4. Kapitel
Lord Murgon, Herrscher von Unterwelt, stapfte wie ein gefangenes Tier durch die Hallen der Festung. Die Festung war von den Wächtern erbaut worden. Jene Wächter, die Murgon zu rufen gedachte, um sich von ihnen bei der Unterjochung von Mythenland helfen zu lassen.
Lord Murgon war zornig.
Sein Kampfdämon hatte einen nicht wieder gut zu machenden Fehler begangen.
Ganz Dandoria wusste es und es war auch zu ihm gedrungen. Xorkuus, sein Killerdämon, hatte den Falschen getötet. Nicht König Rondrick, sondern einen gewissen Zyxkally, einen Gildenmeister, einen völlig unwichtigen Mann. Wie hatte das geschehen können? Lag es daran, dass er seine Anweisungen nicht deutlich genug formulierte? Er stellte sich für einen winzigen Augenblick in Frage, um sogleich zu widerrufen. »Verdammt, wer nicht mitdenkt, kommt dabei um!«
König Rondrick hatte ein Spiel gespielt, bei dem der König und ein Untertan die Plätze wechselten. Deshalb hatte Zyxkally neben der Königin gesessen, und Xorkuus hatte es nicht gemerkt. Obwohl der Killerdämon Gedanken lesen konnte, war er davon ausgegangen, das richtige zu tun. Xorkuus hatte nicht mitgedacht! Nun wartete er im Kerker auf seine Strafe.
Alles war vergebens gewesen.
König Rondrick lebte noch, allerdings wusste niemand, wo er sich derzeit aufhielt.
War er vor Unterwelt geflüchtet?
Das schwächte Murgon. Der Dunkelelf hatte darauf gehofft, über den Hof von Dandoria würde sich ein Intrigennetz spannen und die Stadt, wie das sie umgebende Land würde der Anarchie verfallen. Es war klug, zuzuschauen, wie ein Opfer sich selbst fraß. Nun stand er wieder ganz am Anfang.
Er fluchte und seine Finger strichen im Vorbeigehen über nasse schimmelige Felswände. Wenn er es genau betrachtete, war er gescheitert. Die Barb – sie hieß Bluma, wenn er sich richtig erinnerte – war mit dem Manndämon geflohen. Murgon war sich sicher, dass die geniale Barb das Rätsel des Artefaktes lösen konnte oder es schon gelöst hatte. Nur mittels des Kästchens konnte er Die Wächter rufen, die Meister von Unterwelt, die vor Äonen verschwunden waren.
Der Manndämon, den Murgon nur allzu gerne seiner Armee vorangestellt hätte, schützte die Barb.
Gwenael, Murgons Schwester war schwach und brachte ihn nicht weiter.
Sein Golem, Dogdan der Unselige, war noch immer auf der Jagd nach den dem Manndämon und der Barb. Würde er Erfolg haben?
Seine Wissenschaftler waren mit ihrer Kunst am Ende. Es gelang ihnen nicht, den sechsbeinigen Dokks die Intelligenz einzupflanzen, die er benötigte, um diese grausigen Wesen im Kampf einzusetzen.
Der Sanfte Jack, seinen besten Foltermeister, hatte er in einem Anfall von Zorn den Zähnen von Dogdan überlassen – ein Fehler, wie er jetzt erkannte.
Und Gwenael? Stets kehrten seine Gedanken zu ihr zurück? Warum war sie hier in Unterwelt?
Um ihn zu warnen, dass seine Tochter Katraana ihn jagte? Jene Katraana, die er über alles liebte, die ihm sein Vater zu nehmen versucht hatte, wofür der harte Mann sterben musste?
Er erinnerte sich, wie er nach Unterwelt gelangt war.
Er dachte oft darüber nach.
Wie es geschehen war.
Und fragte sich, wie sehr das Schicksal es gewollte hatte?
Oder hatten die Wesen, die ihn geholt hatten, nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet?
Kreaturen, die Murgon erblickte, duckten sich und schlichen davon. Andere wieder heulten auf, denn sie fürchteten sich. Murgon war der unumwundene Herrscher über die Höhlen, Grotten und unvorstellbar bizarren Gegenden unter der Erde. Wenn er in der Nähe war, machte man sich besser aus dem Staub. Auch Dämonen fürchteten sich.
