwelt, dass König Rondrick zu den Riesen gegangen war. Nun waren die Karten neu gemischt. Dandoria brauchte einen König und das schnellstens. Jeder Tag konnte neue Überraschungen bringen.
Und was, wenn auch er von Dämonen getötet wurde?
Es durchfuhr Balger eiskalt, denn soweit hatte er bisher nicht gedacht. Was, wenn der Thron sein Todesurteil war? Als hätte der Magus seine Gedanken gelesen, schnellte dessen Kopf hoch. Sein Lächeln balancierte auf einer Rasierklinge.
»Ihr glaubt, als König ein Ziel für Dämonen zu sein?«
»Woher wisst ...«
»Lasst das!«, schnappte Claudel. »Ich werde einen Bann um Euch weben. Kein Dämon wird Euch etwas anhaben können, zumindest keiner der einfachen kleinen Sorte.«
»Und das funktioniert?«
»Pah – habe ich Euch gesund gemacht?«
Balger schwieg und biss sich auf die Unterlippe. Er hatte Hunger, Durst und musste dringend pinkeln. Vorsichtig schwang er die Beine aus dem Bett. Alles ging einfach und schmerzlos. Er wuchtete sich von der Matratze und stand zuerst unsicher, dann selbstbewusst in dem kleinen Raum. Er glaubte es kaum, aber er war agil wie lange nicht. Was man von Claudel nicht behaupten konnte. Doch was interessierte Balger der kleine Magus? Nun galt es, die richtigen Fäden zu ziehen.
Hatte Claudel auch diese Gedanken gelesen? Konnte er das überhaupt oder waren es lediglich emphatische Ahnungen? Nein, Claudel wirkte nicht so, als habe er Balgers Gedanken gelesen.
Liebe Güte, um Haaresbreite hätte er seine wahre Natur verloren. Hatte der Käfer dafür gesorgt? Er hatte im Betgarten der Burg geweint, er hatte seine Eitelkeit verloren und eine Sanftheit gespürt, die ihm bis dahin fremd gewesen war. Und wozu das alles? Um als elendes Gewürm in den Gassen von Dandoria zu enden und schließlich zertreten zu werden? Eine vorübergehende Verwirrung des Geistes, die zwar einen Teil seiner Menschlichkeit bloßgelegt hatte, aber auch den Verlust der Kontrolle.
Ich bin zurück!
Balger ist wieder da!
Er erleichterte sich in einen Porzellantopf und schloss den Deckel. Er goss sich frisches Wasser in einen Becher und trank. Es schmeckte herrlich. Er trat zum Fenster und blickte in den Burghof. Dort herrschte reges Treiben. Es wurde Zeit, dass er sich blicken ließ.
In sauberer Kleidung.
Mit allem Zierrat, den er besaß.
Und für den heutigen Abend würde er ein Fest ausrufen.
Ein Fest? Nein, das ging nicht. Man trauerte um Lady Grisolde. Doch ein Fest! Ein Fest zu ihrem Gedenken! Ja, das war ein kluger Plan. Niemand würde es wagen, diesem Plan zu wiedersprechen.
Eine Gruppe Gardisten marschierte in Reih und Glied. Befehle wurden gebrüllt, die nur als schwaches Raunen zum Turm hoch klangen.
Das war gut! Ordnung musste sein! Zuerst musste Balger sich der Gardisten versichern. Sie stellten einen Teil der wichtigsten Militärmacht dar. Sie benötigten Führung, seitdem General Syndar tot war. Zwar gab es einige, die den General vertreten konnten, doch niemand verfügte über die gottgleiche Autorität, die Syndar vor sich her getragen hatte, wie einen Schild.
Balger kniff die Augen zusammen und riss das Fenster auf. Nun konnte er besser hören, was dort unten geschah. Einer wurde aus dem Glied gerufen und baute sich vor einem gleichgroßen Vorgesetzten auf. Dieser brüllte irgendwas und zwang den Soldaten in die Knie.
Was sollte das? Balger traute seinen Augen nicht. Maßregelungen wurden grundsätzlich nicht öffentlich gehandhabt, schon gar nicht auf dem Burghof, wo es vor Lakaien und anderen Zivilisten nur so wimmelte. Was bildete dieser Vorgesetzte sich ein? Wollte er den Ruf der Garde beschädigen? Der Gardist zog sein Schwert und wog es in der Hand. Die Schultern des Knienden zuckten. Die anderen Männer wurden unruhig, kaum jemand von ihnen stand still.
»Das wird euch eine Lehre sein!«, brüllte der Vorgesetzte, dessen Stimme nun über der Burg zu schweben schien wie ein schwarzer Rabenschwarm.
Alle auf dem Hof hielten den Atem an. Niemand bewegte sich. Alle blickten zu dem ehrlosen Schauspiel hin.
Der Kniende murmelte etwas, dass Balger nicht verstand. Claudel war neben ihn getreten. »So beginnt es...«, murmelte der Magus.
Balger hatte den Magus nicht kommen hören und zuckte erschrocken zusammen, wich jedoch etwas zur Seite, um Claudel den Blick nicht zu versperren.
Der Vorgesetzte vollzog einen blitzschnellen Hieb. Mit einem Schlag trennte er dem Gardisten den Kopf von der Schulter. Blut sprudelte und das Haupt knickte weg und fiel in den Sand. Der Rumpf des Knieenden brach zur Seite und der Burghof wurde rot getränkt.
Balger schlug das Fenster zu.
