11. Kapitel
Connor und Frethmar stiegen, nachdem die das Deck überprüft hatten, in den Bauch der Wing.
»Nichts zu hören ...«, flüsterte Frethmar und drückte die Axt an sich.
»Merkwürdig«, gab Connor zurück.
Sie huschten durch den schmalen Gang und lauschten. Es war still wie in einem Grab.
»Agaldir sagte etwas von einem Ork. So ein Kerl ist nicht zu übersehen«, sagte Frethmar.
»Und wo sind die Amazonen?«
»Wir müssen die Kajüten überprüfen.«
Connor öffnete die erste Tür. Er hielt sein Schwert in Abwehrposition, doch die Kajüte war leer. Auch die nächste und die übernächste.
Weiter heckwärts war eine Tür nur angelehnt. Frethmar stieß sie auf. Sie knarrte in den Angeln. Der Zwerg schob sich vorsichtig in den Raum. Es roch seltsam, fremdartig, schwer und bleiern. Er rümpfte die Nase und winkte Connor zu sich. Dieser verstand und schob sein Schwert durch den Türschlitz.
Es war dämmerig.
Durch das kleine Fenster fiel nur wenig Licht.
Trotzdem war das, was die Freunde zu sehen bekamen, nicht minder grausig.
»Bei Gordur ...«, ächzte Connor.
»Bei den Göttern ...«, stöhnte Frethmar.
Sie betraten die Kajüte und betrachteten die drei Leichen. Es handelte sich um Lysas Kameradinnen. Einer von ihnen fehlte ein Arm, eine andere lag so verrenkt da, dass es aussah, als sei ihr jeder Knochen gebrochen worden. Die dritte starrte Frethmar mit offenen Augen an. An ihrem Mundwinkel klebte getrocknetes Blut.
Frethmar kannte ihre Namen und schloss seine Augen. Er wollte sich jetzt nicht erinnern, denn der Schmerz hätte ihn unvorsichtig gemacht.
»Wie bringen wir das Lysa bei?«, seufzte Connor.
»Der Mörder könnte noch an Bord sein«, zischte Frethmar. Er zitterte am ganzen Körper. Ein unbändiger Zorn bemächtigte sich seiner. Gleichzeitig fühlte er eine tiefe Ohnmacht. Sie waren so lange zusammen gewesen, hatten Leid erfahren und waren endlich in Dandoria angekommen. Warum hatte dieses Massaker stattgefunden? Wer war so stark, es mit drei kampferprobten Amazonen aufzunehmen?
Connor riss die Tür auf und stapfte zurück in den Gang. »Zeige dich, Mörder!«, brüllte er.
Frethmar folgte ihm. Noch nie hatte er den Barbaren so wütend erlebt. Nun konnte er sich vorstellen, wie es sein musste, einer ganzen Horde dieser Nordmänner im Kampf gegenüber zu stehen. Der Hüne strahlte pure Gewaltbereitschaft aus. Vor ihnen löste sich ein Schatten aus dem Holz und dann rochen sie es.
Ein süßlicher Gestank, der ihnen den Magen umdrehte, ging von der Gestalt aus, die sich dort versteckte. Sie war ungefähr so groß wie Connor, aber breiter. Aus einem kantigen Schädel ragten zwei Hauer. Der Kopf wurde durch einen Helm geschützt, die Bekleidung bestand aus Leder und verrostetem Eisen.
Der Ork hielt einen Hammer in der einen und eine Kette in der anderen Hand. Deren Glieder klackerten, als sich die Kreatur bewegte.
Connor fragte nicht, wartete nicht, tat nichts, um die Situation einzuschätzen, sondern er griff umgehend an. Sein Schwert krachte gegen den Hammer des Orks, der unverständliche Grunzlaute ausstieß.
Frethmar schob sich an Connor vorbei und sie nahmen den Ork, trotz der Enge, in die Zange. Doch die Kreatur war ein guter Kämpfer. Knurrend und keuchend wirbelte er mit Kette und Hammer und mehr als einmal musste Frethmar aufpassen, dass sich die Kette nicht um sein Axtblatt wickelte, was fatal gewesen wäre.
Mit einer erstaunlich eleganten Bewegung schlug der Ork Connor das Schwert aus der Hand. Es krachte auf den Boden, nur einen Meter vor die Füße der Kreatur. Connor wagte es, sich zu bücken und nur ein beherzter Axtschlag von Frethmar verhinderte, dass der Ork dem Hünen mit dem Hammer den Rücken brach. Connor schnappte seine Waffe und riss sie mit aller Kraft hoch. Die Spitze verhakte sich im Harnisch des Orks.