Murgon blieb an einer Weggabelung stehen und betrachtete einen grünlich sprudelnden Wasserfall, dessen pulsierend weiche Flüssigkeit stank.
Die Erinnerung, wie er nach Unterwelt geholt worden war, war für ihn immens wichtig.
Nachdem er den Mord an seinem Vater begangen hatte, wusste er, dass er flüchten musste. Er suchte Katraana, doch er fand sie nicht, obwohl er seine magischen Fühler überall hin ausstreckte. Seine Verzweiflung wuchs ins Unermessliche. Wo war die kleine Katraana? Sie war der Grund für seine Untat gewesen. Wenn er sie nicht fand, war der Mord sinnlos gewesen. Sein Vater hatte ihm die eigene Tochter wegnehmen wollen. Kein Vater würde so etwas zulassen, auch Feiniel nicht. Er bettelte und versuchte, den Lord von Tal Solituúde zu erweichen, doch der Mann war gnadenlos. Feiniel konnte ihn nur aufhalten, indem er ihn tötete.
Erschöpft und verunsichert ließ er sich auf einer Bank nieder, auf weißem Marmor, wunderschön elfisch verarbeitet.
»Was nun?«, fragte er sich.
Im selben Moment spürte er, dass sich die Luft um ihn herum verdickte.
»Hole den Kasten. Bringe uns das Artefakt …«, wisperten eine Vielzahl Stimmen.
Feiniel gehorchte. Ihm war, als hätten die Stimmen seinen Geist, seine Handlungen übernommen. Er ging in den Palast und holte den Kasten. Er setzte sich wieder auf die Bank und seine Finger strichen über die Holzverzierungen. Dieser Kasten, den er zufällig gefunden hatte, war sein Schicksal: Er wusste es, es begriff es und er akzeptierte es. Jedermann fürchtete sich vor ihm, da alle annahmen, er stehe mit der Düsternis in Verbindung, was bisher nicht der Fall gewesen war.
Nun hatte er seinen Vater getötet. Gab es etwas Schlimmeres?
Nein!
Er, Feiniel, würde sich nicht länger so nennen. Er war Murgon von Unterwelt und er wartete darauf, was geschah.
Grauenvolle Wesen senkten sich flügelschlagend über ihn. Feiniel hob schützend seine Arme. Im selben Moment wusste er, wo er Katraana finden konnte. Sie hockte in einem Versteck, in einer kleinen Höhle. Dort würde er sie finden.
»Lasst ab!«, schrie er. »Zuerst muss ich meine Tochter holen! Das dauert nur wenige Minuten.«
Tausend Stimmen gleichzeitig brausten ein entsetzliches NEIN!
»Wegen ihr beging ich Vatermord. Sie ist meine Tochter und ich liebe sie.«
»Du kannst nicht lieben«, hörte er die Stimmen, jetzt waren es weniger. »Einer wie du liebt nur sich selbst. Und selbst das tust du nicht. Du machst dir etwas vor, Murgon von Unterwelt!«
Sie sprachen ihn mit dem Namen an, den er sich vor einer Minute im Stillen gegeben hatte. Wie konnten sie das?
»Wir sind wie du, doch du bist Dunkler. Du bist geschaffen, uns zu führen. Du bist jener, der die Wächter zurückholt. Du bist der Lord von Unterwelt.«
»Bitte, ich weiß, wo meine Tochter ist. Sie ist alles, was mir geblieben ist.«
»NEIN!«
Sie nahmen ihn auf, ohne ihm weh zu tun und trugen ihn fort. Unter sich sah Feiniel das Elfental entschwinden. Sie trugen ihn über das Meer und er fürchtete sich, sie würden ihn loslassen und er stürze unendlich tief, um auf der Wasseroberfläche zu zerschmettern. Andererseits wusste er auch, dass dem nicht so sein würde. Alles hatte seinen Sinn – seinen Grund, also überließ er sich den Klauen.
Katraana – ich weiß, wo du dich versteckst. Ich hätte dich geholt, zu mir geholt und wir wären gemeinsam weggegangen!
