16. Kapitel

 

Der Trunk hatte süß geschmeckt. Wie ein milder Wein. Er hatte Katraana jede Angst genommen. Sie spürte das Lächeln auf ihren Lippen, als sich die Welt verdunkelte.

Ein Gefühl des Fallens. Sie fiel hundert Jahre lang ins Dunkel. Gesichter zogen an ihr vorbei, schwammen aus der Schwärze heran, wurden zerrissen und schwanden dahin, bevor sie sie berühren konnte.

Regen benetzte ihr Gesicht.

Sie war an einen Mast gebunden und schmeckte den Sturm und die ozonhaltige Luft. Blitze schlugen in das Holz und umgarnten ihren Körper.

»Du bist die, auf die wir warten!«, sagte der Mast. Aus seinen Ritzen krochen Holzmaden, die über ihr Gesicht strichen. Sie wölbte ihre Unterlippe vor und ließ einige darauf tropfen, die sie schluckte.

»Du bist die, die wir nähren«, sagte einer Made und wuselte über ihre Nase, richtete sich auf und musterte sie mit schwarzen Knopfaugen.

»Warum?«, fragte sie. »Warum falle ich und falle doch nicht?«

»Weil du im Niemandsland deiner Empfindungen bist«, sagte der Wind.

»Ich sterbe, nicht wahr?«, flüsterte sie und fühlte sich entspannt und wohl und warm und weich.

»Du stirbst, Katraana«, sagte der Regen.

Ein weiterer Blitz schlug ein und sie spürte seine Kraft am ganzen Körper. Dieses Gefühl war schön, nein, nicht schön – es war sensationell. Ein großartiger Moment, hinter dem alles, was sie je erlebt hatte, verblasste. Ja, auch wenn sie starb, war es diesen einen Augenblick wert gewesen.

»Bis du eingetreten oder herausgegangen?«, fragte der Blitz. »Drinnen oder draußen?«

Wind wehte durch ihr Haar, als der Fall weiterging, ein weiches Schweben eigentlich, nicht besonders spektakulär, nicht so, wie es der Blitz gewesen war.

»Ich bin durch das Tor gegangen«, sagte Katraana. »Und alles, was ich habe, ist Hoffnung.«

»Alleine gehen, alleine stehen«, sagte die Made. »Alleine liegen. Erst wenn du dich selbst zähmst, wirst du mit dir alleine und eins sein.«

»Ich zähme mich«, stieß Katraana hervor.

»Nein«, sagte der Regen. »Noch hastest du und bist voller Zorn.«

»Der Zorn ist mein Gebieter!«, rief Katraana und wünschte sich, der Blitz spräche zu ihr.

»Das Sein ist dein Gebieter, Elfe. Und der Tod ist die wahrste Form des Seins«, sagte der Blitz und züngelte über sie, während sie fiel und fiel.

Mit einem Mal – übergangslos – fiel sie nicht mehr.

Sie kauerte im Regen, um sie herum steinige Landschaft. Grauer Himmel und kühler Wind, es roch nach Moos und Herbst.

Hinter sich hörte sie es kichern. Sie drehte sich um und sah drei Weiber, kahl, hager und hässlich. Es musste sich um Hexen handeln. Sie wackelten auf sie zu und umkreisten sie. Sie blickten zu ihr herab und eine von ihnen sagte mit zittriger Stimme: »Was sollen wir dir weissagen?«

Katraana, die das Staunen verlernt hatte, sagte: »Was könnt ihr mir weissagen?«

»Ha«, kreischte die andere Hexe. Katraana konnte sie nicht auseinander halten. Sie sahen gleich aus, doch ihre Stimmen waren unterschiedlich. »Ha, da kommen zwei Reiter und wir sagen ihnen voraus, sie würden Herrscher sein. Da kommen zwei Wanderer und feiern mit uns eine ganze Nacht. Da kommt eine Elfe und will wissen.«

»Ja, ich will wissen«, sagte Katraana und rappelte sich auf. Sie blickte an sich hinab und erstarrte. Sie sah ebenso aus wie die Hexen. Und fühlte sich alt, wissend, doch voller Kraft. Sie ahnte unzählige Sprüche der Magie und viele Rezepte für Tränke schossen durch ihren Kopf. »Bin ich ihr?«

Die dritte Hexe sagte: »Ist das nicht jeder irgendwie?« Alle drei kicherten, doch die Fröhlichkeit erreichte ihre Augen nicht. Es war ein Kichern des Hohns, abgespaltete Seelen der Nacht.