Frethmar führte einen harten Schlag gegen die aus Leder bestehende Halsberge des Gegners. Der Ork gurgelte und krachte gegen die Wand. Jeden anderen Gegner hätte dieser Schlag besiegt, bei dem Ork schien er lediglich den Zorn zu schüren.
Mit einem erbitterten Brüllen schleuderte der Ork seine Kette und diesmal geschah das, was Frethmar insgeheim befürchtet hatte. Die Kette wickelte sich um Kopf und Wange der Axt und der Ork zog mit aller Kraft. Frethmar hielt seine Waffe fest, doch dann rutschte sie ihm aus den Fingern.
Der Ork stieß einen zufrieden wirkenden Laut aus und riss Kette und Axt mit einer erstaunlichen Bewegung zu sich. Die Kette löste sich, fiel ihm aus der Hand und die Axt befand sich in seiner Pranke.
Frethmar war unbewaffnet.
Endlich löste Connor sein Schwert aus der Verhakung, wobei der Harnisch des Gegners einen deutlichen Riss erhielt.
»Der bringt mich um!«, keuchte Frethmar, der sich vor den Angriffen des Orks in Sicherheit brachte und hinter Connor huschte, der nun die alleinige Verantwortung trug.
Connor setzte sich zur Wehr.
Axt und Hammer gegen sein Schwert.
Der Ork löste sich von der Wand und griff unbeirrt an.
Frethmar rannte los.
Eine Kajüte.
Noch eine.
Dann fand er, was er suchte. Er riss den Bogen aus der Halterung, dazu drei Pfeile. Er hatte noch nie mit Pfeil und Bogen gekämpft, aber nun blieb ihm nichts anderes übrig. Er schnellte in den Gang, legte den Pfeil ein und spannte den Bogen so, wie er es zahllose Male bei den Amazonen gesehen hatte.
»Connor, zur Seite!«, schrie er.
Das Schiff hallte von den Kampfgeräuschen wider.
»Connor, verdammt noch mal! Geh zur Seite. Ich bin hinter dir. Ich mach den Ork fertig!«
Connor konnte und durfte sich nicht umsehen, aber er vertraute seinem Freund. Mit einer schnellen Seitenbewegung drehte er sich aus der Flugbahn des Pfeils.
Frethmar löste den Bogen und der Pfeil surrte los.
Er klatschte wirkungslos gegen die Wand.
Frethmar spannte den zweiten Pfeil ein. Liebe Güte, was die Amazonen konnten, sollte er doch auch hinkriegen, oder? Es war schwieriger, als es aussah, aber der Zwerg überlegte nicht. Er handelte. Der zweite Pfeil zischte los. Frethmar schrie begeistert.
Getroffen!
Der Pfeil steckte im Oberarm des Orks, welcher aufbrüllte und den Hammer fallen ließ.
Der dritte Pfeil.
Connor nutzte die Verwirrung des Gegners und schlug dem Ork den verletzten Arm ab. Eine glatte Bewegung und es war getan. Blut spritzte wie aus einer Fontäne.
Der dritte Pfeil bohrte sich genau zwischen die Augen des Orks.
Connor unterlief einen hastig geführten Axthieb und sein Schwert summte wie ein tödliches Insekt. Der Ork brüllte markerschütternd, ließ die Axt fallen und versuchte mit seiner verbliebenen Pranke den Pfeil aus seinem Kopf zu ziehen.
Connor und Frethmar sahen den vergeblichen Bemühungen zu. Sie wussten, dass sie den Kampf gewonnen hatten.
Der Ork sackte auf die Knie, Blut schoss aus seinem Maul, er röchelte und fiel lang hin, wobei er den abgeschlagenen Arm unter sich begrub. Seine Beine zitterten, er streckte sich und war tot.
Connor stieg über den Ork weg und kam zu Frethmar, der zufrieden grinste. Ohne ein Wort zu sagen, zog der Hüne den Zwerg an sich und drückte ihn. Frethmar ließ den Bogen fallen und zappelte unter dem Griff des Hünen.
»Nun lass mal gut sein, Großer«, keuchte er. »Oder willst du, dass ich ersticke?«
Connor ließ Frethmar los. Er schüttelte den Kopf und wischte sich die blonden Haare aus der verschwitzten Stirn. »Du bist eine Amazone, Fret. Siehst zwar nicht so hübsch aus, aber was du getan hast, war Rettung in größter Not.«
»Nun übertreib mal nicht«, sagte Frethmar.