Diese Kreaturen wussten, dass er der Richtige war. Feiniel hielt das Artefakt vor seiner Brust, umklammerte es, um es nicht zu verlieren. Dieser Kasten war der Schlüssel, zu was auch immer. Dieser Kasten hatte seine Jungend zerstört – wie sollte er davon ablassen?
Die schwarzen Monster schossen hinab und tauchten ein in einen Wasserstrudel.
Nun sterbe ich!, dachte Feiniel
Ich werde ertrinken!
Doch so war es nicht.
Er zischte vorbei an Fratzen und weinende Gesichter, an bettelnden Zerrbildern, Ungestalten, Missbildungen und Tentakeln, die ihn greifen wollten. Innerhalb weniger Sekunden war er vorbei. Er fand sich in einer Höhle wieder und blickte um sich. Er rappelte sich auf und strich seine himmelblaue Robe – sie war während des Fluges rabenschwarz geworden – glatt. Er legte sich die Kapuze über sein weißhaariges Haupt und sein Blick beschrieb einen Halbkreis.
Verwachsene Kreaturen, hoch aufgerichtete Blutsauger, fluoreszierende Dämonen mit mehreren Köpfen, jede denkbare Ausgeburt einer morbiden Phantasie hatte ihn in der Höhle erwartet.
Sie verneigten sich.
Murgon traute seinen Augen nicht.
Was erwarteten sie von ihm? Er blickte an sich herunter und sah, dass seine Finger sich noch immer um den Kasten krallten. War es das? Wollten sie nicht ihn, sondern das Artefakt? Er legte es ganz langsam vor sich ab und beobachtete die Dämonen. Deren Blicke folgten dem Kasten, einige schnappten gierig, anderen lief breiiger Saft aus dem Maul. Sie waren bereit, einen dunklen Preis für diesen Kasten zu bezahlen. Sie nahmen Murgon auf sich.
Also hatte sein Vater Recht gehabt, als er von seinen Träumen berichtete, in denen er seinen Sohn über Schlachtfelder schreiten sah, bis zu den Knöcheln im Blut versinkend. Wäre alles anders gewesen, hätte seine Familie zu ihm gestanden? Hätte es eine gute Wendung in Feiniels Leben gegeben, wäre man liebevoll mit ihm umgegangen? Wäre er ein Dichter geworden, wie er es gewünscht hatte? Oder war alles festgeschrieben und unabänderlich?
Murgon wollte jetzt nicht darüber nachdenken.
Ein Schauder fuhr über seinen Körper, als er sich bewusst wurde, dass er nun Herrscher über ein Land war, größer als Mythenland und dunkler als die menschliche Seele. Er war der Herr über das Böse. Er war – ein Gott!
Murgon hob die Hände weit über seinen Kopf. Er war erstaunt, dass er sich kaum konzentrieren musste, um eine Aura der Macht um seinen Körper zu legen. Blaue Funken strahlten von ihm ab und der Kasten hob sich. Er schwebte vor Murgons Gesicht und noch höher zwischen seinen Händen. Er griff ihn und hielt ihn wie eine Trophäe über den Kopf. Grellweißes Licht loderte um seine Gestalt und die Dämonen duckten sich, winselten, sabberten, krochen zurück in ihre Höhlen, einfachen Behausungen oder Tümpel.
»Ich bin Murgon! Ich bin der Lord von Unterwelt!«, rief der Dunkelelf mit grollender Stimme.
Die Dämonen, welche ihn hergebracht hatten, kreischten, erhoben sich und flatterten davon.
Murgon blickte ihnen nach. Sie flogen zu einer Festung, die sich in der Ferne erhob, ein gigantischer Bau. Dorthin würde Murgon gehen. Von dort aus würde er herrschen. Und warten. Warten, bis das Geheimnis des Artefaktes gelöst war.
Murgon seufzte und kehrte wieder in die Gegenwart zurück. In letzter Zeit holten ihn die Erinnerungen vermehrt ein, ganz so, als würde der längst vergessene Feiniel sich zu Wort melden, ihm einen Spiegel vor halten.
Gwenael kam ihm entgegen.
»Wo ist das Schiff?«, fragte Murgon.