»Gehe«, sagte die erste Hexe. »Wandere und suche.«

»Bei den Göttern …«, sagte Katraana hilflos. »Ich bin wie ihr und ich weiß nicht, was ich suchen soll.«

»Du hast schon gefunden«, sagte die zweite Hexe und Katraana war über diesen Widerspruch in sich erstaunt. Sie drehte sich um und ging weg, während Regen in ihr Gesicht schlug. Je mehr sie sich entfernte, desto mehr wurde sie wieder zu der, die sie war. Eine schwingende Metamorphose.

»Sie wird sehen!«, rief eine der Hexen hinter ihr her.

»Ja, sie wird sehen und das ist gut so!«

Katraana stürzte, erhob sich und stellte fest, dass sie ihr Knie aufgeschlagen hatte. Es interessierte sie nicht. Vor ihr öffnete sich eine Wand im Regen und sie schritt hindurch, hinein oder heraus?

 

 

Jetzt war sie unter blauem Himmel. Es duftete nach Moos und Blüten. Und sie war nicht länger allein.

Sie blickte durch die Augen eines Kindes auf einen jungen Elf, der Tränen in den Augen hatte. Er hatte ein wunderschönes Gesicht, schmal und edel, sogar für elfische Verhältnisse. Seine weißen Haare waren voll und glatt. Seine Kleidung edel und gepflegt, durchwoben mit feinensilbernen Fäden. Sie wollte zu ihm laufen, ihn umarmen. Wollte ihn umarmen, weil eine tiefgehende Empfindung ihr sagte, das sei richtig, sei gut. Eine harte Hand hielt sie fest, ein Elf, der mit klarer Stimme sprach. Sie begriff seine Worte nicht, doch sie klangen wütend und aufgebracht.

Der junge Elf wischte seine Augen trocken und ein feurig roter Blick heftete sich auf Katraana. Er war nicht traurig, wie sie gedacht hatte, er war zornig. Er hob seine Hände und aus seinen Fingerspitzen schossen Blitze. Sie krachten über Katraana in den Elf, der sie nun losließ. Es stank verbrannt.

Schreiend rannte Katraana weg, um hinter dem nächsten Busch zu verhalten. Neugierig schob sie ihren Kopf durch die Blätter und sah fassungslos, was geschah.

Mehr und mehr Entladungen donnerten in den Elf, von dem sie nur den Rücken sah. Er brach zusammen, von einer lodernden Korona umgeben. Der junge Elf wartete, ging zu ihm, beugte sich vor, schüttelte den Kopf und suchte.

»Katraana!«, rief er. Seine Stimme klang sorgenvoll. »Katraana! Lauf nicht weg!«

Katraana rannte.

Sie rannte und rannte.

Tränen liefen über ihre Wangen und trockneten im Luftzug. Sie hatte einen Mord beobachtet. Ein schreckliches Vergehen. So etwas kannte man bei den Elfen von Solituúde nicht. Elfen besaßen Klugheit und Kultur. Niemand tötete einen anderen. Doch dieser junge Elf hatte es getan. Er musste ein mächtiger Wissender sein, denn seine Magie hatte spielerisch gewirkt.

Sie hatte Angst.

