4. Kapitel
Darius Darken, der Dämonenmann, reinigte die Klinge seines Schwertes an einer weichblättrigen Pflanze, die grauenvoll stank. »Dämonenblut!«, murmelte er. »Man bekommt es kaum ab. Es verkrustet die Klinge, solange wir in Unterwelt sind. In Mythenland angelangt, wird sich das weiße Zeug von selbst auflösen. Bis dahin jedoch muss die Waffe einwandfrei funktionieren.«
Bluma saß neben ihm und musterte den schönen schwarzhaarigen Mann. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, dass Darius, nachdem er sich wieder in einen Menschen verwandelt hatte, unbekleidet war. Seine Kleidungsstücke waren zerrissen und nur wenige Reste verbargen das nötigste. Er hatte einige Fetzen um seinen Unterleib geknotet, wofür Bluma ihm dankbar war.
»Der Golem sah schrecklich aus«, sagte Bluma.
Darius zog einen Mundwinkel hoch. »Und ich nicht?«
Bluma grinste. »In Ordnung, ihr beide habt schrecklich ausgesehen. Jedenfalls solange, bis du dich in Darius Darken verwandelt hast. Als der Golem vor dir stand, kamst du mir vor wie eine Maus, die sich gegen einen Crocker wehrt.«
»Crocker?«
»Wir züchten sie auf Fuure. Sie ernähren uns. Ihre Schulterhöhe ist so hoch wie deine.«
Darius nickte und seine Lippen kräuselten sich. »So, so – wie eine Maus. Eine Maus, die sich zu wehren weiß, nicht wahr?«
»Du kämpfst gut, doch ohne die Drachen hätten wir es vermutlich nicht geschafft.«
Darius begutachtete die Klinge. Sie war einigermaßen sauber. Er warf das Blatt weg. »Was du getan hast, war sehr mutig, kleine Barb. Du hast vermutet, dass die Drachen ein schlechtes Gewissen haben, weil sie dich entführten. Das hast du ausgenutzt.« Seine Augen nagelten sie fest und sein Kinn wurde eckig und hart. »Das hätte auch schief gehen können!«
Bluma zog ihren Kopf zwischen die Schultern. Sie biss ihre Lippen zusammen und nickte.
Darius starrte sie an. Er schwieg.
Bluma wagte nicht, aufzublicken. Dann traute sie sich doch.
Darius’ Gesicht zog sich in die Breite. »Es heißt, man solle nicht mit den Tollkühnen wandern, da sie nur Unglück bringen.«
Bluma blickte verwirrt drein.
Darius blinzelte freundlich. »Ich sehe das anders. Man kann einen Abgrund nicht mit zwei Sprüngen überqueren. Entweder – oder! Und du bist gut gesprungen.«
Bluma lächelte verkrampft. Meinte er das Ernst?
»Wir sind ein gutes Team, kleine Barb!«
Ich bin nicht klein!
»Nenne mich bitte Bluma«, flüsterte sie.
Darius verhielt einen Augenblick, dann sagte er verständnisvoll: »Selbstverständlich. Wer tapfer ist, hat auch ein Anrecht auf seinen Namen ... Bluma!«
Bluma war erstaunt, wie erleichtert sie sich fühlte. Für einen Augenblick hatte sie gedacht, Darius sei böse auf sie.
Das war er auch! Zumindest ein bisschen!
»Was machen wir nun?« wollte sie wissen. »Lord Murgon und seine Schwester werden erfahren haben, dass uns die Flucht vor dem Golem gelungen ist. Sie werden schlimmere Monster hinter uns herschicken und nichts unversucht lassen, uns zu fangen. Vielleicht weiß Murgon, dass ich das Artefakt öffnen kann. Davon verspricht er sich eine Menge.«
»Genauso wie er weiß, dass ich für ihn eine Gefahr darstelle. Ich kann ihm seine Kräfte nehmen. So könnte ich ihn besiegen und vernichten. Es gibt eine Unbekannte, ein Problem. Meine Dämonenverwandlungen dauern nur kurze Zeit und ich habe das Gefühl, dass sich die Zeitspanne von mal zu mal verringert. Wann die Verwandlung beginnt, weiß ich nicht. Es kann jederzeit geschehen. Es ist nicht planbar. Also hätte ich nur eine geringe Chance, gegen ihn zu bestehen. Er muss mich nur für eine Weile hinhalten ...«
»... so lange, bis du wieder zu Darius wirst, stimmts?«
»Ja, so ist es.«
»Also müssen wir aus Unterwelt verschwinden. Du sagtest, es gäbe einen geheimen Weg, der nicht durchs Meerwasser führt.«
»Ja, den gibt es.«
»Worauf warten wir?«
Darius reckte sich. Seine Haut war mit blauen Flecken übersät. Über den Rippen erhoben sich Schwellungen und unter dem rechten Auge klaffte ein Riss. »Ich bin fix und fertig, Bluma. Der Kampf hat mich mitgenommen. Auch Helden verletzen sich und haben Schmerzen. Ich muss meine geschundenen Knochen und Muskeln ausruhen, bevor wir den Übergang nehmen können. Ein paar Stunden Schlaf, und ich bin wieder in Ordnung.«
Bluma, die in ihrem Leben viele Prellungen und Stauchungen gesehen hatte, schob die Unterlippe vor. Bluma wusste genau, dass die richtigen Schmerzen erst kommen würden. Nicht selten verletzten sich Barbs beim Pflücken der Wareiken oder bei anderen Arbeiten.
Darius sagte: »Außerdem benötigen wir Proviant. Wasser und Nahrung. Es wird immer gefährlicher, umso mehr wir uns zeigen. Die Bewohner von Unterwelt könnten uns verraten.«
Bluma runzelte die Stirn. »Warum fürchten sie den Lord? Die meisten sind Dämonen oder verwachsene Ungeheuer, die vielleicht in ihrem weltlichen Dasein böse und grausam waren. Sie gehören hierher.«
»Auch das Dunkle muss eine Ordnung, einen Plan haben. Willkür und unnötige Grausamkeit sind selbst hier nicht willkommen. Auch die Wesen von Unterwelt hassen Unterdrückung.«
Bluma lugte über den Felsvorsprung, hinter dem sie sich versteckt hielten. Platschende Geräusche hallten von den Felsen wider. Unter ihnen erstreckte sich eine Fläche, die von ölig schimmernden und Blasen bildenden Tümpeln durchzogen war, beleuchtet von den ewigen Fackeln der Unterwelt, Feuer, das nie erlosch. Dazwischen wuselten grüne vielbeinige Schleimwesen umher. Hinter gelb schimmernden Stalaktiten hockten pelzige Gestalten, die aus zahnbewehrten Mäulern geiferten.