»Es war bei den Verdammten.«
»War?«
»Es hat sich – aufgelöst. Es ist verschwunden und mit ihm die Flüchtenden. Auch dein Golem ist nicht mehr da. Vermutlich hat er einen Weg gefunden, dem Dämonenmann und der Barb zu folgen. Die Wachghule haben jeden Winkel der Höhle durchsucht. Sie haben nichts gefunden. Nun fürchten sie sich, dir Meldung zu erstatten.«
»Sie sollen mir aus den Augen bleiben. Du weißt, was mein Zorn anrichtet.«
Sie nickte.
»Doch du fürchtest dich nicht vor mir?«
Gwenael sah auf. »Du bist mein Bruder, wie sollte ich mich da fürchten?«
»Ich scheute mich auch nicht davor, unseren Vater zu töten.«
»Du kannst dich auf mich verlassen, Bruder. Meine ganze Liebe gehört nur dir. Ich öffnete mich und sandte meine Gedanken aus. Sie haben alles abgesucht. Der Kontakt zu dem Schiff brach ab und es war nur noch Leere und Stille.«
Murgon rieb sich das Kinn. »Warum wussten wir nichts von diesem seltsamen Schiff? Wie konnte es in Unterwelt auftauchen und gleichzeitig als Übergang dienen?«
»Das ist nicht die einzige ungelöste Frage, Murgon. Woher wussten die Flüchtenden davon? Und wer war dieser Dämonenmann wirklich? Er kam nach Unterwelt, raubte dir deine Kraft und flüchtete, als die Drachen dir deine Kraft zurück brachten. Warum?«
»Am besten, wir vergessen das alles.« Murgon machte eine zornige Handbewegung. »Wir sollten uns auf unsere Ziele konzentrieren. Der Eroberung von Mythenland und die Eroberung der Götterhorte. Wenn uns alle drei Ebenen gehören, werden wir unbesiegbar sein. Dafür bilde ich meine Dokks aus und rekrutiere die besten Dämonen, die wir haben. Wir werden durch die Gräber gehen und die Städte überschwemmen. Wir werden durch den Mahlstrom gehen und wie ein grauenvoller Traum vom Himmel fallen. Wir werden die Drachen reiten und brandschatzen. Niemand wird uns aufhalten. Und wir werden jemanden finden, der das Artefakt öffnen kann. Vielleicht gelingt es Dogdan, vielleicht nicht. Ich schaffe einen neuen Golem und noch einen und noch einen.« Er schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »Ich habe die besten Wissenschaftler von Unterwelt bei mir. Männer, die in ihrem Leben kluge Köpfe, Magister oder Gelehrte gewesen waren und nun mir dienen. Es wird nicht mehr lange dauern und wir sind bereit. Außerdem plane ich, die Drachen noch einmal suchen zu lassen. Diesmal mit einem Befehl, den sie klar befolgen können. Ich brauche das Ei. Ich will es haben. Wenn der schwarze Drache schlüpft, soll er mich sehen und mir sein Leben lang folgen. Es gibt dieses Ei dort draußen.«
»Du willst tatsächlich alles seinen Lauf lassen?«
»Was soll ich tun, Gwenael? Dogdan ist hinter den Flüchtenden her.«
»Du könntest selbst nach Mythenland gehen und die Barb suchen. Du warst schon einmal dort, als du die Drachen gestohlen hast. Vielleicht kannst du dann auch etwas dagegen tun, dass Katraana dich findet.«
»Es schmerzt. Es dauert Tage, bis ich mich an das Sonnenlicht gewöhnt habe. Ich würde eine Weile lang innerlich verglühen. Als ich die Drachen stahl, verband mich noch ein dünner Faden mit der hellen Welt. Der ist inzwischen gerissen.«
»Betrachte es als Probe. Wenn du deine Armee ins Feld führst, wirst du auch nach Mythenland gehen müssen. Schließlich willst du deinen Sieg genießen. Du bist ein mächtiger Magier, mächtiger, als jeder lebende Magus. Du wirst die Schwingungen des Dracheneis sicherlich hören. Wenn es jemand finden kann, bist du das.«
Murgon war kurz davor, seiner Schwester den Mund zu verbieten. Heute traute sie sich weiter vor als sonst. Was hatte sie vor, wenn er nach Mythenland ging? Was würde sie hinter seinem Rücken tun? Außerdem verspürte Murgon keine Lust, die Welt der Lebenden zu durchstreifen. Wohin er kam, würde man ihn als Dunkelelf erkennen. Er wäre Anfeindungen ausgesetzt. Es wäre ein Spießrutenlauf der Gewalt. Er würde töten müssen und eine blutige Schneise hinterlassen. Vermutlich stimmte das, was Gwenael sagte – er wäre in der Lage, da Ei zu finden. Doch um welchen Preis? Und wie lange würde es dauern?
