9.3. Die eisenärmsten Sterne
Die Sterne mit den geringsten Metallizitäten weisen die größte Vielfalt an ungewöhnlichen Elementhäufigkeiten auf. Die zwei eisenärmsten Sterne sind dabei die besten Beispiele. Aber zunächst sollte die Frage beantwortet werden, warum diese Sterne als die eisenärmsten und nicht als die metallärmsten bezeichnet werden. Dazu schauen wir uns HE 0107–5240 und HE 1327–2326 etwas genauer an.
HE 0107–5240 ist ein Roter Riesenstern mit einer Eisenhäufigkeit von [Fe/H] = –5,2, was einem 1/150 000stel der solaren Eisenhäufigkeit entspricht. HE 1327–2326 hat hingegen die Hauptreihe gerade erst verlassen und befindet sich in seiner Entwicklung noch in der Nähe des Turn-off-Punktes. Er hat eine Eisenhäufigkeit von [Fe/H] = –5,4, also nur ein 1/250000stel der Eisenhäufigkeit der Sonne. In der Atmosphäre von HE 1327–2326 kommen so auf jedes Eisenatom mehr als zehn Milliarden Wasserstoffatome. Insgesamt enthält dieser Stern damit insgesamt hundertmal weniger Eisen als der Eisenkern im Inneren der Erde. Das ist ziemlich wenig angesichts dessen, dass der Stern ja etwa 300 000 Mal schwerer als die Erde ist.
Geht man wie üblich davon aus, dass die Eisenhäufigkeit mit der Metallizität eines Sterns gleichzusetzen ist, müssten diese beiden Sterne die bei weitem metallärmsten sein. Was wir aber durch die Entdeckungen dieser Sterne gelernt haben, ist, dass die meisten Elemente in diesen Sternen nicht dem Eisen folgen: Tatsächlich zeigen die beiden eisenärmsten Sterne die größten bisher gemessenen Verhältnisse von Kohlenstoff-, Stickstoff- und Sauerstoff-zu-Eisen sowie relativ große Werte für Natrium-, Magnesium-, Kalzium- und Titan-zu-Eisen. Wenn man also die Häufigkeiten aller Elemente zusammenzählt, werden diese beiden Sterne zur Ausnahme der Regel: Sie sind im Schnitt wesentlich metallreicher als die Metallizität, die die Eisenhäufigkeit vorschlägt. Die generelle Regel »Eisenhäufigkeit = Metallizität« bricht hier also zusammen. Bisher ist dieser Fall aber nur bei Sternen mit [Fe/H] < –5,0 so deutlich aufgetreten. Der weiteren Entdeckung von Sternen mit [Fe/H] < –5,0 wird deshalb schon entgegengefiebert, denn die Antwort auf die Frage, ob ihre Eisenhäufigkeit auch die Gesamtmetallizität widerspiegeln wird, ist für unser Verständnis der Entstehung der ersten massearmen Sterne im Universum von weitreichender Bedeutung.
Diese enormen Überhäufigkeiten von Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff sollten aber noch etwas näher betrachtet werden. Der Einfachheit halber benutzen wir die Werte von HE 1327–2326, die noch etwas ausgeprägter als die von HE 0107–5240 sind. HE 1327–2326 hat etwa 2500 Mal mehr Kohlenstoff als Eisen und 5600 Mal mehr Stickstoff als Eisen. Sauerstoff existiert immerhin noch 630 Mal häufiger. Der Ursprung dieser Überhäufigkeiten ist immer noch nicht eindeutig verstanden. Dennoch liefern Modelle zur Sternentwicklung und Supernova-Nukleosynthese plausible Erklärungen zur Produktion der CNO-Elemente in den ersten Sternen.