Sie waren auf der Jagd.
Kleine Pilzansammlungen warfen schmutzige Schatten. Sie pulsierten und irisierten wie Gallert. Einer der größten Pilze platzte auseinander und kleine Schleimwesen drängten und schoben sich leise quiekend in das Licht, geboren aus Schimmel und Ausfluss.
Ansiedlungen gab es hier keine, der schwefelige Gestank schien sogar die Bewohner von Unterwelt zu stören, vielleicht auch die Gewalt, die dieser Ort ausstrahlte.
Bluma fuhr zurück, als eines der Pilzwesen mit einem weiten Sprung neben der dämonischen Geburt landete und mit krallenbewehrten Klauen auf die jungen Wuselwesen einschlug, sodass weißer Schleim in alle Richtungen spritzte. Nur wenige konnten sich in die schwarzen Öllachen retten. Sie versanken und ließen sich nicht mehr blicken. Das Pilzwesen grollte und sein Laut klang wie eine Mischung aus Sturmwind und Weinen. Nun verschwanden auch die größeren Mehrbeiner in den Tümpeln.
»Lass uns von hier verschwinden ...«, flüsterte Darius. »Hier können wir nicht bleiben. Noch haben sie uns nicht gewittert. Falls doch, fühle ich mich für einen neuerlichen Kampf zu schwach.«
Gebückt schlich er eine Steigung hinab, Bluma hielt sich eng bei ihm. Über ihnen funkelte blaulichternde Feuchtigkeit, die an den Spitzen winziger Finger haftete, unzählige fleischige Auswüchse, die wie Seepflanzen erst in eine, dann in die andere Richtung wiesen. Zuckende Wellen durchliefen den schrecklichen Himmel, als ströme Wasser hindurch und spüle das Böse an die Oberfläche oder Wind, der hängende Halme bog, die sich als Lebewesen mit winzigen Augen und schlabbernden Mäulern erwiesen.
Bluma fröstelte es und sie atmete schwerer, als die Felsendecke niedriger wurde und die Finger und pulsierenden Mäuler ihr näher kamen. Darius griff hinter sich und umfasste Blumas Hand. Er schlug sich nach rechts und sprang in eine trockene Furt, deren Ufer mit schleimigem Schmier überzogen war.
»Wohin flüchten wir?«, wisperte die Barb.
»Keine Fragen, folge mir einfach.«
Bluma biss sich auf die Lippen und hielt den Mund. Darius wirkte plötzlich besorgt, was ihre Beklemmungen nicht verringerte.
Aus den engen Wänden schossen winzige Blitze und Bluma blickte unversehens in flache Gesichter, hohle Masken mit aufgerissenen Augen und Mündern. Sie erschienen und verschwanden, huschten über den Fels wie Irrlichter, wisperten und hoben spinnenartige Finger, mit denen sie nach den Flüchtenden griffen, ohne sie zu berühren.
Sie sehen traurig aus!, dachte Bluma erschüttert. Sie sehen aus, als wenn sie sich gegen ihr Schicksal wehren!
Hatten sie es mit den Seelen Verstorbener zu tun, die gegen Unterwelt aufbegehrten?
»Das sind die Verlorenen, Bluma«, sagte Darius. »Dämonen, die unnütz geworden sind, die auf alle Ewigkeiten in den Fels verbannt wurden.«
»So etwas habe ich schon einmal gesehen, als die Drachen mich durch den Strudel ins Meer zogen.«
»Ich weiß«, gab Darius zurück.
»Heißt das, wir sind in der Nähe des geheimen Übergangs?« Blumas Herz schlug schneller.
»Ja.«
»Und wo willst du dich ausruhen? Woher bekommen wir Proviant?« Sie hatte erbärmlichen Hunger und brennenden Durst.
Darius schwieg.
»Wie lange dauert es, bis wir Unterwelt hinter uns lassen?«
Darius gab keine Antwort. Stattdessen warf er sich zu Boden und riss Bluma mit sich. Sie fiel auf die Brust und kroch zu Darius hin, presste sich an den Mann und hoffte, ihr Herzschlag bringe sie nicht um. Die Furt endete unversehens.
»Was ist?«, wisperte sie.
»Pssst.«
Darius atmete flach und langsam und Bluma passte sich ihm an.
Dann begriff sie, warum der Dämonenmann so vorsichtig war. Vor ihnen öffnete sich eine Höhle, die voller Behausungen war. Wesen aller Arten krochen, schlichen oder staksten herum, manche von ihnen rempelten sich an. Einige Stimmen waren laut, andere leise, manch einer flüsterte, einzelne weinten.
»Der letzte Hort der Verlorenen«, wisperte Darius. »Von hier aus müssen sie in die Verbannung gehen.«
»Wer entscheidet das?«, wisperte Bluma zurück.
»Das Schicksal.«
»Ich glaube nicht an Schicksal.«
»Lass es vorerst gut sein, kleine Barb. Darüber können wir später sprechen.« Darius klang etwas genervt und hatte sie nicht bei ihrem Namen genannt. Vermutlich war dies der falsche Augenblick, um Fragen zu stellen oder eine Diskussion über das Schicksal zu führen.
Und warum, fragte sie sich, war Darius so vorsichtig? Das wenige, was sie sehen konnte, wirkte harmloser, als vieles, was ihnen bisher begegnet war. Die seltsamen Gestalten machten einen gekrümmten Eindruck, wirkten verloren, zwar zornig und voller Furcht, jedoch auch hilflos. Dafür sprachen die vielen Tränen, die vergossen wurden, wie Bluma unschwer vernahm. Sie bekam Mitleid und wäre am liebsten aufgesprungen, um die Kreaturen zu trösten, um ihnen zu sagen, sie mögen sich bitte vorsehen und Rücksicht auf die Schwächeren nehmen, in die blinden Augen schauend, mit ruhigen Worten Hilfe leistend.
»Ich weiß, was du denkst«, flüsterte Darius. »Spürst du, dass du weinst?«
Bluma blinzelte. Tatsächlich. Tränen standen in ihren Augen. Sie trocknete sie mit dem Handrücken ab.