Sie vermutete, dass er sie töten würde, bekäme er sie zu fassen. Sie kroch in eine Höhle, von der sie seit Jahren wusste. Sie hatte die Höhle durch Zufall gefunden, als sie einem weißen Kaninchen gefolgt war. Sie lag hinter zwei Felsen und außer ihr kannte sie niemand. Es war feucht dort und dunkel und roch nach Regen. Sie kroch hinein und rollte sich zusammen wie ein verängstigtes Kaninchen. Sie schob sich in den hintersten Winkel und behielt den Eingang im Auge. Sie wagte kaum zu atmen. Ihr Herzschlag schien ihr so laut, dass sie sich fürchtete, der Mörder könne ihn hören.

Sie zitterte wie Espenlaub. Vor lauter Angst nässte sie sich ein. Sie unterdrückte einen Jammerlaut. Sie ekelte sich und zitterte in der Nässe. Ihre Augen brannten, denn sie traute sich nicht, zu blinzeln. Ein fürchterlicher Druck schien ihren Kopf zu sprengen. Sie murmelte tonlos vor sich hin und versuchte, sich zu beruhigen. Nach einer unendlichen Weile schlief sie ein.

Als sie die Augen aufschlug, blickte sie in glühende Augen. Eine Fratze, faltig, mit hornigen Warzen und langen Zähnen. Das Ding hauchte sie an. Stinkender Atem.

»Du wirst vergessen«, knurrte das Ding.

Katraana öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Sie formulierte Worte, doch kein einziger Laut kam aus ihrem Mund. Sie sprach, aber sie hörte nichts.

»Wenn du nicht vergisst, wirst du sterben. Ich werde deinen Bauch öffnen und deine Gedärme fressen!«

Bitte, bitte, lass mich in Ruhe. Ich habe nichts gesehen!, wollte sie jammern. Kein Laut.

»Ich werde dir dein Herz aus der Brust reißen und es auf ein Holz spießen.«

Sie weinte, schluchzte, hatte Angst, solche Angst.

Das Ding schlängelte sich von ihr weg. Es glitzerte grün, war schuppig und hatte acht Klauen. Ein Wurm mit einem grausigen Gesicht. Das Ding wand sich vor ihr, dann erhob es sich, pendelte vor ihr hin und her und schnellte auf sie zu. Es wickelte sich um ihren Hals und drückte.

Katraana keuchte, schrie nach innen, wehrte sich.

Mein Kleid wird schmutzig!, dachte sie. Mein Vater wird sich ärgern!

Vater?

Ich habe keinen Vater!

Niemanden, der für sie da war. Dennoch erinnerte sich an herzliche Gesten, an intensive Gefühle, an ein Gesicht, an das sie sich drückte, an warme, ermunternde Worte.

Sie schluchzte und ekelte sich vor dem seifigen Ding. Sie wusste, dass es stärker war als sie. Es konnte sie erwürgen.

Einen Herzschlag später war es verschwunden.

Hatte sich einfach in Luft aufgelöst wie ein böser Traum.

Katraana rieb sich die Augen, wunderte sich und träumte, sie habe geträumt. Ein Traum, in einem Traum in einem Traum. Eine Spirale des Grauen, immer tiefer wirkend, durch den Lehm, den Schlamm die Erde. Sie schüttelte sich, rieb sich mit bebenden Fingern das Kleid ab. Ein hübscher himmelblauer Stoff. Ein Elfenkleid, verziert mit Sternenstaub. Sauber!

Sie versuchte aufzustehen, als sich der Fels öffnete. Zuerst hörte sie es. Klickende Laute. Schnell aufeinander folgend. Dann sah sie es. Unzählige Krabbler, ein Meer aus zuckenden Leibern, ergossen sich über sie, eine Welle aus Chinin.

Nein! wollte sie schreien. Bitte, bitte – nein! Nach wie vor war sie stumm.

Sie litt grässlich. Ihr kleines Herz drohte zu bersten. Das Gewimmel war auf ihren Beinen, auf ihrem Oberkörper, ihren Armen und drang in ihren Mund ein. Die Käfer wanden sich über ihre Zunge bis hinunter in den Magen, wo sie sich gegen ihr Gefängnis wehrten und pochten. Sie wollten sich durch ihren Leib in die Freiheit beißen.