»Reite einen Drachen!«, sagte Gwenael, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Das macht dich schnell und unbesiegbar.«
»Ich habe noch nie einen Drachen geritten.«
»Du kannst es lernen.«
Spürte Gwenael, dass er nach Ausreden suchte, weil es sich im Grunde seines Herzens fürchtete, Unterwelt alleine zu verlassen?
»Du hast zwei Drachen. Nehme einen Dämon mit.«
Verflucht, sie las ihn. Sie wusste, dass er das hasste und tat es dennoch. Er sandte ihr einen mentalen Hieb und Gwenael zuckte auf der Stelle zusammen. Sie schrie auf und griff sich mit beiden Händen an die Stirn. Mit nassen Augen blickte sie ihn an. Blut tropfte aus ihrer Nase und rann über Lippen und Kinn. Sie sah ihn an wie eine zornige Katze und Murgon zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern. Er hatte kein Interesse, sich seine Schwester zum Feind zu machen. Er unterschätzte sie keineswegs. Dennoch war er der Lord von Unterwelt und er alleine traf die Entscheidungen. Seine Gedanken gehörten nur ihm alleine. Umgekehrt hielt er es bei seiner Schwester genauso.
»Ich werde mir deinen Vorschlag durch den Kopf gehen lassen«, schnaubte er, drehte sich um und schritt davon. Er spürte Gwenaels Blicke in seinem Rücken.
Gwenael begab sich in ihr Gemach, einen steinigen Raum, der zwar mit Teppichen ausgelegt war und deren Wände vom milden Schein besonderer Magusfackeln erhellt waren, der dennoch nichts mit der Ästhetik eines Wohnraumes bei den Elfen zu tun hatte. Einmal mehr fragte sie sich, warum sie ihrem Bruder nach Unterwelt gefolgt war.
Es war wahrscheinlich Machthunger gewesen.
Vielleicht lag dieser Hunger den Kindern von Segurían von Ranéwén, dem ehemaligen Lord von Elfental, im Blut. Schließlich war der Elfenlord nicht anders gewesen. Auch er hatte seine Herrschaft genossen, sich sogar angemaßt, seinem Sohn das Kind wegzunehmen.
An der Seite ihres Bruders zu herrschen übte auf Gwenael einen so großen Reiz aus, dass sie dafür Unterwelt in Kauf nahm und die Tatsache, dass sie sich von Woche zu Woche mehr in eine Dunkelelfe verwandelte. Ihr einstmals violetter Blick war nun fast schwarz, ihre dunklen Haare hellten sich auf und waren schon grau. Ja, das Mythenland zu beherrschen stellte sie sich äußerst reizvoll vor, jedoch die Götter herauszufordern – dazu fehlte ihr die Naivität. Außerdem war sie nicht glücklich darüber, dass Murgon das Artefakt nutzen wollte, um die Wächter zu rufen. Es musste einen guten Grund geben, warum diese einst aus Unterwelt verschwanden und ihre Festung zurück ließen. Nichts geschah ohne einen Grund.
Sie machte es sich auf einer Liege bequem und streckte die Beine aus. Sie hatte Murgons Furcht gespürt, als sie ihm empfohlen hatte, selbst nach Mythenland zu gehen. Hier war er ein Herrscher, dort oben nur ein Dunkelelf, den man jagen würde wie ein wildes Tier.
Trotzdem war das Risiko kalkulierbar. Murgon war stark und mächtig. Er würde sich Angriffen entziehen können und vor allen Dingen auf dem Rücken eines Drachen das Ei finden, aus dem Sharkan der Vierköpfige, schlüpfen würde – wenn dies nicht schon geschehen war.
