3. Kapitel

 

Es gibt viele Welten.

Welten, die auf dem Rücken von Schildkröten oder Elefanten liegen, Welten, die sich wie Bälle krümmen und in deren Inneren man leben kann, Welten, die aus Nebel und Dunst bestehen, Geisterwelten, Denkerwelten, Kriegerwelten, Götterwelten.

Und Mythenland!

Eine Welt mit fruchtbaren Inseln und Kontinenten, die über ein gemäßigtes Klima verfügt und auf denen eine bunte Mischung verschiedener Lebewesen und Lebensformen lebt. Wie groß Mythenland ist, weiß niemand genau. Seefahrer kamen zu keinem Zeitpunkt weit genug, um davon zu berichten und die Götter schwiegen.

Allen war jedoch klar, das Mythenland eine Krümmung hatte, denn diese sah man, wenn die Sonne ins Meer fiel. Mythenland war eine Kugel, umgeben von funkelnden Sternen. Astronomen hatten sich von den Blinden Magistern geschliffene Gläser fertigen lassen, mit denen sie dieses Glitzern in ihr Heim holten. Sie bezeichneten das Draussen und das Hier als ein harmonisches Ganzes. Es gab den Sternenozean und in ihm die Insel Mythenland.

Irgendwo dort draußen existierte die Götterwelt, die sakrale Welt im Nebel der Zeitenlichter, im Durcheinander der winzigen Strahlenwolken, dort, wo kein Lebewesen jemals hingelangen würde, gab es Riesen und Giganten, die von Stern zu Stern sprangen, um ihr Ziel zu erreichen, die ihre Transportfahrzeuge mit donnerndem Zorn über Mythenland anhielten, während ihre leuchtenden Augen lobten oder ihre glühenden Finger straften.

Sie blieben meist, wo sie waren.

Weit weg!

Niemand auf Mythenland konnte sich an einen Besuch der Götter erinnern. Es gab Zeichnungen, in Stein geschlagene Aufzeichnungen, die davon berichteten. Bilder, die sogar den Astronomen das Blut in den Adern gefrieren ließen.

Von grausigen Exekutionen berichteten diese Bilder. Von blutigen Gemetzeln. Auch von wohlwollenden Beschenkungen und unbeschreiblich schönen Zeremonien.

Die Blinden Magister beteten zu den Göttern und viele von ihnen hörten auf zu sprechen, wenn sie eine Vision geschenkt bekamen, und summten Geräusche, die sie nie erklärten.

Kurz gesagt: Mythlenland lag zwischen der Oberwelt, von der jeder wusste, dass es sie gab und dass dort die Götter residierten und Unterwelt, von der man zwar wusste, dass sie existierte, die man jedoch fürchtete.

Unterwelt!

Die Unterwelt war ein Ort, mit dem dumme Eltern ihre unwilligen Kinder bedrohten, ein Ort, von dem diejenigen träumten, die ein schlechtes Gewissen hatten.

Denn in Unterwelt, sagte man, hause das Laster, die Dämonen, die Übelgeister, die Visionen grauenhafter Gedanken, Fleisch gewordene Abscheulichkeiten und stinkende Wesen, insektengleiche Rachegötter und Gespenster, traumverzehrende Phantome und moderige Spukgestalten, die sich in pestilenzartigem Schleim auflösten, um gleich darauf wieder aufzuerstehen. Hier wurden Kreaturen geschaffen, die kein gesunder Geist auf Mythenland schadlos ertragen hätte.

Das stimmte teilweise und wieder nicht.

Es gab sie, die Schwarzen Reisenden, die durch einen geheimen Übergang gegangen waren und zurückkehrten nach Mythenland. Tapfere Krieger oder Magier, die den letzten großen Sinn, die abschließend ehrenvolle Aufgabe oder den allumfassenden Zauber suchten. Sie alle schienen eine Zeitlang verwirrt und berichteten über eine unterirdische Halle, sicherlich einen Tagesmarsch lang und so breit und hoch, dass sich unter dem Gewölbe Wolken bildeten und es schwefelig dünstendes Wasser regnete.

Sie berichteten von Hütten und Lehmbauten, die in Felsnischen gebaut, von Kreaturen, die verängstigt und zornig waren. Zerlumpte Gestalten mit knochigen Gliedern und weißen Augen, die in schwarzen Höhlen lagen. Vielgliedrige Wesen, Chimären des Grauens. Bucklige, verwachsene Wesen, halb Mensch, halb Tier, Dämonen, die ihre Urform stetig wechselten, kriecherische Leiber, die darauf warteten, beschworen zu werden. Kinder, die nie erwachsen werden würden, erbärmliche Gestalten, die in Blut und Dreck spielten, mit Zehen, an denen die schwarzen Klauen durch den Staub wischten. Und immer wieder Kreaturen, die weiß waren wie Kalk, Blut tranken und ausschweifende Rituale vollzogen.

Was davon der Wahrheit entsprach, war nicht überprüfbar, denn alle Schwarzen Reisenden verloren früher oder später den Verstand oder verschwanden spurlos in dunklen Gassen.

Sie hatten eines gemeinsam:

Sie sprachen über einen Mann, den sie Murgon nannten.

Er sei ein Dunkelelf, sagten sie. Ein hochgewachsener Mann mit dunkler, fast schwarzer Haut, weißem Haar und roten Augen. Ein mächtiger Elf sei er, gefürchtet wie ein Gott, sogar von Dämonen, die ungerufen waren.

Niemand wusste, ob Murgon alleine herrschte oder einer Hierarchie angehörte, einem Haus vielleicht oder einem Geschlecht.

Er war jener, der schuf und vernichtete.

Er war das Böse!

Viele Denker stritten das ab. Es könne so nicht sein. Das mache man sich zu einfach. Niemand sei einfach nur böse. Da male man mit schwarz und weiß. Man solle nie vergessen, dass nur das Gute mit ganzer Seele getan werden konnte, niemals das Böse. Und wer in Unterwelt herrschte, musste dies mit ganzer Seele tun, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Oder war er das? War er wahnsinnig? Hier eröffnete sich ein Paradoxon und die Blinden Magister taten sich zusammen, um das Problem zu disputieren.