Katraana warf sich herum, wälzte sich über den Boden der Höhle und schrie. Sie zerdrückte winzige Körper, die knackten wie Nüsse oder aufbrechende Winterblüten. Schleim verschmutzte ihr Kleid. Erneut nässte sie sich ein. Warm lief es über ihre Beine. Ihre Finger drückten in warmen Schlamm. Der Boden unter ihr erwärmte sich. Wurde weicher. Wie eine flauschige Matratze. Blasen stiegen empor und die Krabbler versuchten sich zu retten, indem sie in ihren Löchern verschwanden, sogar jene, die in Katraanas Magen gelaufen waren. Sie quollen aus ihrem Mund und rutschten über ihren Hals.

Katraana würgte.

Warum konnten die Krabbler nicht genauso schnell verschwinden wie die sechskrallige Schlange?

Der Stein unter ihr löste sich auf, wurde zu Gelee, in dem sie um sich schlug, während ihr Körper darin versank. Sie kannte diese Höhle. Hier hatte sie manche Phantasie geträumt. Bisher hatten sie die Feuchtigkeit und der leicht moderige Geruch nicht gestört. Offensichtlich musste es in einer Höhle so riechen. Dieser winzige Ort war ihr Refugium der Stille. Und nun veränderte sich alles. Stein war nicht mehr Stein, die Wände beugten sich über sie, glitschig schimmernde, mit roten Pilzen und blaugrauem Schimmel befallene Steine.

Unter ihr war nichts. Sie keuchte und rang nach Luft. Sie bäumte sich auf, um nicht weiter im Schlick zu versinken. Alles war vergeblich. Sie riss ihren Kopf hoch, schnappte nach Luft, wollte nicht eingesogen werden. Ihr schien, die Höhle lebte. Ein Organismus, der sie sich einverleibte. Ein Magen, der sie verdaute. Immer tiefer sank sie und sie schmeckte den Schlick und das Wasser und den Lehm und hörte auf zu atmen.

Katraana brüllte und schnappte nach Luft.

Sie erwachte.

 

 

Schwarz!

Alles war schwarz!

Sie holte tief Luft. Es roch nach frisch gezimmertem Holz, nach ihrem eigenen Atem, nach Schweiß und Kälte. Und sie begriff, was geschehen war.

Wenige Erinnerungen!

Fragmente!

Meister Claudel, der schweigsam einen Trunk bereitete.

Inquister Balger, der stumm dabei zusah.

Der nackthäutige Grotter, welcher neugierig stierend auf der Stelle tanzte.

Fackeln, die niemals erloschen.

Blaues Maguslicht, wahllos verteilt.

Hingeworfene Bücher, Pergamentrollen und Gefäße. Spinnweben und feuchte Wände. Und der kleine, verwachsene Magus, dessen Augen, soweit sie sich erinnern konnte, für eine Weile gütig geblickt hatten. Als verwehre er sich seiner Aufgabe. Als täte ihm leid, was zu tun war. Als wolle er sie schützen. Als hätte er in seinem Leben zu viel gesehen. Ihre elfische Wahrnehmungsgabe hatte tiefstes Wohlwollen verspürt.

Sie hatte darüber hinweg geschaut, sich dem verweigert und gesagt, es sei soweit. Sie wolle. WOLLE! Jetzt und hier! Dafür war sie geboren, geschaffen und ausgebildet worden. Für einen kleinen Moment hatte sie einen mentalen Kontakt mit dem Magus erlangen, bevor dieser seine Emotionen verschloss. Und sie las eine Frage.

Warum glaubst du zu sein wie du bist?

Wenn sie darüber nachdachte, würde diese Frage alles in Frage stellen. Das wusste sie. Dieses Rätsel sprach einen feinen Nerv in ihr an, der hin und wieder entflammt war. Bin ich ein Objekt? Bin ich das, was man von mir verlangt? Definiere ich mich darüber? Warum fehlen mir manche Fragen? Bin ich noch eine wahre Elfe? Und warum, bei den Göttern, wählt man ausgerechnet mich für diesen Auftrag? Warum schickt man keine Armee mutiger Kämpfer nach Unterwelt? Warum ICH?