Darius flüsterte: »Du siehst das, was du sehen sollst. So, wie die da unten sich selbst gewahr sind. Das sind Trugbilder. Du nimmst ihr Selbstmitleid war, das sie nicht verdient haben. Du empfindest ihre Schwäche und ihre Trauer, obwohl sie keinen Grund zur Trauer haben.«
»Ich sehe also mit den Augen des Betrachters?«
»Wie bitte?«
»So, wie man eine Person schön findet, obwohl sie für andere nicht schön ist?«
Darius brummelte. »So ungefähr.«
»Und was würden andere sehen? Was siehst du?«
»Ich sehe das Grauen. Das pure Grauen!«
Nein, das Grauen nahm Bluma nicht wahr. Jedoch sie sah etwas anderes. Zuerst traute sie ihren Augen nicht und hätte um Haaresbreite einen Ruf ausgestoßen. Sie keuchte und unterdrückte den Laut. Darius’ Kopf wirbelte herum. Seine Miene wirkte gespannt und von Angst gezeichnet.
Existierte so etwas wie Realität? Oder war das, was hier vor ihnen geschah, das Ergebnis der individuellen Wahrheit?
Bluma schob sich nochmals etwas nach vorne und blinzelte in die Höhle hinein.
Tatsächlich! Sie hatte sich nicht geirrt.
Handelte es sich um ein Spukbild?
Sah Darius dasselbe?
An den Wänden Behausungen, umher irrende Kreaturen, es mussten hunderte sein, und in der Mitte, auf dem Trockenen, ein großes Ding mit zerfetzten Segeln an zwei Masten.
Ein schwarzes Schiff!
Darius zitterte und bebte.
Bluma drückte sich an ihn. Er tat ihr Leid. Was er wahrnahm, musste grauenvoll sein. Offensichtlich wollte er nicht darüber reden.
»Was sollen wir tun?«, fragte Bluma leise.
Darius keuchte. »Wir – wir – müssen aufstehen. Wir – müssen da durch. Wir müssen zum Schiff. Von dort aus – von dort aus geht es – geht es weiter.«
»Einfach so zum Schiff?« fragte sie überflüssigerweise nach.
Er nickte hart. Kalter Schweiß lag wie eine zweite Haut auf seinem entblößten Oberkörper. »Ja« Seine Stimme war rau. »Egal, was wir erleben, wie uns dabei ist... wir müssen uns den Bildern stellen.«
»Also ist alles nur ein Zerrbild unserer Phantasie?«, fragte Bluma.
»Sie werden – sie werden uns vermutlich nichts antun.«
»Wer?« Vielleicht sagte er jetzt, was er sah.
»Die Scheusale, die Monster, die Seelenverschlinger und Gedankenesser.«
Meinte er tatsächlich diese hilflos wirkenden Gestalten?
»Wir sehen unterschiedliche Dinge, Darius.«
»Genau das ist das Problem. Was dort tatsächlich ist, wissen wir nicht. Wir nehmen die Schwingungen dessen wahr, was sich dort befindet, es spiegelt unsere eigenen Vorstellungen.« Seine Stimme gewann Sicherheit.
»Und das Schiff? Ist das Schiff real?«
Er bejahte.
»Also müssen wir uns unseren innersten Ängsten stellen?«
»Nur dann, wenn man Angst empfindet.«
Tatsächlich hatte Bluma keine Furcht, wenigstens nicht viel. In ihr wuchs das Bedürfnis, den armseligen Kreaturen zu helfen, ein Drang, dem sie kaum wiederstehen konnte. »Sie brauchen uns«, flüsterte sie. »Ohne uns können sie nicht entkommen.«
Darius lachte hart. Seine Mundwinkel verzerrten sich zynisch. »Wohin sollen sie entkommen? Bei den Göttern, wenn diese Kreaturen entfliehen, wird Mythenland nach wenigen Tagen ein Teil von Unterwelt sein.«
Bluma beschloss, zu schweigen. Ihre Wahrnehmungen harmonierten nicht. Zwei Wesen, zwei Wahrheiten. Lag die Wirklichkeit irgendwo dazwischen? Oder war sie schlimmer, als Darius vermutete?
»Warst du schon mal hier?«, fragte Bluma.
»Ja ... doch ich wagte mich nicht zum Schiff.«
»Warum jetzt?«
Darius knirschte mit den Zähnen. Mit glühenden Augen musterte er Bluma, als sehe er sie zum ersten Mal. »Ich bin es dir schuldig, meine kleine Freundin.«
Blumas Herz machte einen Sprung. Er denkt, ich sei seine Tochter. Er hat Schuldgefühle und will nicht, dass sich die Geschichte wiederholt! Sie war kein Kind, sie war ein Weib! Somit musste sie akzeptieren, wie wichtig sie für ihn war. Sie gab ihm Kraft, die er ohne sie nicht hatte. Sie übertrug ihm, ohne es zu wollen, Verantwortung, die er vermutlich ohne sie nicht getragen hätte.
Er braucht mich! Der schwarze Dämon braucht mich!
Sie zitterte, als ihr die Schwere ihrer Verantwortung bewusst wurde. Sie seufzte und erhob sich. Darius blickte wie ein kleiner Junge verzweifelt zu ihr hoch. Sie reichte ihm ihre Hand. »Komm.«
Er zog seine Brauen zu einem düsteren Blick zusammen und rappelte sich auf, ein Körper voller blauer Flecken und Beulen. Der Riss unter seinem Auge war verkrustet, die schwarzen welligen Haare fielen ihm in Strähnen über die Stirn. Sein muskulöser Oberkörper glänzte schweißig. Er bückte sich und nahm das Schwert auf. Fackellicht reflektierte auf der Schneide. Er betrachtete es und knurrte. »Sollen sie kommen ...«
»Sei tapfer, Darius.« Bluma zog ihn hinter sich her.
Sie schritten den Abhang hinunter. Steinchen rollten hinter ihnen her.
Sofort hörten die Kreaturen auf, sich zu bewegen. Alle Augen fuhren zu ihnen herum.
Darius keuchte. Sein Schwert drohte.
Bluma ließ ihn nicht los. Vielleicht war es angemessen, auf den Boden zu schauen. So würde sie ihren Blick von den Kreaturen abwenden und ihre Phantasie hatte keine Möglichkeit, weitere Sprünge zu machen. Andererseits ...
ICH WILL EUCH HELFEN!
Beinahe hätte sie geschrieen, derart überwältigend wurde das Bedürfnis. Sie durfte nicht einfach so zum Schiff gehen. Sie hatte Verantwortung übernommen. Nicht nur für Darius, sondern auch für diese armseligen Wesen, die der Tod der Untoten erwartete. Sie spürte, wie ihre Willenskraft zu erlahmen drohte, setzte Fuß vor Fuß, ihre kleinen Finger um Darius’ Hand gekrallt. Sie würde sich nicht von ihren Ideen überwältigen lassen. Doch war das richtig? Gehörten Ideen und Visionen nicht zum schönsten und besten, was man empfinden konnte?