Wenn Murgon das Böse gut tat, wenn er es vollständig wirkte, dann tat er es mit reinem Gewissen, denn anders sei so etwas nicht möglich. Und ein reines Gewissen sei keine Schwester des Bösen. Und was, wenn Murgon schlicht und einfach über kein Gewissen verfügte? Dann sei er verloren, sagten die Mönche. Und falls doch? Dann hatte es ihm gewiesen zu werden, was er sei.

Sündigte Murgon? Nein, meinte man, denn so sei es nur, wenn er gegen sein Gewissen handelt und dies bedeutete, er müsse über eines verfügen. Der Dunkelelf tat, was er tun musste.

Letztendlich klärte man nicht eine einzige Frage und war so schlau wie zuvor.

Murgon war und blieb ein Symbol des Entsetzens und viele Kinder flüsterten seinen Namen voller Angst.

 

 

 

Die Sonne brannte heiß auf Fuure. Es war ein schöner Herbsttag. Ein Tag, an dem ein Mörder gerichtet werden sollte.

Bob, den Hammer erhoben, um das Urteil zu vollziehen, entglitt das schwere Gerät. Er versuchte, nachzugreifen, aber es war zwecklos. Er nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass der Granitkopf knapp neben Bamig in den Staub krachte, danach veränderte sich alles.

Farben schillerten.

Die Zeit gerann wie Crockerblut.

Bilder schwappten übereinander wie ein mehrfach geworfenes Ebenbild im Wasser des Fangflusses.

Eine kalte Faust griff nach Bobs Herz. Der Atem stockte ihm, sein Körper wurde im rasenden Wechsel kalt und heiß, er sprang auf, fiel wieder zurück in seinen Sitz und glaubte nicht, was er sah.

Schwarze Wolken türmten sich übereinander. Sie fraßen die Sonne, Gewitterdonner rollten über Fuure und erschütterten das Dorf, während unentwegt Blitze niederfuhren. Bäume wurden gespalten und Büsche brannten.

Zwei Wesen, die wie aus dem Nichts erschienen waren, warfen ihre grauen Schatten über den Dorfplatz, der unversehens völlig leer war. Wo waren sie alle hin? Bamig war verschwunden, der Hammer, allesamt waren sie weg! Bama, Bluma, Bamba – meine Liebsten, wo seid ihr?

Zwei Drachen sanken wie auf dem Wind schwebende Möwen herab und landeten auf dem Dorfplatz. Ihre Körper schimmerten rot und grün. Jeder von ihnen maß mehr als zehn Schritte, es waren mächtige Flugtiere, deren schmale Körper mit Hörnern und Schuppen bedeckt waren. Die fast durchsichtigen Flügel zogen sie an die Körper. Nun glichen sie Würmern, sich windend auf stämmigen Hinterbeinen mit zwei winzigen Greifarmen vorne am Hals, deren Klauen jedoch kraftvoll und gefährlich wirkten. Aus ihren Mäulern hingen schmale Schlangenzungen und aus den Nüstern quoll schwarzer Rauch. Ihre Bewegungen waren, nachdem sie sich geschüttelt hatten und auf die Hinterbeine aufrichteten, elegant und furchterregend. Die langen Schwänze zogen sie durch den Staub, mächtige Muskelstränge, wie geschaffen, um zu zerstören. Auf ihren Schuppen brach sich das weiße Licht von Gewitterblitzen.

Ihre schmalen, auf bizarre Weise edel wirkenden Köpfe wandten sich Bob zu. Sie musterten ihn neugierig aus Reptilienaugen, hinter denen eine gefährliche Intelligenz lauerte.

Der größere von ihnen begann mit sanfter Stimme zu sprechen, ohne dass er sein Maul bewegte, aber Bob hörte jedes Wort deutlich und laut in seinem Kopf:

»Wir werden euch töten, Bob. Wir werden dein Volk vernichten, denn uns gehört diese Insel. Und uns gehört, was sie ausmacht, das Geheimnis, welches die Welt verändern wird. Wir werden euch verbrennen und aus Fuure einen Flecken Asche machen, der bald im Meer versinken wird. Schon bald, Häuptling Bob der Barbs.«

»Woher kennst du meinen Namen?«, krächzte Bob.

»Ahme den Gang der Natur nach, kleiner Mann. Ihr Geheimnis ist Geduld. Wenn es soweit ist, wirst du es erfahren, denn man hat über die Dinge, die man nicht kennt, stets eine bessere Meinung, und Geheimnisse, die enthüllt werden, fordern oft den Spott heraus. Und Spott wäre dein Tod!«

Bob war sich nicht sicher, ob er diese Worte begriff. Er blieb standhaft, als sich ihm der Drachenschädel näherte, und wich nicht eine Haarbreite zurück, als er den Schwefelatem des Tieres roch und ihn die vier beweglichen Hörner aufzuspießen drohten.

»Ihr seid nicht wirklich«, ächzte Bob. »Ihr seid eine Vision. Mein Herz hat ausgesetzt. Der Ärger war zu viel für mich. Ich bin im Reich der Götter.«

Alle Bewegungen waren verlangsamt, sogar der Wind säuselte dichter als sonst. Das Grauen, erkannte Bob, war nur in ihm, in seiner Seele, in seinem verdammten Kopf. Das Grauen, der Vater des Ärgers.

Der Drache rührte sich nicht, sondern hob die Lefzen und entblößte eine Reihe spitzer Zähne, was wie ein Lächeln wirkte. Dann folgte ein grollendes, unheilvolles Knurren. Der Kiefer klappte unüberhörbar zusammen.