»Was sollte das denn?«, brüllte er so laut, dass Claudel zusammen zuckte. Balger stapfte zum Bett. »Ich brauche meine Kleidung, Claudel. Holt sie von nebenan. Das kann doch nur ein Alptraum sein!«
Während Claudel hinaus huschte, brüllte Balger weiter. »Eine öffentliche Hinrichtung? Vor den Bürgern von Dandoria? Wegen etwas, dass nicht verhandelt wurde? Sind denn alle wahnsinnig geworden? Verdammt, ich will diesen Vorgesetzten sprechen. Ich reiße ihm den Kopf ab, schneide ihm die Zunge raus, setze ihn auf einen Pfahl!«
Balger zitterte am ganzen Leib. Was geschehen war, hatte willkürlich gewirkt. Und so etwas gab es in Dandoria nicht. Zumindest nicht bei der Garde. NICHT BEI DER GARDE! Claudel kam herein und Balger zog sich an. Nicht so prächtig, wie er es geplant hatte, aber das war jetzt unwichtig.
Er stapfte die Stufen des Turmes hinunter und atmete schwer dabei. Ob es körperliche Schwäche oder Zorn war, interessierte ihn nicht. Die Treppenstufen schienen nicht zu enden. Wie, bei allen Göttern von Mythenland, hatte man ihn hier hoch geschleppt? Mit Magie?
Er stieß das Tor auf und trat auf den Burghof. Der Leichnam des Geköpften war schon fortgeschafft worden, die Gardistengruppe war verschwunden.
War ich so langsam oder waren die so schnell?, fragte sich Balger. Es wirkte, als habe jemand versucht, sein Unrecht so schnell wie möglich zu vertuschen. Das Leben im Burghof schien erstarrt zu sein. Kaum jemand bewegte sich. Es hatten sich Grüppchen gebildet. Es wurde diskutiert, zwei Frauen lehnte an der Mauer, eine von ihnen weinte, während die andere tröstete.
»Was ist hier geschehen?«, brüllte Balger. Er stemmte seine Arme in die Hüften und ließ seinen feurigen Blick über den Hof gleiten. Jedes Gespräch verstummte. »Ich will sofort wissen, was hier geschehen ist?«
Ein dunkelhäutiger Mann, klein und alt, löste sich aus einer Gruppe und kam mit federnden Schritte zu Balger. Er trug eine Fellweste. Sein Oberkörper war tätowiert, die Haut braun und wie Leder. Um seine Hüften trug er ein rockähnliches Stück Stoff mit roten Karos. Seine Haare waren geflochten und streng nach hinten gelegt. In beiden Ohren glitzerte ein Ring. Der Mann ging kerzengerade, sein Kinn trotzig nach vorne gereckt. Er lächelte. »Nun bringen sie sich gegenseitig um.«
»Wer?«
»Die Gardisten. Sie nehmen andauernd Gefangene. Wer auch nur schief guckt, wird eingesperrt. Für heute Abend ist eine Hinrichtung angesetzt. Arme Seelen, die vermutlich nicht wissen, wofür sie sterben müssen. Man sagt, es handele sich um einen Barbar und einen Zwerg.«
Balger knurrte. So, wie es Claudel gesagt hatte. Es war verflucht schnell gegangen.
»Es sind die Schranken, Inquister ...«
»Welche Schranken?«
»Die man sich auferlegen muss, wenn man sehr hoch steht. Man braucht sie, um die Willkür der eigenen Seele zu bändigen. Die Gardisten sind schrankenlos.«
»Was tust du auf der Burg?«
»Ich schreibe über Dandoria.«
»Dann passe auf, dass du dir nicht dein schräges Maul verbrennst.«
»Seid Ihr zornig auf mich oder auf das, was geschehen ist?«
»Was geht dich das an?«
Der Alte verbeugte sich demütig, doch sein Gesicht blieb stolz und wach. »Die Gardisten sind im Rausch. Im schlimmstmöglichen. Im Herrschaftsrausch ...«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Wer von diesem Rausch befallen ist, großer Inquister, der erwacht nicht mehr, wenn er gestürzt ist.«
Balger blinzelte. Die Quatscherei des Alten kamen ihm fast vor wie die des Skarabäus, der sich bisher schweigsam verhielt. »Mich wundert, dass du mich so offen ansprichst. Was sagt dir, dass die Hinrichtung nicht auf mein Geheiß geschehen ist?«
»Ich nahm es an. Ansonsten hätte ich gefragt. Bin schließlich ein Narr!«
»Ein Narr?«
»Wer fragt, bleibt ein Narr für einen Vormittag, wer nicht fragt, für alle Zeiten.«
Balger war verwirrt. Was sollte dieses merkwürdige Gerede? Andererseits faszinierte ihn dieser kleine Mann. Hinter ihm öffnete sich das Turmtor und Claudel trat heraus. Er kam zu Balger und riss den Mund auf.
»Seit wann bist du hier auf der Burg?«, zischte der Magus.
Balger drehte sich erstaunt zu Claudel. »Was hat das zu bedeuten?«
Der Magus machte ein Gesicht, als habe er in einen sauren Dümpelfisch gebissen. »Man findet ihn stets dort, wo es Ärger gibt.«
»Ihn?«, fragte Balger und kam sich vor wie ein – Narr! Er musterte den Alten. »Wie ist dein Name?«
»Ein Dorf, das man sieht, benötigt keinen Namen«, meinte der Alte sophistisch und Balger platzte der Kragen. »Dein Name, oder dein Kopf rollt genauso, wie der des Gardisten!«
»Wie Ihr wünscht, Inquister.« Der Alte verbeugte sich erneut. »Mein Name ist Agaldir.«