Hin und wieder hatte sie sich diese Fragen gestellt, doch Meister Liotùn hatte stets dafür gesorgt, dass sie sich nicht zu oft damit beschäftigte. Sie war, solange sie denken konnte, von den Meistern beschützt und ausgebildet worden. Dafür war sie dankbar. Liotùn und seine Gehilfen waren ihre Familie, waren es, solange sie denken konnte.

Demzufolge machte sie sich frei von diesen Überlegungen und forderte ein, was richtig war.

Und Magus Claudel erfüllte ihren Wunsch.

Im selben Augeblick schwanden alle Zweifel.

Sie war, was sie war.

Sie tat, was man von ihr verlangte.

Sie würde Murgon töten.

Doch zuerst starb sie selbst.

Nun war alles dunkel und sie roch das Holz des Sarges. Über ihr waren Erde, Lehm, Schlamm und Sand. Sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Das Erwachen in einem Sarg war schauerlich. Nein, das war untertrieben. Es war – existenzielles, war – unvorstellbar!

Als sie sich dessen bewusst war, rann fettiger Schweiß über ihren Körper und Panik ließ ihre Muskeln zucken. Dunkelheit. Holz. Kein oben oder unten, kein links und rechts. Sie schwebte in totaler Dunkelheit und atmete.

Sie wusste nicht, wie viel Luft ihr noch blieb? Wann würde ihr Atem aussetzen, würde die Luft verbraucht sein?

Sie schlug ihre Fingernägel in das Holz und drückte dagegen.

Frei sein! Sie wollte frei sein!

Ein logischer Instinkt.

Hass hatte seine Qualität, Rache seine Lust, doch der Lebenswille war stärker als beides. Er verscheuchte alle Gefühle und reduzierte sie auf das, was sie war. Sie war ein Lebewesen. Nichts mehr und nichts weniger. Und sie wollte leben.

Die Wände des Sarges drückten gegen ihren Körper. Sie schoben sich zusammen, als wenn sie ihr den Atem nehmen wollten.

Und alles war schiere Dunkelheit!

Sie versuchte, sich zu orientieren. Doch das gelang nicht, da sie keinen Anhaltspunkt hatte. Sie stellte sich vor, dass über ihr sechs Fuß Erde und Schlamm lagen und neben ihr viel mehr davon.

Sie war einsam.

Alleine!

Und sie weinte.

Eine Elfe weinte selten, eigentlich nie. Ein neues Empfindung, eine weitere Emotion, die sie erschaudern ließ. Sie verlor Tränen und stammelte dabei. Sie erlebte die Vergänglichkeit. Das absolute Grauen. Die Tiefe der Dunkelheit. Schwarz war bisher für sie nur eine Farbe gewesen, doch nun hatte sie eine fast greifbare Präsenz. Dick wie Sirup und grausam.

Sie hatte geträumt. Es war ein grausiger Traum gewesen. Eine Geschichte, die so unglaublich war, dass sie sie am liebsten vergessen würde. Von einem hübschen Elf, der einen anderen Elf getötet hatte. Vom Gefühl der Wärme, Liebe, Sehnsucht und davon, dass jemand für sie da war. Ein Traum, so fremd und doch so intensiv, dass sie schluchzen musste. Sie hatte eine Dimension der Furcht empfunden, die sie nie für möglich gehalten hätte. Sie war klein gewesen, ein unschuldiges Elfenkind, und fragte sich, ob der Traum etwas war, an das sie sich nicht mehr erinnerte, oder ein Schamanenspiel?

Noch immer schauderten sie die Erinnerungen. Sie hörte ihre Zähne klappern. Alle Nerven war zum reißen gespannt.