»Geh weiter«, stieß Darius hervor. »Nicht stehen bleiben.«
Bluma grunzte und spuckte aus. Ihr Mund war trocken, in ihrer Kehle brannte es wie Feuer. Es stank nach Verderben.
Sie spürte die schiere Präsenz der Wesen, die sich immer noch nicht regten. Manche standen so nahe beieinander, dass sie die Barb fast berührte.
Sie schlängelten sich zwischen den Kreaturen hindurch. Das Schiff kam näher. Weinte dort jemand? Ja, es war dieselbe Stimme, die seit Gedenken weinte, seit Ewigkeiten. Bluma wusste, dass nur sie die Tränen trocknen konnte, denn sie war ein Engel. Sie war jene Ausgesuchte, Erwählte, jene Mutter der Ausgestoßenen, auf die Unterwelt gewartet hatte. Sie alle waren ihre Kinder.
»Liebe Güte – ich halte das nicht mehr aus«, krächzte Darius. »Gleich werden sie mich in Stücke reißen. Sie dringen in meine Seele ein und fressen mich Stück für Stück. Dann werde ich einer von ihnen, auf der ewigen Suche nach der Ödnis. Eine Kreatur der Düsternis.«
»Nein, Darius. Nichts davon wird geschehen! Sie brauchen Hilfe.«
»Sie brauchen keine Hilfe!«
»DOCH!« Bluma blieb stehen und wirbelte herum. Darius reckte ihr das Schwert entgegen, als wolle er sie entzwei schneiden. »Die einzige Kreatur, vor der man sich hier fürchten musst, bist du!«, schrie sie.
Einige der Wesen fingen an, sich zu bewegen. Sie schlurften und hinkten von ihnen weg. Ihre zirpenden, säuselnden, huschenden Gedanken waren wie Finger, die Bluma berührten, sanfte Streiche über ihre Haut.
»Geh!« schrie Darius. Sein Gesicht war hart wie Stein, seine Augen blitzten vor Wut.
»Ich helfe ihnen. Das ist meine Pflicht!«, schnappte sie. »Wir Barbs sind ein friedliebendes Volk. Wir taten niemandem etwas zuleide, bis die verfluchten Drachen kamen. Bis sie unser Dorf vernichteten und unsere Leute töteten. Alles nur, alles nur, weil dieser Lord Murgon diesen Ort beherrschen will. Alles nur, alles nur ....«
Tränen brachen aus ihr hervor. Sie heulte und zitterte am ganzen Körper. Darius griff sie, zog sie an sich und sie hörte seinen Herzschlag. Sie roch seinen Schweiß. Sie atmete seine Furcht und ihr Jammern endete in tiefem Schluchzen.
Leise sagte er und sie spürte die Kraft, die er dafür freisetzte: »Nichts wird geschehen. Lass uns weitergehen. Das Schiff. Wir müssen zum Schiff.«
Er drehte sie um und schob sie vor sich her. »Weg!« brüllte er hinter ihr und fuchtelte mit dem Schwert umher. »Geht von uns weg! Ihr werdet uns niemals erwischen!«
Bluma zögerte, doch Darius’ Hand traf sie genau zwischen den Schulterblättern. Sie stolperte weiter. Sie hörte, wie das Schwert durch die Luft schnitt. Wusch! Und noch einmal. Wusch! Offenbar wurde keine der Kreaturen davon getroffen, jedenfalls keine in Blumas Wahrnehmung.
Vor ihr ragte schwarzes Holz auf.
Das Schiff. Wie in einem Traum. Ein Segelschiff mit zwei Masten in einer Höhle auf trockenem Felsboden. Sie gönnte sich keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Die Strickleiter«, keuchte Darius.
Bluma sah sich um. Er stand vor ihr und sah aus, als habe er den Kampf seines Lebens hinter sich. Auf seinen Armen spross Gänsehaut, seine Augen flimmerten. Hinter ihm bewegten sich die Kreaturen, als sei nichts geschehen. Sie gingen einfach ihren Tätigkeiten nach, als wären Bluma und Darius nicht mehr als ein fremdartiger Wind gewesen, der durch die Höhle geweht hatte.
Bluma stellte einen Fuß auf die Strickleiter und fing an zu klettern. Das war schwieriger, als sie gedacht hatte. Immer wieder wollten ihre Beine in eine andere Richtung. »Mach weiter, ich halte die Leiter fest«, sagte Darius, wirbelte herum, schwang sein Schwert und kehrte zu ihr zurück. Er hielt die Strickleiter stramm und Bluma kletterte hoch über die Reling.
Darius folgte ihr, das Schwert in seine zusammengeknoteten Stofffetzen gesteckt. Als Bluma Holzplanken unter ihren Füßen spürte, ging es ihr besser und das Gefühl, als Engel der gefallenen Dämonen tätig zu werden, verließ sie. Auch Darius wirkte nun ruhiger. Er grinste verlegen und zerzauste ihre Haare. »Wie ich sagte – wir sind ein gutes Team!«
Erneut blickten sie über die Höhle, dann winkte Darius die Barb hinter sich her und sie kletterten Stufen hinab.
Es roch nach trockenem Holz, heimelig und warm. Darius stieß eine Tür auf. Sie betraten eine Kajüte, die erstaunlich wohnlich eingerichtet war. »Die Kajüte des Kapitäns!«, sagte Darius und ließ sich auf ein löcheriges Sofa fallen. »Jetzt müssen wir nur etwas zu essen und trinken finden.«
»Wie kommst du darauf, dass es so etwas auf diesem alten Schiff gibt?«
Darius zuckte die Achseln. »Ich weiß es.«
Gemeinsam machten sie sich auf die Suche und fanden Proviant im Überfluss. Bluma mochte kaum glauben, dass alles frisch und essbar war. Wie konnte das sein? Bei den Göttern, es gab so viele Fragen, die auf eine Antwort warteten. Nur mühsam zügelte sie ihre Wissbegierde. Belebende Speisen, ein Fass mit kristallklarem kaltem Quellwasser, eine intakte Feuerstelle, Holz, Kohlen und Blinksteine. Als hätte das Schiff auf sie gewartet.