Der Drache sprach: »Stelle dir Folgendes vor, Barb: Einer der Unsrigen pflückt deinem besten Freund erst die Arme und danach die Beine aus, wie du es mit Büschen und Bäumen zu tun pflegst. Ist das geschehen, spielt er ein bisschen mit dem Rumpf, schiebt ihn hin und her wie ein Spielzeug, schmirgelt dem Hilflosen mit schuppiger Zunge die Haut ab, schnauft ein wenig Wärme auf das rohe Fleisch, flammt ab, was lästig ist, Haare, Fell, Auswüchse und endlich, endlich nimmt er sich aus dem angebratenen Fleisch die Eingeweide. Stelle dir das vor und du kennst die Zukunft der Barbs.«

»Warum? Was haben wir euch angetan?«

»Ihr habt, was wir benötigen. Wir werden es finden. Ihr spürt es, wenn auch von Ferne. Ihr nennt es den Ärger. Das ist seine Schwingung.«

»Dann seid ihr für den Ärger verantwortlich?«

»Es ist der, der kommen wird, um Mythenland zu verändern.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Bob verzweifelt.

Der zweite, etwas kleinere Drache schlängelte sich mit der ekelerregenden Geschwindigkeit eines Nacktsalamanders an dem Sprecher vorbei. Er leckte sich über die Klauen. Instinktiv wusste Bob, dass es sich um ein Weibchen handelte. Ihre muskulösen Flanken hoben und senkten sich. Ihre Schwanzspitze zuckte wie bei einer Raubkatze kurz vor dem Angriff. Bob beobachtete fasziniert, wie sich das Wesen aufrichtete und ihn mit zischelnder Zunge aus rubinroten Augen ansah. Die Augen schienen sich zu weiten. Ihm war, als würde er in unendliche Tiefen hineingezogen und er konnte den Blick nicht abwenden, so sehr er es versuchte.

»Ich dachte ... man sagt ... man sagt, Drachen seien weise Wesen. Edel und gut. Warum also wollt ihr uns alles dies zufügen? Das wäre doch nicht weise«, krächzte Bob.

Ihre Stimmen waren in seinem Kopf, jedoch Bob verstand die Worte nicht. Sie waren wie ein harscher Wind und bereiteten ihm Schmerzen.

Bob klammerte sich an die Sitzlehne und versuchte, die Vision wegzublinzeln. Seine Haare richteten sich auf wie Schneidgras im Sommer.

»Nein, das ist nicht weise. Und warum wollt ihr uns vernichten? Nehmt, was ihr sucht und fliegt wieder davon!«

Erneut erhielt er keine Antwort.

Die Drachen falteten ihre Flügel auseinander. Wie Kanonenkugeln schossen sie hoch. Ihre Körper sprangen in die Unwetterblitze, kreisten dort, umzuckt von unzähligen Elmsfeuern und verschwanden als funkelnde Irrlichter in das Gewittergrau.

Als Nächstes hörte Bob eine bekannte Stimme. Es war die von Bemtoc, dem Heiler: »Sein Herz scheint für eine Weile ausgesetzt zu haben. Sein Blutkreislauf wird versagt haben. Zu viel Ärger. Er wird wieder. Er hat eine zähe Konstitution.«

Eine warme Hand lag auf seiner Stirn. Mit Mühe erkannte er Bama, deren besorgtes Gesicht Bände sprach.

Hinter ihr, die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte Bluma am Türrahmen. Ihr Gesicht war eine Mischung aus Trotz und Sorge. Der kleine Bamba weinte.

Wird er ein guter Wareikenernter werden? Oder wird er bald sterben, jung, als Kind, das nie lernte, wie es ist, wenn der Stamm sein Zuhause aufgibt, wenn die Wurzel sich hochreckt, sanft zitternd, während von feinen Fasern Erdbrocken abfallen?, fragte sich Bob.

Ich liebe euch! Ihr seid meine Familie!

Bemtoc nahm Bama zur Seite. Er gab ihr Anweisungen, Bob solle sich ausruhen und dieses oder jenes trinken und essen.

»Drachen«, keuchte er und versuchte, sich hochzustemmen.

Bamas bestimmende Hand drückte ihn zurück. »Du musst schlafen, Liebster.«

Das duldete keinen Widerspruch.

Vielleicht hat sie recht, dachte Bob erschöpft und folgte ihrem Ratschlag.

 

 

 

Hatten Elfen für gewöhnlich eine Ausstrahlung von Weisheit, Würde und Erhabenheit, ging diese bei Murgon mit einer dunklen Aura einher. Seine schwarze Robe, deren Saum ausgefranst war und über den Boden schleifte, gab sehr genau wieder, wie es in Murgons Seele aussah.

Murgon schob die Kapuze zurück und sein fast schwarzes Gesicht wirkte durch die grellweißen schulterlangen Haare dunkler. Seine roten Augen musterten die hellhäutige Elfe, die an einem Tisch vor ihm saß.

»Man sagt uns Dunkelelfen nach, wir seien bösartige Wesen«, meinte Murgon. Seine Stimme war die eines alten Mannes, sanft, tief und etwas krächzend. Sie stand im Gegensatz zu seinem sehnigen und athletischen Körper. »Dennoch legen wir Wert auf Ehre und Stolz, meine Liebe. Ich habe ein Versprechen gegeben und ich werde es halten. Nichts wird mich davon abhalten, Mythenland unter meine Kontrolle zu bringen.« Seine spitzen Ohren zuckten leicht, und als er seine schmalen Lippen in die Breite zog, entblößte er zwei Reihen schneeweißer Zähne.

Die so Angesprochene wusste, dass er lächelte. Doch es erreichte seine roten Augen nicht und blieb damit eine Fratze. Sie blickte von ihrer magischen Übung hoch und säuselte: »Ja, Murgon. Du wirst dein Versprechen halten. Das weiß ich.«

»Du bist eine gute Frau, Gwenael, und ich bin für jede Minute dankbar, die ich in deiner Nähe bin. Gleichwohl muss ich dich kritisieren. Mir scheint, du nimmst deine Aufgabe zu leicht.«

Die Elfe lächelte. »Wie meinst du das, Bruder?«

»Deine Magie macht keine Fortschritte, dein Wesen ist zu weich, deine Augen sind zu violett.«

Gwenael lachte. »Das mag daran liegen, dass ich viel länger im Licht gelebt habe als du. Ich bin nicht so empfindlich gegenüber der Helligkeit.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Und ich hatte nicht deine Ausbildung. Übe dich in Geduld. Es wird von Tag zu Tag besser.«

»Ja, Gwenael. Unser Vater hatte ...« Murgon schwieg.