»Genau zwischen die Augen ... wer hat dir das beigebracht?«
»Die Furcht.«
Connor drehte sich um und ging zu dem toten Ork. »Was hat er an Bord gewollt? Hast du irgendeine Ahnung, Fret?«
»Ja.«
Connor runzelte die Brauen. »Ja?«
»Ja!«
»Wie wäre es, wenn du mal was anderes sagst, als ...«
»Mach mal die Augen auf, Connor von Nordbarken.«
Der Barbar grinste schräg. »Siehst du, was ich sehe?«
»Eben.«
Im Schatten fast unsichtbar lag etwas, das eindeutig wie ein Ei aussah. Als Connor es hochhob und gegen das Fenster hielt, glühte es weiß. Er musste es mit zwei Händen heben und sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Trauer, Erschöpfung und Begeisterung.
»Das Drachenei, welches Biggert gestohlen wurde«, flüsterte er andächtig.
»Das Drachenei, welches wir nicht mehr benötigen, weil Agaldir einen Heiltrank für die Amazonen brauen wird«, gab Frethmar zurück. »So viele Tote, so viel Blut – und alles nur für dieses nutzlose Ei.«
»Es ist ein Drachenei und besitzt einen unschätzbaren Wert«, sagte Connor und reichte es Frethmar.
Dieser sagte: »Es ist erstaunlich schwer, nicht wahr? Ob der Ork es gestohlen hat?«
»Das glaube ich nicht. Ein Ork wäre Biggert aufgefallen. Vermutlich hat er es dem Dieb gestohlen.«
»Und warum? Seit wann interessieren sich Orks für Dracheneier?«
Connor zuckte die Achseln. »Ich habe jetzt keine Lust, erneut Antworten auf irgendwelche Fragen zu finden. Das Ei ist da und fertig.«
»Dann sollten wir uns überlegen, wie wir Lysa die Nachrichten überbringen. Ihre Freundinnen sind tot. Die Wing hat keine Besatzung mehr. Von neun Amazonen haben nur zwei überlebt. Das ist grausam, mein Freund.«
Connor nickte trübe.
Frethmar sagte: »Mir lässt eines keine Ruhe ... was wollte der Ork an Bord der Wing? Wollte er das Schiff stehlen? Das ist alles so undurchsichtig.«
»Soll es eben undurchsichtig sein«, sagte Connor, als ahne er, dass sie nie Antworten auf diese Fragen finden sollten. »Mir geht es jetzt um Lysa. Du weißt, dass ich sie liebe und nichts ist schrecklicher, als jemandem, den man liebt, eine schlechte Nachricht zu überbringen.«
»Sei froh, dass sie dich auch liebt«, sagte Frethmar leise. »So wird sie sich von dir trösten lassen und an deiner Schulter weinen. Sie ist nicht alleine, sondern hat jemanden, an den sie sich lehnen kann.«
Connor verzog das Gesicht. »Ja, es werden viele Tränen sein, viele Tränen ...«
Der Manndämon stapfte durch Dandoria.
Bürger schrien und stoben davon. Die Stadt befand sich in Aufruhr. Zwei Dämonen machten Dandoria unsicher und es war besser, sich in den Häusern und Wohnungen zu verstecken. Deshalb waren die Strassen und Gassen bald wie leer gefegt.
Dem Dämon war es recht. So lief er nicht Gefahr, töten zu müssen. Niemand griff ihn an. Ja, das war gut so.
Er wusste, dass er Darius Darken war. Er wusste, wer Bluma war. Und er wusste, dass er eine Aufgabe zu erledigen hatte. Nein, zwei Aufgaben.
Er musste den Golem finden und eine Frau. Eine hübsche Menschenfrau. Ihren Namen hatte er vergessen, aber sein Dämoneninstinkt zog ihn weiter, als folge er einem Silberfaden.
Wem sollte er sich zuerst widmen?
Golem?
Frau?
Sein mächtiger Körper grollte. Funken spritzten aus seinen Augen. Und Bilder formten sich vor ihm, die nichts mit Dandoria zu tun hatten.
Er sah sie nicht zum ersten Mal. Es war, als existiere sie hinter seinem Schädel, als warte sie darauf, dass er ihr begegne. Ein kleines Mädchen, blond, sommersprossig, in einem weißen Kleid. Sie sah zu ihm auf und zeigte keine Angst.
Der Dämon wusste, dass er träumte, obwohl er nicht schlief. Er stand regungslos und die Bilder strömten auf ihn ein, als stehe er unter einem Wasserfall.
»Erinnerst du dich?«, fragte das Mädchen und dem Dämon fiel ihr Name ein. Symbylle! Ihm fiel ihr Name ein, obwohl sie ihm diesen nie gesagt hatte.
»Woran soll ich mich erinnern?«, fragte der Dämon in seinem Tagtraum.