Sie schloss die Augen und suchte einen Kontakt.
Seit ein paar Nächten waren ihre Kräfte wieder hergestellt. Sie würde eine kleine Gedankenreise unternehmen, jedoch nicht so eindringlich und ausführlich wie beim letzten Mal, als sie bei Katraana im Elfental gewesen war und anschließend fast von Murgons abscheulichen Dokks zerfleischt worden wäre.
Sie konzentrierte sich auf Katraanas Aura.
Sie suchte.
Und sie fand.
Zuerst nur ein schwacher Laut. Stahl an Stahl. Es roch nach Blut. Ein Schimmel, der etwas – jemanden – tötete. Katraana auf seinem Rücken, ohne Sattel, schnell wie der Wind, während die rote Morgensonne in ihrem Haar glänzte.
Dieses Bild wechselte sich ab mit der brennenden Präsenz eines schwarzen Drachen mit vier Köpfen. Er war noch nicht geschlüpft, doch es würde nicht mehr lange dauern.
Katraana!
Sharkan!
Gwenael musste eine Wahl treffen. Sie war unkonzentriert. Zwei Gedanken, die sich mischten. Das kostete zu viel Kraft. Wo war das Ei? War es versteckt? Stets, wenn sie meinte, es berühren zu können, schlüpfte es durch ihre mentalen Finger. Es gab seinen Standort nicht preis. Ein Hauch von… Gwenael traute es sich kaum zu denken, ein Hauch von Harmonie lag über dem Ei. Wie konnte das sein, wenn darin Sharkan der schwarze Drache wartete? Es war bizarr und Katraana sah sie an.
Und die kleine Barb sah sie an.
Und der Manndämon sah sie an.
Ein Barbkind, das am Strand spielte.
Mit etwas, dass aussah wie ein, wie ein… Ei?
Und Bluma sah sie an und lächelte. Sie verwandelte sich, wurde schmaler, heller, hübscher. Sie wurde zu einem Mädchen, welches in einem hübschen weißen Kleid im Gras spielte und Sonnenblumenblüten legte.
Der Manndämon sah sie an und lächelte strahlend.
Und Dogdan, der Golem, sah sie, dann tobte er weiter im Meer und tötete Riesenfische.
Gwenael streute ihren mentalen Kontakt, der sich fast selbstständig gemacht hatte. Auf einer übergelagerten Vernunftsebene spürte sie, dass sie die Reise mit zu vielen Fragen im Gepäck angetreten hatte. Sie musste sich für einen Kontakt entscheiden.
Doch für welchen?
Das Ei? Das hatte sie versucht, ohne Erfolg.
Nein, sie hatte geplant, Katraana zu finden und sie würde dies ausführen. Sie konzentrierte sich auf das hübsche Gesicht ihrer jungen Freundin und fand sie erneut. Sie stieg von ihrem Schimmel, der, wie Gwenael wusste, Sternläufer hieß und ein wunderbares Pferd war.
Katraana stutzte.
Sie spürte Gwenaels Kontakt. Jeder von ihnen würde diesmal bleiben, wo er war. Eine Reise mit Ortswechsel würde wieder zu einer tagelang andauernden mentalen Schwäche führen. Auch so konnte man kommunizieren.
»Du bist es, Gwenael?«, fragte Katraana und setzte sich auf einen Felsblock. Sie legte ihre Stirn in die Hände und schloss ihre Augen.
Gwenael hatte darauf gewartet und nahm Katraana irgendwo in der Mitte zwischen ihnen, in einem Niemandsland der Zeit, in den Arm. Sie befanden sich in reinem Weiß, nichts gab es hier außer ihnen beiden. Sie machten sich voneinander los. Die Begrüßung war kühl gewesen.
»Warum besuchst du mich, Gwenael?«, fragte Katraana und umrundete Gwenael, als sehe sie sie das erste Mal in ihrem Leben.