Wieder einmal schien Darius ihre Gedanken gelesen zu haben. Er setzte den Wasserbecher ab und strahlte. »Es hat auf uns gewartet. Es wartet auf jeden, der diesen Weg geht. Das ist Magie. Eine winzige Insel weißer Magie auf einem schwarzen Schiff. Durch irgendeinen Umstand abgeschottet vor den Unbilden Unterwelts. Zuerst war dieses Schiff nur ein Gerücht, später ein Mythos, dann kamen einige, die sagten, sie hätten es gesehen. Leider verfielen sie alle in Krämpfe und dem Irrsinn. Dennoch gab es einige, die das glaubten.«
»Du auch.«
»Ja, ich glaubte den Mutigen, die sich Schwarze Reisende nennen. Menschen, die es wagten, nach Unterwelt zu gehen. Fast allen gelang die Rückkehr – um kurze Zeit darauf am Wahnsinn zu sterben.«
Bluma trank langsam, denn sie erinnerte sich, dass Lehrer Biggert sie gelehrt hatte, nach einer Durststrecke langsam und wenig zu trinken, um sich Magenkrämpfe und Durchfall zu ersparen. Sich daran zu halten war schwierig, denn ihre Kehle lechzte nach Flüssigkeit. Sie folgte ihrem Bedürfnis. Besser Magenschmerzen als Durst. Sie leerte einen Becher nach dem anderen und rülpste herzhaft.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie.
»Wir essen, danach legen wir uns hin und schlafen. Später, wenn wir erfrischt sind, werden wir weitersehen.«
»Weiß Murgon von diesem Schiff?«
»Nein! Sicher nicht!«
»Warum nicht, wenn er so mächtig ist?«
Darius grinste. »Vielleicht ist er nicht so mächtig, wie er glaubt. Er wäre nicht der erste Herrscher, der seine Macht überschätzt.«
»Und seine Schwester – Gwenael, hat sie auch keine Ahnung?«
»Über sie weiß ich nicht viel. Allerdings glaube ich kaum, dass wir hier wären, wenn sie etwas davon wüsste.«
Bluma nickte und verdrehte die Augen. Sie schlug sich mit der Handfläche vor die Stirn. »Das war eine dumme Frage. Ich glaube, ich bin ziemlich müde.«
Darius, der aufgekratzt wirkte, sagte: »Ich zaubere was auf die Teller, dann suche ich ordentliche Bekleidung, danach machen wir es uns gemütlich und ich erzähle dir, wie meine Geschichte in Dandoria ausging.«
Darius Darken wusste nicht mehr genau, wie viel Zeit vergangen war, seitdem man ihn gefangen nahm und des Mordes an seiner Tochter Riousa anklagte. Er fand sich in einem Kerker wieder, der stank und feucht war. Er lag auf verfaultem Stroh und starrte zu dem kleinen Guckloch hoch, durch den wenige Sonnenstrahlen fielen.
Elvira hatte dafür gesorgt, dass ihm keine Gelegenheit zur Flucht blieb, da sie ihn für den Mörder hielt und seinen Beteuerungen und Erklärungen keinen Glauben schenkte.
Darius wusste, wie schwer es seinem Weib fallen musste, anzunehmen, ihr Mann habe sich in einen Dämon verwandelt und anschließend die kleine Tochter vor dem ertrinken retten wollen, wobei sie versehentlich getötet wurde.
»Selbstverständlich hast du dich in einen Dämon verwandelt!«, kreischte sie mit tränennassem Gesicht. »Nur ein Dämon kann ein so süßes Kind umbringen!« Das meinte sie metaphorisch. Sosehr er sie von der Wahrheit überzeugen wollte, sie glaubte ihm kein Wort.
»Bitte, liebste Elvira. Wir sind so lange zusammen…«
»Ich habe mich in dir getäuscht!«
»Nein, das hast du nicht. Was geschah, hat etwas mit Magie zu tun!«
»Dann bist du ein Dämon, jemand, der dafür bezahlen muss!«
»Ja, es übermannte mich …« Eine dämliche Antwort, wie Darius erkannte.
»So ist das immer bei euch Kerlen. Es übermannt euch. Deshalb meint ihr, von jeder Strafe frei zu sein?«
»So habe ich das nicht gemeint«, jammerte Darius, der zwischen Zorn und Trauer schwankte.
»Wie hast du es dann gemeint? Du bist ein Mörder! Nur das zählt.«
»Nicht ich bin der Mörder, sondern …«
»Lass mich in Ruhe mit deinen Entschuldigungen. Du hast uns das Liebste genommen.«
»Nicht bewusst! Ich wollte sie retten, doch sie war so – klein!«
»Willst du mich mit deinen Anwaltsphrasen einlullen? Mit deinen klugen Einwürfen und Argumenten?«
Er schüttelte ganz langsam den Kopf und sah sie intensiv an. »Damit habe ich dein Leben gerettet«, flüsterte er.
Sie lachte geringschätzig, während Tränen über ihre Wangen liefen.
Verzweifelt ließ sich Darius abführen. Er hatte keine Kraft, um sich zu wehren. Sein letzter Blick fiel auf seine tote Tochter und Düsternis nahm von ihm Besitz.
War er schuld an dem, was geschehen war? Hatte Elvira recht und er war tatsächlich ein Mörder? Oder trug jenes Wesen die Verantwortung, in das er sich verwandelt hatte? War es ein Teil von ihm? Und wie war es zu dieser Verwandlung gekommen? Angenommen, er sei tatsächlich zu einem Dämon geworden, durfte das so nicht sein. Ein Dämon entwickelte sich aus einer toten Seele. Aus einer düsteren, bösen, schwarzen Seele. Jedoch er, Darius Darken, angesehener Anwalt von Dandoria, lebte und war gesund. Bosheit und Missgunst lagen ihm fern. Das alles passte nicht zueinander und gab ihm so viel zu denken, dass er am liebsten geschrieben hätte, um seine Gedanken zu reinigen.
Also schrie er verzweifelt, konnte nicht aufhören, es brachen Wut, Zorn, Selbstmitleid und unendliche Trauer aus ihm hervor, bis man ihm einen dreckigen Knebel in den Mund stopfte.
Wenig später kauerte er in einer schmutzigen Kerkerzelle und die hasserfüllten Rufe seines Weibes echoten in seinem Kopf. Er sei verrückt geworden. Er sei ein Hexer! Das sagte ausgerechnet Elvira, die er vor dem Scheiterhaufen bewahrt hatte, nachdem man sie der Hexerei angeklagt hatte. Wäre es nicht so traurig gewesen, hätte er alles für einen üblen Scherz gehalten.
Er verharrte in seinem Kerker, während sein Bart und seine Fingernägel wuchsen. Er ernährte sich von spinnenartigem Kleingetier und von dem, was man ihm regelmäßig durch die Klappe schob. Maisgrütze, die sauer schmeckte und ein Topf Quellwasser, das stank. Er wartete, doch nichts geschah.
Er vermutete, dass Inquister Balger sich einen Spaß daraus machen würde, einen großen Prozess zu veranstalten. Schließlich hatte er es mit seinem Erzfeind zu tun. Darius fragte sich, warum er sich nicht jetzt in den Dämon verwandelte? Nun wäre die richtige Gelegenheit. Er würde die Mauern niederbrennen und fliehen.