Gwenael fand es klüger, nicht darauf einzugehen. Was ihr Bruder in Jugendtagen erlebt hatte, war viel zu grauenhaft, um darüber nur nachzudenken. Es hatte den jungen Elf gebrochen, hatte ihn auf einen Weg gebracht, der so nie geplant gewesen war, hatte ihn zu einem Dunkelelf gemacht. Später würden sie ihre Träume sowieso daran erinnern, was geschehen war und was hätte sein können, denn sie wusste, dass Verdrängen auf Dauer nicht half. Irgendwann würde sie es verarbeiten müssen, wenn sie Antworten finden wollte. Antworten auf ihre eigene Geschichte, die sie nach Unterwelt gebracht hatte, die ihr Leben in die Dunkelheit gestoßen hatte.

Sie hatte einen Plan, an dem sie seit vielen Jahren arbeitete, ein Ziel, von dem Murgon nichts ahnte. Das war eine der Antworten.

Für die Erfüllung dieses Zieles benötigte sie jede Faser ihrer Intelligenz und ihrer Fähigkeiten.

Was geschehen war, hatte bewirkt, dass Murgon die dunkle Magie entdeckte – nein! Falsch! Die dunkle Magie hatte ihn entdeckt, hatte sich seiner bemächtigt und ihn zu einem mächtigen Dunkelelf gemacht, zu einem Wesen mit gigantischen magischen Fähigkeiten.

Murgons Blick konnte Steine schmelzen lassen und Winde verjagen. Seine Fingerspitzen konnten den Tod geben und das Leben spenden. Sein Blick konnte den Verstand rauben oder die Liebe geben.

So war es einst gewesen.

Das war gewesen, bevor Murgon erkannte, dass Unterwelt ihm nicht genug war. Nein, ihn dürstete nach größerer Macht. Ihn dürstete nach Mythenland.

Es war während eines Kampfes mit einem Zieldämon geschehen und erst wenige Wochen her.

Gwenael erinnerte sich daran und in ihrem Magen zog sich ein Klumpen zusammen, der Schmerzen ausstrahlte. An diesem Tag hatte sich für Murgon einiges verändert. Seitdem fühlte er sich nicht mehr unverletzbar. Nein, sie wusste, dass er sich seitdem sterblich fühlte. Vielleicht, dachte sie, besitzt jedes Wesen nur eine begrenzte Macht. Die Macht der Liebe, die Macht zur Hingabe, die Macht des Bösen. Waren sie wie Töpfe, die sich mit der Zeit leerten, bis nur noch Tropfen einstiger Fähigkeiten übrig waren?

Ein Zieldämon hatte sich gegen Murgons Macht aufgebäumt, hatte nicht akzeptiert, einer von Murgons Sklaven zu werden. Dies war überraschend gekommen, niemand hatte damit gerechnet, am allerwenigsten Murgon. Er war so sehr daran gewöhnt, dass man ihm folgte, dass er völlig unvorbereitet und sorglos in den Kampf gegangen war.

Ein Dämon durfte sich nicht gegen Murgon auflehnen. Er hatte sich dem Dunkelelf zu unterwerfen, sich dessen Heer anzuschließen, mit dem Murgon bald über Mythenland kommen würde wie eine Plage über das Kornfeld.

Die Hallen waren angefüllt mit jenen Wesen, die einst andere gewesen waren. Mörder, Ausgestoßene, Aussätzige, Betrüger, Verräter. Sie alle waren gestorben und hatten den Weg nach Unterwelt genommen. Hierhin waren sie zurückgekehrt und warteten darauf, von den Lebenden angerufen zu werden. Einige von ihnen hielt man für stark genug, das Wetter zu verändern, Seuchen und Erdbeben zu steuern, sie galten als die Verführer der Menschen, die jene armen Wesen in die Verderbnis führten.

Das stimmte.

Zwar ging das Gerücht, es gäbe gute Dämonen, Heilgeister und Schutzpatrone und Gwenael wusste, dass dies so war – hier in Unterwelt gab es sie nicht!

Dämonen konnten sehr unterschiedlich aussehen.

Von mehrköpfigen Wesen bis hin zu verwachsenen Tieren, von aufrecht gehenden Steinkreaturen bis hin zu filigranen schlangenähnlichen Wimmlern, war alles möglich. Harpyien, Federwesen, Vampire oder Aufhocker, die sich in den Rücken einsamer Wanderer krallten – es gab eine Unzahl Formen und Aufgaben. Einige waren so klein wie Insekten, damit sie sich in die Ohren ihrer Opfer setzen konnten, um diesen das Schicksal einzuflüstern, andere teilten sich und aus Einem wurden Zwei. Sie waren unsterblich und hofften doch, eines Tages erlöst zu werden.

Waren sie gut oder böse? Sie waren beides, zumindest solange sie ohne Auftrag waren.

Manche, für die ein Dämon beschworen wurde, behielten ihn dauerhaft, bis sie erkrankten und selbst zu einem wurden, bis sie starben oder als unwürdige Kreaturen über Mythenland wandelten.

Nicht wenige, die einen Dämon beschworen, wurden selbst das Opfer ihrer Tat. Schwarze Rituale konnte nur durchführen, der darin erprobt war. Nicht wenige starben bei einer Evokation, manche nur deshalb, weil sie den Verabschiedungsspruch vergessen hatten.

Sie waren Stümper und ähnlich kam ihr an diesem Tag Murgon vor, wie ein Stümper. An diesem Tag, der alles ändern sollte.