»Wohin bist du unterwegs?«
»Ich bin auf dem Weg nach Dandoria. Ich musste ein paar Barbaren erschlagen, die sich mit mir vergnügen wollten.«
»Barbaren? Was machen die im Elfental?«
»Sie waren außerhalb des Tales. Sie suchten etwas – ich weiß nicht, was es war. Und es interessiert mich auch nicht. Nun schweigen sie für immer.«
»Hat dir das Töten Spaß gemacht?«
Katraana blieb stehen. »Nein, hat es nicht.«
»In Ordnung, lassen wir das. Was willst du in Dandoria?«
Katraana lachte hart und sah auf. »Nun hör doch endlich auf, die große Freundin zu spielen. Ich habe dir im Gebetsgarten gesagt, was ich vorhabe. Nun bin ich unterwegs, um den Weg nach Unterwelt zu finden und auch du kannst mich nicht davon zurückhalten. Solituúde geht unter. Ich muss mich Murgon stellen und er sich mir. Seine Rache verwüstet unsere Kultur.«
»Er wird dich mit seiner Magie besiegen.«
»Der Rat traut mir und ich traue mir selbst auch. Ich bin zutiefst davon überzeugt, siegreich zu sein. Ich habe diesen Wunsch ans Universum geschickt und er wird mir gewährt werden. Ich weiß das.«
«Gar nichts weißt du, Katraana!«, sagte Gwenael. »Du hast ja keine Ahnung, was du tust.«
Katraana lachte hart. »Warum diese Spielchen? Dir gelang der Weg nach Unterwelt, auch ich werde ihn finden. Dann begegnen wir uns und du kannst dir deine Kräfte sparen, mich zu dir zu rufen.«
»Du warst ein wunderbares Mädchen und nun sehe ich eine hasserfüllte Elfe vor mir. Wer hat dir diesen Hass eingepflanzt?«
»Ich erinnere mich, dass du es warst, die mich für die Ausbildung als Kriegerin vorgeschlagen hat, als mein Vater mich im Stich ließ, nachdem er meine Mutter tötete.«
»Er hat deine Mutter nicht getötet. Sie legte selbst Hand an sich.«
»Pah – meine Lehrer sagen etwas anderes.«
»Sie sagen die Unwahrheit.«
»Es ist zu spät, Gwenael. Ich muss Murgon finden.«
»Weil man es dir jahrelang eingebläut hat. Du denkst nicht mehr deine eigenen Gedanken.«
Katraana blieb vor Gwenael stehen und funkelte sie an. »Was nimmst du dir eigentlich heraus, große Gwenael? Eine Zeitlang warst du für mich da, oh ja! Und dann? Dann bist du verschwunden, bist deinem Bruder gefolgt. Die größte Geschwisterliebe kann nicht dazu führen, an einem Ort wie Unterwelt zu leben. Also hattest du andere Gründe.« Sie schwieg und ihre Lippen bebten. »Du willst die Macht der Dunkelheit.«
»Und du? Suchst du nicht auch die Macht?«, spuckte Gwenael aus. Um Haaresbreite hätte sie hinzugefügt: Sie ist auch in deinem Blut! Liebe Güte, warum sagte sie es Katraana nicht? Wie würde die Elfe reagieren, wenn sie erfuhr, Murgons Tochter zu sein? Würde sie dann von ihren Plänen ablassen? Letztendlich war das wohl der einzige Weg, um sie von ihrer Tat abzuhalten.
»Melde dich nie wieder bei mir!«, schnappte Katraana und machte zwei, drei Schritte zurück. Ihre Erscheinung wurde durchsichtig.
»Es gibt da etwas, dass du wissen musst«, sagte Gwenael.
»Nichts muss ich wissen. Ich verfüge über alles Wissen, dass ich benötige. Deine Tricks kannst du für dich behalten.«
»Kein Trick, Katraana. Bitte höre mich an!«
»Rufe mich nie wieder. Wir sehen uns in Unterwelt!«
Katraana zog sich aus dem Kontakt zurück und so sehr Gwenael auch versuchte, diesen aufrecht zu erhalten, gelang es ihr nicht. Unversehens stand sie alleine im Weiß, welches Konturen gewann und wieder zu dem Ort wurde, wo sie weilte. Auf der Liege mit ausgestreckten Beinen.
Sie hatte ein Gefühl, als wäre ihre Haut mit Eiskristallen überzogen. Und sie ahnte Grauenvolles!