Nein, Balger würde keine Möglichkeit für einen Schauprozess haben, denn Darius hatte gestanden. Dass entzog dem fetten Mann jede Möglichkeit, Darius bloßzustellen. Was war, wenn er auf unschuldig plädierte? Wenn er versuchte, das Geschehene zu erklären? Damit gab er zu, ein Dämon zu sein. Selbst wenn man ihm glaubte, würde er hingerichtet werden. So oder so – es gab keinen Ausweg!
Eventuell würde man ihn der Folter unterziehen, um näheres über seine Verbindung nach Unterwelt zu erfahren. Er würde keine Antwort geben können.
Eines Tages war es soweit.
Wie erwartet, holte man ihn ab. Er wurde auf eine Streckbank gefesselt. Sofort erkannte er, dass seine Folterknechte genau jene Männer waren, gegen die er in der Vergangenheit vor Gericht angetreten war. Er wusste: Sie würden ihn leiden lassen!
»Warum glaubt ihr mir?«, fragte er. »Mein Weib glaubt mir kein Wort von dem, was ich sagte.«
Die beiden Folterknechte grinsten und zeigten spitz zugefeilte Zähne. Dabei kicherten sie.
Sie glauben mir genauso wenig! erkannte Darius. Sie nehmen die Situation zum Anlass, um sich an mir, der ihnen so manche mutmaßliche Hexe aus der Folterkammer entführte, zu rächen!
Wie Darius wusste, lagen die letzten Dämonenüberfälle ungefähr vierzig Jahre zurück. Diese Männer hatten zu jener Zeit noch nicht gelebt. Viele taten zwischenzeitig Dämonengeschichten als Unfug ab, glaubten andererseits jedoch an Hexerei. Da sah man, wie unlogisch Menschen dachten und handelten.
Unsinn, wusste Darius. Hexenglaube war nichts anderes als eine versteckte Machtausübung gegenüber Frauen. Außerdem ernährte es eine ganze Menge Leute. Richter, Folterer, den Inquister, Anwälte und Henker. Jede Hinrichtung kam einem Volksfest gleich und lenkte die Bürger von Dandoria von ihrem harten Leben ab. Nichts unterhielt so gut wie eine gewissenhafte Exekution.
Die Folterknechte begannen sehr langsam.
Zuerst schmerzte es nicht.
Darius wunderte sich, wie oft sie an dem Rad drehten, ohne dass er etwas spürte. Sie stellten ihm keine Fragen. Geschah dies im Namen des Inquisters? Darius kannte den Ankläger gut. Es handelte sich um einen fetten Kerl, der vor lauter Gicht kaum laufen konnte. Seine Schmerzen äußerten sich in Grausamkeit, während seine hedonistischen Lippen von Rotwein umspült waren. Um nichts in der Welt würde Inquister Balger sich diesen Spaß nehmen lassen, denn er hasste Darius mehr als alles andere in Mythenland.
»Wer hat euch beauftragt?«, zischte Darius.
Die Knechte sagten nichts. Ihre Körper dünsteten nach Schnaps.
»Ich will wissen, warum ihr mich foltert? Ihr stellt mir keine Fragen! Warum also?«
Der eine der beiden, ein hagerer Kerl mit tiefliegenden Augen und roter Körperbemalung fuhr zu Darius herum. Er beugte sich über ihn und sein schlechter Atem quälte Darius mehr als die Streckbank. »Inquister Balger ließ uns züchtigen. Er bestrafte uns, weil wir dir vor Gericht nicht gewachsen waren.«
»Balger hat seine eigenen Interessen vertreten. Ich habe nicht gegen euch gewonnen, sondern gegen ihn. Wenn er euch bestrafte, war das ungerecht. Sagt man nicht, er sei ein sehr sachlicher Mann?«, sagte Darius. »Ihr seid nur seine Erfüllungsgehilfen und habt nichts damit zu tun, wie ein Hexenverfahren vom Richter entschieden wird.«
»Na und? Er bestraft uns trotzdem!«
»Wo ist Balger jetzt? Warum ist er nicht zugegen?«
»Inquister Balger ist ein erbarmungsloser Mann, dennoch hat er nie eine penible Aussprache angeordnet, wenn er nicht von der Richtigkeit überzeugt war. In deinem Fall sieht er keine Veranlassung. Er weiß, dass du ein Kindesmörder bist. Er freut sich vermutlich, dass du ihm nun aus dem Weg bist, doch er hat viele andere Dinge, um die er sich kümmern muss. Ein Kindesmord fällt nicht in sein Ressort. Du hast gestanden und wirst morgen aufgehängt. So einfach ist das ...«
»... und um dich mal etwas an den Strick zu gewöhnen, ziehen wir dir dein Hälschen heute etwas länger«, sabberte der zweite Knecht, der kompakt gebaut und überaus haarig war. Sein Atem stank wie eine lausige Schänke.
»Wie wollt ihr morgen meine Verletzungen erklären? Wie soll ich aufrecht auf dem Karren stehen, wenn ihr mir meine Gelenke auseinander zieht?«
Die Folterknechte richteten sich auf und glotzten sich an.
»Was wird Inquister Balger dann mit euch anstellen? Er wird nicht wollen, dass ein Delinquent ohne Grund gefoltert wurde.«
»Bei dir macht er sicherlich eine Ausnahme.«
»Und falls nicht? Habt ihr darüber nachgedacht?«
Hatten sie nicht, diese betrunkenen Narren!
Der Haarige griff das Rad und drehte wütend. Schweiß lief über seine schmutzige Stirn und hinterließ graue Pfade. »Das ist mir egal!«
Sein Partner hielt ihm den haarigen Arm fest, eine beruhigende Geste. »Er hat Recht, Duggu. Weitere zwei Umdrehungen und seine Gelenke reißen aus den Kapseln. Er wird sich tagelang nicht bewegen können. Wie soll er so zum Galgen kommen? Man wird ihn fragen, was geschehen ist.«
Duggu blickte auf, sein gebeugter Oberkörper gab ihm die Anmutung eines verwachsenen Gnom. »Dann sollen sie mich gleich danach aufhängen. Vorher werde ich diesem schönen Mann«, er spuckte aus. »... den Körper ein bisschen zurecht rücken.«
»Wir haben nicht nachgedacht, Duggu!«
»Doch, ich weiß genau, was ich tue. Ich mochte ihn nie. Hast du die Augen der Weiber gesehen, wenn er sich im Gerichtssaal zeigte? Wenn er mit spitzen Fingern seine Locken zurückstreift, damit sie ihm nicht ins Gesicht fallen? Die Weiber seufzen.«
»Du hast Recht, trotzdem haben wir nicht nachgedacht. Inquister Balger wird uns zur Rechenschaft ziehen. Vielleicht hätten wir weniger saufen und mehr überlegen sollen.«
So ging es hin und her, während Darius in Gedanken Wetten abschloss, wie sich die Situation entwickeln würde. War die Dämonenverwandlung eine einmalige Sache gewesen, oder würde sie erneut geschehen? Warum nicht jetzt? Er würde den Folterknechten die Köpfe abbeißen!