 

 

 

Murgon saß auf seinem Thron, sehr zufrieden und gesättigt. Soeben hatte er einer Hinrichtung beigewohnt, eine jener kleinen Spielchen, die er regelmäßig trieb, um sich seiner Macht zu vergewissern.

Ein sogenannter Schwarzer Reisender aus Mythenland, der den Weg nach Unterwelt gefunden und bewältigt hatte, hoffte, seine Neugier zu befriedigen, ohne eigenen Schutz. Ein naiver Junge, der todesmutig hergekommen war und der sein Schwert führte wie eine betrunkene Ziege, die den Ruhm sucht.

Murgon hatte seine Seher ausgeschickt, die den Jungen einfingen wie eine lästige Spinne. Sie fesselten ihn an allen Vieren und legten ihn auf den Fels. Sie pflockten ihn fest und riefen den Sanften Jack. Der zweiköpfige Mann wetzte die Klinge seines Messers an einem Ledergürtel. Zum allgemeinen Gespött der Anwesenden zerschnitt man den Jungen wie einen Pudding aus Ochsenmilch.

Die Schreie des Opfers hallten durch Unterwelt und erst nach einer unendlichen Weile, in der Gwenael sich vertiefen musste, um nicht einzuschreiten, erlosch das Leben des todesmutigen Naivlings wie ein Kerzenlicht.

Nun also wartete Murgon auf den Dämon. Er würde kommen. Sie wehrten sich nie. Wenn er rief, gehorchten sie.

Das Tor seiner Halle wurde aufgestoßen.

Murgons Wachsoldaten spritzten zur Seite und blieben mit gebrochenen Knochen liegen. Der Torrahmen war von einem Schatten erfüllt, der Gwenael, die neben Murgon stand, mit Grausen erfüllte. Ihr Bruder sprang auf und schob seine Schwester von sich weg.

»Verschwinde«, sagte er. »Du bist in Gefahr!«

Gwenael gehorchte und drückte sich zusammen mit einigen Bediensteten in den Schatten, obwohl sie kein gutes Gefühl dabei hatte. Sie kam sich wie ein Feigling vor. Der Steinboden der Halle bebte, als sich der Dämon mit weiten Schritten dem Thron näherte. Die Wände zitterten und es regnete Steinbröckchen und Staub.

»Du willst, dass ich dir folge, Dunkelelf?«, donnerte der Dämon. »Du wagst es, mich rufen zu lassen?«

Noch war er nur ein Schatten, aber bald konnte Gwenael das schwarze Wesen genauer erkennen. Mehr als zehn Fuß hoch, die breiten Schultern gebeugt, ein kantiger Schädel, aus dem zwei Hörner wuchsen. Die Haut war schwarz wie Leder, rote Feuer loderten aus seinem Maul und aus den Augen schossen weiße Blitze. Die stempelartigen Beine zuckten, der ganze Leib schien nur aus Muskeln zu bestehen. Der Schwanz peitschte und dort, wo die Spitze über den Boden wischte, sprangen Funken hoch.

Dieser Dämon, erkannte Gwenael mit bitterer Klarheit, würde es ihrem Bruder nicht leicht machen. Er gehörte zu denen, die sich nicht so einfach brechen ließen. Dieser Dämon musste eine ganz besondere Geschichte haben, was sonst sollte ihn so stark gemacht haben?

War es Hass?

Hatte er zu viel erlitten?

War seine Seele durch die Bosheit anderer gebrochen worden? Oder war er schon als Manifestation des Bösen auf die Welt gekommen? Ein Massenmörder? Ein Vergewaltiger? Jemand, den man gefürchtet hatte, als er noch über seine Menschengestalt verfügte?

Das war im Moment unwichtig.

Wichtig war, was Murgon anstellte, um seine Macht zu zeigen. Der Dunkelelf richtete seine Fingerspitzen auf den dampfenden Dämon, aus dessen Nüstern Rauchwolken quollen und pure Energie schoss auf den Dunklen und umhüllte die schreckliche Gestalt mit blauem Licht, welches zischelte und seine Kraft wie ein Mantel um den Dämon legte. Der Dämon richtete sich hoch auf und schrie vor Schmerzen.

Murgon lachte.

»Willst du dich mir entgegen stellen, Dunkler? Willst du das wirklich? Hat man dir nicht berichtet, dass so etwas unmöglich ist? Hat man dir nicht berichtet, dass ich deine Kraft fressen werde, um die meine zu verstärken?«

»Ja!«, grollte der Dämon. »Ja, alle anderen haben mir genau das gesagt. Ich werde nicht zulassen, dass du das mit mir tust.«

Seine Worte hallten zwischen den Wänden wie Donner und Gwenael spürte, dass zwischen den einzelnen Worten so etwas wie Verzweiflung mitschwang. Sie schloss ihre Augen und versuchte, in die Gedanken des Wesens einzudringen. Als ihre telepathischen Finger sich den Emotionen des Dämons näherten, war ihr, als berühre sie ein glühendes Schlangennest. Ihr mentaler Tastsinn brannte und sie zog sich zurück, während ihr ganzer Körper augenblicklich in Schweiß gebadet war.

Bei den Göttern, was war dieses Wesen?

Welche Geschichte trug es in sich?

Warum fühlte sie sich ihm gegenüber so schwach?

Der Schädel des Dämons ruckte zur Seite und sein glühender Blick fiel auf Gwenael.

Er hat es gespürt! Er hat gespürt, dass ich ihn lesen wollte!

Obwohl Murgon den Kampf selbstbewusst und rasant begonnen hatte, schienen ihn die Kräfte zu verlassen. Er hatte seinen ersten Energieströmen kaum etwas hinzuzufügen. Gwenael sah es an seinem Gesicht: es war eine verdutzte Maske, weitaufgerissene, ungläubig starrende Augen.

Was geschah hier?

Das durfte es nicht geben! Ein Dämon, der Murgon, dem Dunkelelf widerstand?