Wie sieht es mit den anderen Elementen aus? Lithium wird beim Aufblähen zum Roten Riesen in tieferen Schichten im Stern selbst wieder zerstört (siehe auch Kapitel 9.4), so dass es in Sternen wie HE 0107–5240 nicht mehr in messbaren Mengen vorhanden ist. Da HE 1327–2326 sich noch vor der Roten-Riesen-Phase befindet, wurde angenommen, dass Lithium in diesem Stern detektierbar sei. Mit seiner niedrigen Eisenhäufigkeit wäre HE 1327–2326 der ideale Kandidat, um eine Messung des primordialen Lithiumwerts zu erhalten. Zur großen Überraschung konnte die Doppellinie des Lithiums im Spektrum aber nicht detektiert werden. In diesem Fall war also keine ungewöhnliche Überhäufigkeit eines Elements gefunden worden, sondern ein großes Defizit. Eine überzeugende Erklärung für das Fehlen von Lithium in diesem Stern hat es bisher nicht gegeben. Es bleibt also spannend – in diesem Sinne ist es interessant, dass inzwischen ein weiterer Stern, SDSS J102915+172927, mit [Fe/H] = –4,8 gefunden wurde, der entgegen allen Erwartungen auch kein detektierbares Lithium zeigt. Wenigstens kann nun spekuliert werden, dass Lithium in den eisenärmsten Sternen vielleicht durch ganz besondere Prozesse im Sterninneren schon vor der Riesenastphase zerstört wird.
Schließlich enthält HE 1327–2326 überraschenderweise das Neutroneneinfangelement Strontium. Es ist in 15 Mal größerer Menge als Eisen anzufinden. Woher eine so große Menge Strontium stammt, ist bislang ungeklärt. Eine spezielle Art von Supernovae war wahrscheinlich vonnöten, die eventuell nur im frühen Universum auftrat. In HE 0107–5240 konnte im Vergleich dazu kein Strontium gemessen werden, woraus geschlossen werden kann, dass dessen Häufigkeit in diesem Stern wesentlich geringer sein muss.
Neben den zwei Sternen mit [Fe/H] < –5,0 wissen wir inzwischen von noch zwei weiteren Sternen mit [Fe/H] = –4,8. Wie sehen nun deren Häufigkeiten aus? Haben sie auch so wilde, individuelle Elementmuster, die andeuten, dass die chemische Entwicklung noch in den Kinderschuhen steckte und noch nicht ihren normalen Verlauf genommen hatte? Die Antwort ist ja und nein. Denn einer dieser Sterne, HE 0557–4840, ist HE 1327–2326 und HE 0107–5240 zumindest mit seiner Kohlenstoffüberhäufigkeit sehr ähnlich. Ansonsten ist er aber weniger auffällig, und die meisten anderen Elementhäufigkeitsverhältnisse gleichen denen der Sterne mit [Fe/H] > –4,0. Der andere Stern, SDSS J102915+172927, weist hingegen Häufigkeitsverhältnisse auf wie jeder andere normale metallarme Stern. Auf den ersten Blick ist dies ziemlich langweilig, die Schlussfolgerung ist aber interessant: Zwischen [Fe/H] = –5,0 und –4,5 muss ein Übergang zu den normaleren Häufigkeitsverhältnissen stattgefunden haben, der den Übergang von der zweiten zu den folgenden Sterngenerationen andeutet.
Sterne mit höheren Metallizitäten haben meist das reguläre Halostern-Muster, wenn es auch offensichtlich Sonderfälle gibt, wie in Kapitel 9.2 beschrieben wird. Unter den Sternen mit den niedrigsten Eisenwerten gibt es bisher keine Normalfälle, sondern nur Ausnahmen. Anders gesagt, die metallärmsten Sterne lehren uns, dass das ganz frühe Universum noch inhomogen war und sich wohl noch in einem wenig durchmischten Zustand befand. Deswegen wurden HE 0107–5240 und HE 1327–2326 sofort nach ihren Entdeckungen zu begehrten Testobjekten. Sie eignen sich hervorragend, um Theorien zur Stern- und Galaxienentwicklung zu überprüfen und Antworten auf viele kosmologische Fragestellungen zu finden.