War das tatsächlich sie gewesen? Das kleine Mädchen in der Höhle? Vor was war sie geflohen? Sie hatte oft mit Meister Liotùn darüber gesprochen, dass sie keine Erinnerungen an ihre Kindheit hatte. Dieser hatte stets milde gelächelt und gesagt, so etwas sei völlig natürlich für ein Kind wie sie.

Was würde er sagen, wenn sie ihm von diesem Traum berichtete?

Magus Claudel hatte gesagt, sie habe einen schweren Weg vor sich. Womit er vermutlich den Traum gemeint hatte. Katraana seufzte.

Sie atmete flach, denn sie ahnte, dass die Luft in diesem Verließ nicht unendlich währen würde.

Es gab keinen Ausweg.

Erneut schlug sie ihre Fingernägel in das Holz, kratzte, drückte und heulte auf, als einige Nägel abbrachen. Verflucht, das tat weh! Unwichtig, sie musste sich befreien.

So war es nicht geplant gewesen. Erwachen im Sarg? Nein, das gehörte nicht zum Plan. War dies das Unglück, von dem Claudel gesprochen hatte? Dass sie den Weg nach Unterwelt nicht fand, sondern viel zu früh erwachte und elendig sterben würde? Einen langen unendlichen Tod erlitt?

Der Magus hatte Unrecht gehabt.

Dies war nicht der Weg nach Unterwelt.

Wieder weinte sie und fragte sich, ob dies die Strafe für ihren Hass war?

Katraana, die Kriegerin, würde in der Finsternis atmender Erde sterben.

 

 

»Verschwinde endlich«, fauchte Inquister Loouis Balger und schlug mit der Handfläche gegen seine Stirn. »Verdammter Skarabäus. Elender Käfer. Was tust du mir an?«

Du bist einer von Zwanzig! Deine Seele muss geläutert werden, damit du begreifst, was geschah!

»Ich habe begriffen. Ich habe alles begriffen!«, jaulte Balger, den schreckliche Kopfschmerzen quälten. Die winzigen Beine des Käfer trippelten hinter seinen Augen von links nach rechts und wieder zurück.

Was willst du mit deinem zweiten Leben anstellen, Loouis?

»Das weißt du ganz genau. Dieser Katraana wurde begraben. Sie wird nach Unterwelt gehen und den Lord fangen. Sie wird ihn mir ausliefern und ich werde ihn verurteilen und vor aller Augen Dandorias hinrichten.«

Ist nichts in deinem Kopf außer Gewalt?

Balger knurrte und schloss seine Augen. Auch das half nichts. Der Schmerz war überwältigend. »Gewalt? Was redest du über Gewalt? Du selbst machst nichts anderes mit mir. Du schmerzt und quälst mich. Es geht nicht um irgendeinen Angeklagten, es geht um den Lord von Unterwelt. Um Murgon. Wenn wir ihn fassen, befreien wir nicht nur Unterwelt sondern auch Mythenland. Ansonsten wird er uns unterjochen – du hast es gehört.«

Das interessiert dich nicht, Loouis. Von dir aus könnte er jeden unterjochen, den er will. Würde er dir einen Platz an seiner Seite anbieten, würdest du bejahen. Ja, du setzt dich sogar neben den Lord von Unterwelt.

»Nein, nein – so ist das nicht!«

Der Käfer kicherte.

Dann gehe zu Grisolde und erkläre ihr, was geschieht.

Balger fuhr hoch. »Nein, niemals!«

Siehst du? Das meinte ich. Du glaubst dich schon als Herrscher über Dandoria. Du hintergehst diese Frau.

»Frau? Von wem redest du? Sie ist ein hinterlistiges Weib. Sie beauftragte uns, ihren Gemahl und König zu töten.«

Erteilte sie den Befehl?

Balger schluckte hart. »Nein, das tat sie nicht. Aber sie meinte es so.«

Das mag sein. Deshalb möchtest du genauso sein wie sie? Du, der einer von Zwanzig ist?