Der Dämon hatte die Energieummantelung abgeschüttelt. Knurrend und aus dem Maul geifernd, kniete er sich vor Murgon hin, keine Geste der Unterwerfung, sondern eine, um dem Dunkelelf auf Augenhöhe zu begegnen.

»Versuche das nie wieder, Dunkelelf«, knurrte der Dämon.

»Ich muss es tun, Kreatur«, schnappte Murgon, der vom Thron rutschte, einen Schritt zur Seite taumelte und sich nur mit Mühe an der Armlehne festhalten konnte.

Der Dämon hob eine Pfote. Seine dolchlange Kralle verharrte vor Murgons Gesicht. Er drehte sie, wendet sie, lugte über sie hinweg in Murgons Augen und Gwenael, die keinen Zugang zum Geist des Dämonen fand, hoffte, das Wesen würde nicht zustoßen. Nur eine kleine Bewegung und es konnte mit seiner Kralle Murgon den Kopf von den Schultern schneiden.

Noch immer kreisten und drehten sich Gedanken in ihr. Was hatte ihren Bruder so geschwächt? Seit wann konnte er einem Dämon kein Paroli bieten? Das Ganze war absurd – und es schien, als habe der Dämon sehr genau gewusst, was geschehen würde.

»Du musst es tun, Dunkelelf? Du musst mich versklaven?«, knurrte der Dämon und legte den Schädel schräg, als mustere er ein Tierchen, mit dem er ein grausames Spiel plante.

»Dies hier ist Unterwelt!«

»Hast du Unterwelt geschaffen, Dunkelelf?«

Murgon zog die Brauen zusammen. »Nein!«

»Warum dann diese Überheblichkeit?«

Murgon lächelte schief. »Ich bin der Lord von Unterwelt! Ein Herrscher!«

»Wie viele Dämonen hast du bisher unterworfen? Wie viele folgen dir?«, fragte der Schwarze.

Murgon sagte ganz leise: »Alle, Dämon. Alle.«

»Und jede dieser Unterwerfungen stärkte dich?«

»So ist es.«

»Dann versuche, mich zu unterwerfen. Versuche es.«

Gwenael spürte Murgons maßlose Verunsicherung. Zu viele seltsame Dinge. Woher kam der Dämon? Warum war er freiwillig in die Herrscherhalle gekommen? Sicherlich nicht, um sich unterwerfen zu lassen. Dahinter steckte etwas anderes.

»Du kannst es, nicht, Dunkelelf.« Der Dämon legte den Kopf in den Nacken und lachte donnernd. »Dann bist du auch nicht Unterwelts Herrscher!« Purer Spott, und eine gottgleiche Überlegenheit troff aus seinen Worten.

Gwenael schloss erneut ihre Augen. Nun galt es zu reagieren. Dies war der Augenblick, in dem sie sich Murgon beweisen konnte. Dies war der Moment, ihren Bruder zu retten.

Sie konzentrierte ihre gesamte Gedankenkraft auf den Dämon. Sie wusste, es würde nur einmal gelingen. War es nicht von Erfolg gekrönt, konnte es ihr Leben kosten. Dieses Risiko war es wert.

Sie feuerte einen mentalen Strahl auf den Dämon. Ihr Kopf wehrte sich dagegen, brüllte auf vor Schmerzen, wollte schier platzen. Alles das war unwichtig, solange ihr Plan aufging. Der Dämon lachte und wer lachte, hatte seine Gefühle für einen Moment losgelassen, vor allen Dingen seine dunklen, düsteren. Und genau dort, in diese Lücke von Hell zu Dunkel, schlug ihr mentaler Blitz ein.

Der Dämon schleuderte zurück und wischte wie von Seilen gezogen ein paar Meter über den Hallenboden.

Murgons Kopf fuhr zu Gweanel herum.

Diese blieb jedoch auf den Dämon konzentriert. Sie pulste einen viel schwächeren Strahl hinterher, alles, was sie an mentaler Kraft aufbringen konnte und sah, dass ihr mutiger Plan von Erfolg gekrönt war.

Der Dämon schrumpfte zusammen. Rauch umhüllte den massigen Körper. Es knisterte und knackte. Muskeln zogen sich zusammen, die Kreatur würgte und ächzte, krümmte sich zusammen und schnellte wie eine Feder auseinander. Sie warf den Kopf zurück und Gwenael sah mit großen Augen, dass sich das Gesicht der Kreatur veränderte. Die Hörner zerbröselten, Fleischmassen platzen ab und lösten sich auf. Innereien verwoben sich neu, über der Kreatur lag ein grünblauer Strahlenkranz.

Später dachte Gwenael oft daran, dass dies der richtige Moment für ihren Bruder gewesen wäre, den Dämon zu unterwerfen. Er war geschwächt. Hilflos. Stattdessen starrte der Lord von Unterwelt mit geöffnetem Mund auf die Metamorphose.

Unerwartet lag dort auf den Steinen ein schmaler Körper, von dem zwar ein süßlicher Geruch ausging, doch an dem sonst nichts mehr an die Dämonengestalt erinnerte. Ein junger Mann, der ächzend seinen Kopf hob und sich hochzustemmen versuchte.

Liebe Güte, was ist das? Gwenael traute ihren Augen nicht. Es gab nur eine Möglichkeit: Ein Dämon siegte oder unterlag, aber eine Verwandlung war unmöglich, solange er unbeschworen war. Murgon schreckte zurück, hielt sich an der Thronlehne fest und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Geschehen.

Unmöglich hin oder her. Er ist ein hübscher junger Mensch, fand Gwenael. Einer, den man gerne anschaute. Einer, von dem man niemals annehmen würde, er sei ein Dämon.

»Was bist du?«, krächzte Murgon.

Der junge Mann schwieg.

»Ich werde es herausfinden«, versprach der Dunkelelf.