Darius staunte über die Düsterheit, die sich seiner bemächtigte. Obwohl in Menschengestalt, dachte und fühlte er wie ein Dämon. Er schloss die Augen und wünschte sich, er würde in schwarzlodernder Gestalt erscheinen, wenn er sie wieder öffnete. Das geschah nicht. Deshalb musste er miterleben, wie das Rad einmal gedreht wurde und ihn der Schmerz ansprang wie ein wildes Tier.
Seine Muskeln schrieen auf, seine Gelenke hoben sich aus den Pfannen und verweilten in Lauerstellung. Eine weitere Umdrehung und sie würden ausrenken. Seine Sehnen waren zum reißen gespannt und sein Körper loderte, als hätte man ihn in Flammen gesetzt. Er glomm ohne Feuer!
Ohne es zu wollen, öffnete sich sein Mund und ein grausamer Schrei kam aus seiner Kehle. Es schmerzte, als würden sich seine Haarspitzen entzünden. Weit hinten hörte er den haarigen Duggu lachen, wohingegen sein Partner immer noch versuchte, seine unbedachte Haut zu retten. Sie stritten, was Duggu offensichtlich immer zorniger und durchsetzungswilliger machte.
Darius wurde ohnmächtig.
Es war nicht der Schmerz, der seine gnädige wärmende Decke über ihn legte, erkannte er, bevor es vor seinen Augen dunkel wurde.
Er träumte.
Seine großen Füße stapften über Fels. Sein schwarzlederiger Körper pulsierte und formte sich in Details um, ohne die Grundgestalt zu verlieren, die Körperlichkeit des Dämons.
Darius der Dämon, atmete tief ein und eisiger Wind drang in den Blasebalg seiner Lunge. Er stand auf einer Felskante und blickte in ein Tal hinunter. Steinriesen gingen ihrer Tätigkeit nach, haushohe Kinder tollten umher. Einige der Riesen, die sich bequem in den Fels gelehnt hatten, waren zu Stein geworden und Pflanzenbewuchs zierte ihre Hüften. Der Dämon wusste, dass sie Jahrhunderte dort ruhten, bevor ihr Schlaf vorüber war. Erneut atmete er ein und aus, was eisigwarme Wolken vor seine Schnauze legte. Schnee fiel und eine Stille lag über der Landschaft, wie er sie nie erlebt hatte. Schweigen und Frieden.
Der Dämon setzte seinen Weg fort, denn er wollte die Riesen nicht stören. Er wanderte durch vereiste Flüsse und durch schwarze Wälder.
Er genoss die Winterbrise und legte den kantigen Schädel in den Nacken. Als Schneeflocken seine Lippen netzten, grunzte er behaglich. Er wusste nicht, wo er war, er wusste nicht, wie er hier hin gekommen war, eigentlich wusste er nur, dass die Gegenwart ihm ein Geschenk gemacht hatte. War es so wie beim erstenmal? Sah er die Zukunft, die Vergangenheit und die Gegenwart gleichzeitig? Nein, so kam es ihm nicht vor.
Er erinnerte sich an ein kleines Mädchen und daran, wie sehr er versucht hatte, sie vor dem ertrinken zu retten. Nur ein Bild, eine Momentaufnahme, die rasch verging.
Er atmete den Duft der Nadelbäume, den Duft des Schnees und den Wind, der über das Tal in die Berge zog. Hier fühlte er sich wohl, hier wollte er bleiben, wenn es sein musste wollte er sich an einen Fels lehnen und schlafen. Schlafen wie ein Riese, Jahrhunderte lang. Wenn er erwachte, würde sich Mythenland verändert haben, doch die Natur wäre geblieben wie sie war. Verlässlich und stabil.
Er trommelte auf seine Brust, aus seinen Augen schossen rote Strahlen, die den Schnee zum schmelzen brachten und aus seinem Maul quälte sich ein donnernder Schrei ...
Und Darius erwachte schreiend.
Bevor er erneut in Träume fiel.
War es die Folter, die ihn dazu brachte? Was geschah mit ihm?
Er sprang durch Traumbilder wie ein gehetztes Kaninchen über Hügel und Büsche.
Er war gleichzeitig in der Zukunft und in der Vergangenheit. Er schnellte durch die Zeit wie ein Blitz, sah, registrierte kaum und huschte wieder woanders hin. Nirgendwo konnte er sich festhalten, Ruhe finden. Er sah seine Tochter und Elvira als alte Frauen, erblickte Fabelwesen, die an Fels gekettet waren, sah einen dunkelhäutigen Elf über Schlachtfelder schreiten, die Füße bis zu den Knöcheln in Blut.
Er blickte durch die Augen einer Katze, die ihr Opfer im Blick hat und schmeckte das frische Blut, als sie ihre Zähne in den Vogel schlug.
Sein Traum fiel in sich zusammen wie eine Mauer.
Durch Staub und Sand sah er, was vorging. Er erwachte und mit Erschütterung blickte er auf eine Menschenmenge, die ihn atemlos anstarrte.
»Er hat Angst!«, riefen einige.
Andere wichen zurück und manche schützten ihre Augen mit den Handflächen vor der aufgehenden Sonne.
Liebe Güte, wie war er hierhin gekommen? Er verschluckte den Rest seines Traumes und presste die Lippen aufeinander. Er brauchte nur Sekunden, um zu erkennen, dass er unter einem Galgen stand, er, der Mensch Darius Darken, das Seil um den Hals gelegt, welches schwer auf seinen Schultern ruhte. Ein dickes, stabiles Seil, nicht festgezurrt. Vor dem Holzpodest stand Elvira, die ihn unerschrocken ansah, während Tränen über ihre hübschen Wangen liefen. Ihre Lippen bewegten sich, doch Darius begriff nicht, was sie sagte. Es waren gewiss keine Liebesschwüre – oder doch? Glaubte sie ihm jetzt? Hatte sie ihre Meinung geändert? Würde sie ihn retten?
»Mörder«, flüsterte sie, gerade so laut, dass Darius die Worte vernehmen konnte. »Gemeiner Mörder.«
Darius, aus seinem Traum erwacht und in einem Alptraum gestrandet, schüttelte langsam und intensiv den Kopf.