Aus der Tatsache ihrer Existenz ergibt sich weiterhin sofort die wichtigste Frage der Stellaren Archäologie: Können diese Ausnahme-Häufigkeitsmuster auf die chemische Anreicherung der Geburtswolke zurückgeführt werden, die durch nur einen einzigen der ersten Population-III-Sterne verursacht wurde? Um die Herkunft dieser außergewöhnlichen Muster zu erklären, wurden verschiedene Modelle für die Supernovaexplosionen von Population-III-Sternen entwickelt. So können die Nukleosyntheseprodukte abgeschätzt werden, die für die beobachteten Häufigkeitsmuster verantwortlich gemacht werden. Ziel ist es dabei vor allem, die beobachteten unterschiedlichen Werte für Eisen und Kohlenstoff in den beiden Sternen mit den Modellen zu reproduzieren. Denn so große Mengen Kohlenstoff und gleichzeitig so wenig Eisen herzustellen stellt sich als eine große Herausforderung heraus.
Dennoch gelang der Durchbruch mit einer neuen Idee für einen explodierenden Population-III-Stern mit 25 Sonnenmassen. In diesem Szenario werden die neu synthetisierten Elemente während der Supernova nicht kräftig genug ins interstellare Medium hinausgestoßen. Dies hat zur Folge, dass einige Anteile der neu synthetisierten Metalle, insbesondere Eisen, wieder auf den kollabierenden Sternkern zurückfallen und dabei vom neu entstandenen Schwarzen Loch sofort verschluckt werden. So kann erreicht werden, dass nur kleinste Anteile von Eisen die Umgebung anreichern, während andere Elemente, wie z.B. Kohlenstoff, in sehr viel größeren Mengen auftauchen. Der Vergleich der Sternhäufigkeiten von HE 0107–5240 und HE 1327–2326 mit den Vorhersagen zur Supernovanukleosynthese eines Population-III-Sterns ist in Abbildung 9.2 gezeigt. Die gute Übereinstimmung deutet darauf hin, dass die Gaswolken, aus denen HE 0107–5240 und HE 1327–2326 entstanden, tatsächlich jeweils von nur einem einzigen ersten Stern angereichert wurden.
Andere Ideen zur Kohlenstoffüberhäufigkeit besonders von HE 1327–2326 befassen sich mit schnell rotierenden Population-III-Sternen von 60 Sonnenmassen, die durch enormen Massenverlust schon vor ihrer Explosion viel Kohlenstoff und auch Stickstoff und Sauerstoff in das interstellare Medium abgeben können.
Diese Methode des Vergleichens der theoretischen und beobachteten Elementhäufigkeiten ist die einzige Art und Weise, etwas über die ersten Schritte der chemischen Entwicklung zu erfahren und deren früheste Stadien nachzuvollziehen. Es ist eine Herausforderung, diese seltenen Sterne zu finden, die eventuell tatsächlich überlebende Sterne der zweiten Generation im Universum sind. Aber der Gewinn für unser Verständnis des frühen Universums und der ersten Sterngeneration ist enorm.
Die Häufigkeitsmuster der Sterne mit Metallizitäten von [Fe/H] = –4,0 mit ihren typischen Halohäufigkeiten können dagegen nicht mit nur einem einzigen Vorgängerstern erklärt werden. Um diese Häufigkeitsmuster zu reproduzieren, braucht es die gemittelten Werte der Nukleosyntheseprodukte mehrerer Supernovae. Denn erst mit einer größeren Anzahl von Supernovae mitteln sich die Variationen der individuellen Nukleosyntheseprodukte zu einer einheitlichen Mischung. Seither ist die chemische Entwicklung des Universums also in vollem Gang.
Abb. 9.2: Elementhäufigkeiten von HE 1327–2326 und HE 0107–5240 (Kreise und Vierecke). Die gestrichelten Linien geben die jeweils bestmöglich passenden Häufigkeiten an, die mit dem Nukleosynthesemodell einer 25 Sonnenmassen großen Kern-Kollaps-Supernova berechnet wurden, bei der nicht alles Material in das interstellare Medium herausgestoßen werden konnte. Die durchgezogene Linie zeigt die solaren Häufigkeitsverhältnisse zum Vergleich. Die Pfeile deuten obere Grenzen für die beobachteten Elementhäufigkeiten an.