Der Mann starrte ihn direkt an. Um seine Lippen spielte ein siegesgewisses Lächeln. »Versuch es«, krächzte er. »Du wirst feststellen, dass ich dir deine Kraft genommen habe. Du bist derzeit nicht stärker als jeder gewöhnliche Magus oder Elf!«

Gwenael zuckte zusammen. Ihre Blicke huschten durch die Halle. Den Göttern sei Dank, die Wachsoldaten waren noch immer bewusstlos, vielleicht tot. Sie vermutete, dass es nicht wenige Dämonen gab, die diesen Augenblick ausgenutzt hätten. Murgons Blick sprach Bände. Der Manndämon hatte Recht.

»Du magst die Wahrheit sagen, Dämon«, knurrte Murgon, um Fassung ringend. »Dennoch habe ich noch genug Kräfte, um dich auf der Stelle auszulöschen.«

»Sperr ihn ein«, flüsterte Gwenael. »Er ist wichtig. Er ist etwas Besonderes.«

Murgon zögerte. »Ich bin dir etwas schuldig, Schwester …«

»Es geht nicht darum, Murgon. Es geht um Vernunft. Diesen Manndämon umgibt ein Geheimnis.«

Murgon schloss die Augen und nickte, während er einen mentalen Befehl aussandte. Wachghule stürmten herbei.

»In den Kerker mit ihm!«, donnerte Murgon.

Gwenael staunte, wie perfekt ihr Bruder den Starken spielte. Niemand würde erfahren, was soeben geschehen war.

Der Manndämon richtete sich auf und verbarg seine Blöße. Schwarze wellige Haare fielen ihm über das Gesicht. »Wir sehen uns wieder, Murgon.«

Der Lord von Unterwelt wandte sich ab.

 

 

 

Der Sanfte Jack, ein exorbitanter Foltermeister, versuchte am Manndämon seine Kunst. Der Manndämon litt Schmerzen, doch er gab weder seinen Namen noch seinen Plan preis. Er war mit Fesselmagie angekettet. Diese war von Murgon und seiner Schwester gemeinsam geschmiedet worden und unzerstörbar.

Gwenael war zufrieden. An diesem Tag hatte sie das Vertrauen ihres Bruders gefestigt. Der Dunkelelf wusste genau, dass sie ihm vermutlich das Leben gerettet hatte.

Warum, fragte sie sich, hatten Murgon in diesem Kampf die Kräfte verlassen? Was war geschehen? Hatte der namenlose Mann Magie genutzt? Hatte er Murgon die Kräfte genommen, um sie sich selbst einzuverleiben? Und falls das so war, warum verharrte er in seiner menschlichen Gestalt?

Eines war gewiss: Wollte Murgon seine Macht erhalten, musste er neue Kräfte finden. Er benötigte einen Katalysator.

»Was kann ich tun?«, fragte er Gwenael.

»Ich war heute Morgen im Kerker«, antwortete sie.

»Und?«

»Er schweigt.«

Murgon grinste hart. »Der Sanfte Jack hat bisher stets sein Ziel erreicht. Manchmal dauert es länger, dann wieder geht es ganz schnell.«

»Der Manndämon könnte dir helfen.«

Murgon legte den Kopf schräg. »Was meinst du damit?«

Gwenael zerschlug ein Wasserglas auf dem Tisch. Sie fegte mit den Händen die Splitter zusammen. Sie sah zu Murgon hoch. »Wenn es dir gelingt, ihn dir untertan zu machen, bist du nicht mehr ausschließlich auf Sharkan, der Vierköpfigen angewiesen. Einer wie dieser Manndämon wäre ein wunderbarer Anführer deiner Truppe. Er wird Mythenland in Angst und Schrecken versetzen.«

»Da ist was dran, Schwesterherz.«

»Doch zuerst musst du deine Kräfte zurückgewinnen. Deine zwar mächtigen, aber dennoch elfischen Kräfte genügen nicht, um Unterwelt im Griff zu behalten.«

»Er hat sie mir genommen«, schnaufte der Dunkelelf. »Wie konnte das passieren? Und wo sind diese Kräfte jetzt? Er selbst kann sie nicht besitzen, dann würde er sich nicht foltern lassen.«

»Eben das wollen wir von ihm wissen, Murgon. Parallel dazu müssen wir dafür Sorge tragen, deine Macht zurückzuholen.«

»Ich gehe in die Grauen Bibliothek. Dort werde ich Antworten finden.« Er verharrte. »Was soll diese Übung bewirken?« Er zeigte auf die Glassplitter.

»Füge zusammen, was zusammen gehört«, flüsterte Gwenael.

»Ist das metaphorisch gemeint, Schwester?«

»Das Bild ist unklar.« Auf dem Tisch lagen unzählige Glasscherben, zersplitterte Fragmente. Sie hob ihre Handfläche darüber und schloss die Augen. Als sie sie öffnete, erfreute sie sich an dem Anblick. Wie von Geisterhand fügten sich die Splitter zusammen, rasteten ineinander, Stück für Stück, ein glitzernder Wirbel, es knisterte leise dabei, und mit einem satten Geräusch sank das gefügte Glas mit dem Boden zuerst auf die Tischbohlen. Ein weiches grünes Licht schimmerte im Glas, als die Risse milchig wurden, sich ineinander verwoben und das Gefäß endgültig und völlig unversehrt zusammengefügten.

»Bist du unter die Gaukler gegangen?«, fragte Murgon abschätzig.

Gwenael lächelte sanft. »War das eine metaphorische Frage, Murgon?«

Der Dunkelelf lachte kalt, drehte sich um und verließ den Raum.

 

 

 

Nichts wirkte in Unterwelt so deplatziert wie die Graue Bibliothek. Bücher, Schriftrollen und Pergamente hätte man an diesem Ort des Bösen zuletzt vermutet. Gwenael staunte über diese Sammlung. Es gab Bibliothekare auf Mythenland, die ihr letztes Hemd, ihre Ziege und noch ein Bein obendrauf für dies hier gegeben hätten.

Bücher der Dunkelheit – soweit das Auge sah.