Balger warf seinen Körper auf der Liege hin und her. Er war in Schweiß gebadet. »Was verlangst du von mir? Wann wirst du aufhören, mich zu quälen?«

Bist du sicher, dass ich dich quäle?

»Wer sonst?«

Erneut kicherte der Käfer.

Der Inquister rappelte sich auf und setzte sich auf die Kante seiner Liege. Er wischte sich Schweiß von der Stirn. Er würde keinen weiteren Austausch mit dem Käfer zulassen. Abgesehen von seinen Kopfschmerzen und dem elenden Wispern hinter seinen Augen war er zufrieden. Magus Claudel, dieser hässliche Kerl, hatte sein Versprechen gehalten. Eine Hand wusch die andere! Erstaunlich, wie mutige die Elfe die Sache angegangen war. Tapfer hatte sie den Trank geschluckt und war umgehend eingeschlafen. Sie wurde wie geplant für tot erklärt. Balger sorgte dafür, dass die Elfe eilends vor den Toren der Stadt begraben wurde.

Als sich der Sarg in den Boden senkte, grauste es Balger. Ihm wurde mit aller Deutlichkeit klar, dass die Elfe nicht tot war. Sie lebte. Was, wenn sie im Sarg erwachte? Wenn etwas schief ging? Wie groß musste der Hass dieser Elfe sein, wenn sie ein solches Wagnis einging?

Der Käfer hatte geschwiegen, was Balger begrüßte. Er hatte auch ohne den lästigen Gast genug nachzudenken.

Kopfschüttelnd hatte er sich abgewandt, als die Totengräber das Loch verschlossen. Kalte Finger hatten über seinen Rücken gestrichen. Er sah hoch zur Burg. Dort hockte Lady Grisolde wie eine Krähe und wartete darauf, dass er sie zur Königin machte.

Inquister Balger würde sein Versprechen halten.

In wenigen Tagen war Dandoria unter neuer Herrschaft.

Er wischte die Erinnerungen weg und erhob sich. Er trat zum Fenster. Einen halben Tagesritt entfernt erhob sich die Silhouette der Bergkette, die das Tal der Riesen umschloss wie eine uneinnehmbare Mauer. Irgendwo in dieser Mauer steckten die Überreste von achtzehn Männern.

Was mochte Rondrick dort suchen? Warum wurde er von den Riesen beschützt? Balger zog die Schultern hoch. Vermutlich würde er Rondrick und seine zwei Begleiter nie wiedersehen. Er war sich so sicher, dass er für den Esel des Barden Sorge getragen hatte. Die Utensilien des Barden waren verbrannt worden.

Er hatte zwei Späher abgestellt, die ihn, sollte Rondrick zurückkehren, sofort informieren würden.

In den Strassen begannen die Reparaturen der Schäden, die der Riese angerichtet hatte. In wenigen Tagen würde in der Stadt Normalität eingekehrt sein. Wie lange man sich an den Helden Dandorias, König Rondrick, erinnerte, wussten nur die Götter. Balger würde dem Volk ein kolossales Fest ausrichten, bestimmt von der Krönungszeremonie. Das würde ablenken.

Falls das Schicksal kein unseliger Geselle war, gab es für alles das einen übergeordneten Plan. Und ein Teil dieses Planes war er, Inquister Loouis Balger.

Kühler Wind strich über seine Haut und der Schweiß trocknete.

Er trat an seine Kommode und füllte das Weinglas aus dandorianischen Kristall.

Im selben Moment zuckte ein Krampf durch seinen Schädel, der ihn aufschreien ließ. Das Weinglas zersplitterte. Er stürzte und krümmte sich. Er presste seine Hände an die Stirn. Vor sich hin stammelnd rang er nach Luft.

Der Skarabäus hinter seinen Augen bäumte sich auf.

»VERSCHWINDE!«, kreischte Balger.

Doch diesen Gefallen tat ihm der ungebetene Gast nicht. Vor Balgers Augen verschwamm die Welt, dann wurde es dunkel.

 

 

 

 

 

Im Schatten der Drachen
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