»Mörder«, formten Elviras Lippen jenes eine Wort, welches ihn trauriger machte, als alles, was geschehen war.
Ein eisiger Blitz fuhr durch Darius. Es hatte eine Weile gedauert, bis jeder Winkel seines Gehirns die Gegenwart realisierte. Nun wusste er, was auf ihn zukam. Das große schwarze Nichts. Er war unschuldig verurteilt worden, ohne dass sich ein Richter die Mühe gemacht hatte, seine Verteidigung anzuhören. Er würde in wenigen Sekunden an einem Seil baumeln. Wenn er Glück hatte, würde es schnell gehen und sein Genick brach sofort. Verstand der Henker sein Handwerk? Darius, dem klar war, dass nichts ihn retten konnte, fügte sich, während kalter Schweiß über seinen Körper lief und sich seine Psyche, sein Überlebenswille gegen das Unvermeidliche sträubte. Er wollte leben, wollte leben!
Doch war das Leben etwas wert, nachdem er seine kleine, seine liebste Riousa im Wasser des Singól verloren hatte? Was bot ihm das Leben, wenn Elvira ihn für einen Mörder hielt, obwohl sie es besser wissen sollte? Gab es ein menschenwürdiges Leben, wenn jederzeit zu befürchten stand, er könne sich in eine gigantische dämonische Gestalt verwandeln?
Zumindest schienen die Folterknechte nicht bis zum Äußersten gegangen zu sein, denn er spürte kaum Schmerzen, was allerdings auch an der Situation liegen mochte.
Wen interessierte schmerzende Gelenke, wenn man einen Strick um den Hals fühlte?
Oder träumte er auch dies?
Lag er noch immer auf der Streckbank und sein Geist wehrte sich gegen die Schmerzen, indem es ihm Trugbilder vorgaukelte?
»Ich war es nicht ...«, krächzte er. »Und ich war es doch! Es war ein Unfall. Ich wollte es nicht. Das ist fürchterlich kompliziert. Ich möchte es gerne erklären.«
Die Menge musste seine Worte vernommen haben, denn sie seufzte kollektiv. Einige Mütter hielten ihren Kindern die Augen zu, indem sie die kleinen Köpfe an ihre Röcke drückten. Bierkrüge wurden gereicht. Es war die übliche Zurschaustellung des Delinquenten, Momente vor dem letzten Gedanken, die ihn entwürdigten und bestraften.
Darius suchte den Henker, den Ratsmann, der den Tötungsbefehl gab, den Verleser, der das Urteil erklärte. Irgendetwas stimmte nicht. Lediglich der Henker stand neben ihm, die schwarz behandschuhten Finger auf dem Hebel, der die Klappe unter Darius’ Füßen öffnete.
»Träume ich?«, wisperte Darius und sah direkt in die kleinen Löcher der spitzen Henkerskapuze, in der weiße Augen glitzerten. »Ist das hier die Wirklichkeit?«
Der Henker rührte sich nicht.
Die Menge schwieg.
Auch Elvira war ruhig.
Es war, als warteten sie auf etwas.
Auf die Antwort?
Auf eine Erklärung?
Auf den trockenen Knall, den ein brechendes Genick verursachte?
»Bitte, ich brauche eine Antwort«, flehte Darius. Er versuchte, eine Geste zu machen, doch seine Hände waren hinter dem Rücken gebunden. »Sage mir, Henker – ist dies ein Traum?«
Der Henker rührte sich nicht. Seine Finger auf dem Hebel zuckten, er blinzelte hinter der Kapuze.
»Ich weiß, dass du nicht mit mir sprechen darfst...«, begehrte Darius auf und hasste sich dafür, dass seine Stimme einen winselnden Tonfall annahm. »Ich weiß es, verdammt noch mal. Was ist das hier? Wie komme ich hier hin? Wo, bei den Göttern, bin ich?«
Das Gefühl, durch tiefen Schlamm zu waten, das Bild, in einen unendlich langen, sich verengenden Korridor zu laufen, ohne von der Stelle zu kommen, die Empfindung, im Wasser zu atmen, ohne zu ertrinken, alle diese Sinneneindrücke machten ihn schier wahnsinnig. War das die vielbeschworene Furcht, die den Delinquenten vor der Exekution irrsinnig werden ließ? War die Panik vor dem Unentrinnbaren so schlimm, dass sich der Verstand verlor, regelrecht verschmorte, wie ein Apfel in einem Backofen?
»Elvira!«, hörte sich Darius schreien. »ELVIRA! Ich liebe dich! Bitte glaube mir!«
Plötzlich war sie hinter ihm.
Elviras Körper drückte sich an seinen Rücken und ihre heiße Wange schob sich an seine.
Ihr süßer Atem hauchte über seine Nase, als sie sagte: »Sieh hin, Darius. Mache die Augen auf und schau.«
Er sah und sein Herz machte einen Sprung.
Riousa. Ihre blonden Haare. Ihr freundliches Gesicht.
Darius beugte sich zu ihr hinunter und liebkoste die weichen Wangen. Sie schlang ihre Ärmchen um seinen Hals und kicherte, weil seine kratzige Wange sie kitzelte.
Er liebte sie über alles.
Für sie würde er sterben.
Nichts und niemand sollte ihr etwas zuleide tun.
Unvermittelt lief sie Richtung Wasser.
Und der Dämon sprang ihr hinterher.
Nicht ins Wasser! Bitte nicht ins Wasser!
Der Dämon schnappte nach ihr, sie wich geschickt aus und das Wasser schlug über ihr zusammen. Der Dämon griff zu und fing sie ein. Es war, als versuche ein Riese, eine Taube zu streicheln. Unter seinen Klauen brachen Knochen.
Und der Dämon sah ein letztes Mal diese wunderschönen grünen Kinderaugen, diesen Unglauben darin, dass Papa sie im Stich ließ.
»Nun siehst du, dass ich die Wahrheit sagte ...«, flüsterte Darius erschüttert. »Nun hast du es miterlebt.«
»Welche Wahrheit?«, fragte Elvira mit schneidendsanfter Stimme. »Ich bin nicht hier, um mich wieder von dir belügen zu lassen, Kindsmörder. Ich sagte, du sollst hinschauen ...«
»Das tue ich doch«, murmelte Darius.
»Hierhin!«
Er folgte ihrer Stimme, sah ihre Hand die des Henkers wegstoßen, spürte, dass sie einen Schritt zurück trat, beobachtete mit kristalliner Klarheit, wie sie den Hebel zu sich zog - dann war alles still.