Erinnerungen von Vampiren, die aus gebildetem Hause kamen. Nachkommen Blinder Magister, die zu Mördern geworden waren und Seiten mit Ratschlägen gefüllt hatten, wie man ein anderes Wesen meisterhaft vom Leben zum Tode beförderte. Bücher in geheimen Schriften, die keiner lesen konnte. Unzählige Rollen und Bücher mit Zaubersprüchen, dunkle Magie oder weiße, die sich in Schwarze gewandelt hatte. Hier waren die Kriegserinnerungen grausamer Herrscher festgehalten, minutiöse Erklärungen jeder erdenklichen Folterart. Es gab Pergamente, die von den Wächtern persönlich verfasst worden waren.

Jedes Gerichtsverfahren, das in Dandoria stattgefunden hatte, war dokumentiert, Hexenverfahren, alle Dämonenprozesse. Detailliert wurden die Exekutionen geschildert, die, angeführt von Inquister Loouis Balger, in den letzten vierzig Jahren in Dandoria stattgefunden hatten, doch auch alles, was davor geschah.

Hier fand man die Stammbäume großer Kriegerfamilien aus dem Norden und Zeichnungen, die Wesen zeigte, die von den Sternen gekommen waren.

Es gab allerdings auch unterhaltsame Geschichten menschlicher Autoren oder dichtender Elfen. Die der menschlichen Autoren drehten sich meistens um düstere Begebenheiten, Mord, Entführung und Grauen. Gweanel war erstaunt, dass es offensichtlich nur wenige Bücher gab, die nicht davon handelten. Sogar einige ihrer elfischen Artgenossen hatten sich dazu herabgelassen, in ihrer Dichtung die Nacht zu favorisieren.

Am interessantesten waren die Schriften, die von Intrigen und Machtergreifung handelten. Es war erstaunlich, wie viele Menschen und andere Rassen sich damit beschäftigt hatten. Die Intrige war zur Meisterschaft erhoben worden. Für die Machtergreifung und deren Festigung galten feste Regeln. Es war ein Spiel. Man musste es beherrschen.

Doch sie fanden nichts darüber, wie Murgon seine Macht zurück erlangen konnt.

Tagelang durchforsteten sie die Graue Bibliothek, nächtelang versuchten sie, sich an alte Überlieferungen zu erinnern. War so etwas schon einmal passiert? Gab es einen Präzedenzfall?

Murgon ließ den Mann wieder und wieder foltern. Während dieser Schmerzen litt, formte sich erneut das Wesen des Dämons, diesmal in Ketten geschlagen, in den Fels gehämmert und gefangen. Die dämonische Präsenz war dann so stark, dass der Sanfte Jack seine Behandlung abbrechen musste.

Murgon suchte nach Antworten, aber er fand sie nicht.

Gwenael war bei ihm, unterstützte ihn, lernte.

Ihr Bruder, das wusste sie, würde niemals ruhen. Er würde sich seine Kraft zurückholen. Denn er hatte einen Plan. Und Murgon war nie jemand gewesen, der von einem einmal getroffenen Entschluss zurücktrat.

Es dauerte und dauerte.

Bis sie endlich eine mögliche Lösung fanden.

»Komm mal her«, sagte Gwenael und pustete Staub von einer Schrift, die sie auf der Tischplatte glättete. »Ich habe die Sage von Sharkan, dem Vierköpfigen gefunden.«

Murgon blickte ungehalten. »Na und? Die kenne ich. Sein Ei ist bald reif. Er wird schlüpfen. Ich ziehe ihn auf und er wird an meiner Seite Mythenland erobern.«

»Ich weiß, dass du die Sage kennst, lieber Bruder.« Gwenael bemühte sich um eine ruhige Stimme. Sie drehte sich um und entnahm dem Regal aus gleicher Höhe weitere Schriften, die sie aufeinanderlegte. »Hier geht es um Drachen!«

»Na und? Ich besitze drei.«

Er sprach über die drei roten Drachen, die er einem Barden gestohlen hatte, als diese noch so klein wie Katzen gewesen waren.

»Was haben deine roten Drachen bisher bewirkt?«

»Sie warten. Das liegt in der Drachennatur. Sie können viele Jahrhunderte warten. Dann, wenn sie Sharkan folgen, werden wir unbesiegbar sein.«

»Also musst du Sharkans Ei finden?«

»Bei den Göttern, Gwenael!« fuhr er auf und warf ein Buch ins Regal. »Was soll dieses Fragespiel? Wenn ich meine Macht zurückhabe, werde ich das Ei spüren und holen. So, wie ich damals die Jungdrachen zu mir holte.«

»Hier steht, dass Drachen Kraft absorbieren!« sagte Gwenael hart. Sie mochte es nicht, wenn Murgon sie anfuhr. Er kam zu ihr und starrte auf das Pergament.

Gwenael fuhr fort: »Die roten Drachen sollen dir beweisen, was sie gelernt haben. Sie haben die Gabe, das Ei zu spüren. Und sie haben die Gabe, Kraft auf dich zu übertragen. Je stärker sie werden, desto stärker wirst du. Sie werden bei ihrer Suche nach dem Ei töten und brandschatzen. Jedes Wesen, das unter ihrem Drachenhauch stirbt, kräftigt sie und du kannst diese Macht von ihnen abzapfen.«

»Ein Katalysator …«, sagte Murgon und rieb sich das Kinn.

»So ist es. Du schlägst mehrere Fliegen mit einer Klappe, Murgon. Sie bringen dir das Ei, sie versorgen dich mit Macht und vielleicht finden sie ein Wesen, welches die Intelligenz besitzt, das Artefakt zu öffnen.«

»Es muss eine überragende Intelligenz sein«, sagte Murgon. »Sogar mit meinen magischen Fähigkeiten gelang es nicht.«

»Drei Ziele, die mit einer Aktion erreicht werden können.«

Murgon richtete sich auf. Seine roten Augen glühten, seine Mundwinkel zuckten. Er legte einen Arm um Gwenael. »Wenn ich dich nicht hätte …«

Gwenael schloss die Augen und ein kalter Schauer fuhr über ihren Rücken.

 

Im Schatten der Drachen
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