»Dein Schicksal wird sich erfüllen.«
»Wie sieht mein Schicksal aus?«
»Die Götter wenden bei guten Menschen dasselbe Prinzip an, wie die Lehrer bei ihren Schülern.«
»Ich begreife nicht ...«
»Sie verlangen größere Leistungen von denen, auf die sie größere Hoffungen setzen.«
»Ich bin kein Mensch. Ich bin ein Dämon!«
»Ruht nicht in jedem Menschen ein Dämon?«
»Ich habe meine geliebte Tochter getötet.«
»Du wolltest sie retten und warst dir deiner dämonischen Kraft nicht bewusst. Und das weißt du auch, Darius Darken.«
»Wieso verwandele ich mich im Mythenland? Ich bin nicht in Unterwelt ...«
»Die Antwort liegt nicht weit entfernt.«
»Geht es um die Frau?«
»Kennst du ihren Namen nicht?«
»Doch, jetzt fällt er mir ein. Elvira, mein Weib. Sie sorgte dafür, dass ich aufgehängt wurde.«
»Wurdest du das?«
»Ich starb, als sie den Hebel umlegte, der mir den Boden unter den Füßen nahm.«
»Und wo sind die Male? Warum gibt es keine?«
»Sage es mir, Symbylle.«
»Nein!«
»Bist du jene, die Ringo ist? Bist du jene, die im See lebt?«
»Der Lichtwurm sagte es dir und deinen Freunden. Und Steve sprach davon. Nun bilde dir ein Urteil.«
Das Mädchen hockte im Gras und Sonnenblumenblüten glühten in der Sonne. Sie legte sie nebeneinander, dann sortierte sie die Blüten neu und formte daraus eine quer liegende Acht. Sie sah erneut zu Darius hoch.
»Ängstige dich nicht. Gehe deinen Weg.«
Das Bild verschwamm und der Dämon erwachte. Er grunzte und sein schwarzer Körper bebte und verformte sich. Seine Aura schillerte, als sei er von unzähligen Glühwürmchen umgeben.
Elvira!
Sie war es, die er aufsuchen musste. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wo er gelebt hatte. Und er erinnerte sich. Mit weiten Schritten ging er, rannte fast und verließ den Innenbereich der Stadt. Er stieg auf einen Hügel und blickte auf eine grüne Ebene. Vereinzelt lagen dort Katen, kleine Häuser und Hütten. Menschen oder Halblinge, die sich dem Trubel der Stadt entzogen hatten. Eines dieser Häuser aus Holz gehörte Darius, gehörte ihm, dem Dämon!
Doch welches war es?
Der Dämon versuchte, seine menschliche Existenz mit der dämonischen zu verflechten. Was hatte Symbylle gesagt? In jedem Menschen lebe ein Dämon? War er weniger außergewöhnlich als er dachte? Zeigte sich bei ihm das dämonische nur anders, als bei anderen Menschen? Nein! Das konnte nicht sein.
Nein!
NEIN!!!
Er ging auf die Ebene und endlich erkannte er das Haus. Jenes Haus, welches er gebaut hatte. Als er noch ein Anwalt gewesen war und versucht hatte, harmlose Bürger vor dem Inquister zu retten. Er war stets stolz darauf gewesen, sich nicht verraten oder verkauft zu haben.
Und Elvira hatte er vor dem sicher scheinenden Tod gerettet. Sie war angeklagt worden, eine Hexe zu sein. Von einer Freundin, der sie für eine kurze Zeit einen Mann ausgespannt hatte. Eine typische Rache. Darius hatte sie freigekämpft und sich sein Honorar in Form eines Kusses geben lassen. Er hatte Elvira vom ersten Augenblick an geliebt und nie an ihrer Unschuld gezweifelt. Sie hatten sich vermählt und Riousa war auf die Welt gekommen. Ein hübsches Mädchen, welches Darius über alles liebte.
Während er und seine Tochter an den Ufern des Singól spielten, verwandelte er sich das erste Mal. Dabei kam Riousa um. Elvira war voller Hass gewesen und hatte alles getan, damit Darius verurteilt wurde. Sie selbst hatte den Henker vertreten.
Während der Dämon nachdachte, was in seinem behäbig arbeitenden Gehirn zu Schmerzen führte, fiel die lederartige Haut von ihm ab, richteten sich Knochen, verschoben sich Gelenke, brachen Wirbel, veränderte sich seine Hautfarbe, Haare wuchsen in Windeseile und er schrumpfte. Er wurde wieder der, dem dieses Haus gehörte.
Darius Darken!
Die Tür öffnete sich und Elvira trat nach draußen.