2.6. Der Kosmologie auf der Spur
Mit der Bestätigung, dass es ein ganzes Universum voller anderer Galaxien außerhalb der Milchstraße gibt, wurden nun auch vermehrt Theorien zum Universum als Ganzem, also der Kosmologie, entwickelt. Schon früher hatte es viele philosophische Überlegungen zu diesem Thema gegeben, aber erst jetzt war es möglich, tiefer gehende physikalische Theorien zu formulieren, die auch durch Beobachtungen belegt werden konnten.
Einsteins Arbeiten kulminierten 1916 in der Aufstellung der Allgemeinen Relativitätstheorie, die eine konsistente Beschreibung der Gravitation als geometrischer Eigenschaft von Zeit und Raum darstellt. Die Anwendung der Relativitätstheorie stellte eine neue Möglichkeit dar, das Universum als Ganzes zu betrachten und es mathematisch zu beschreiben. Die moderne Kosmologie hatte ihren Anfang gefunden. Als eine Lösung seiner mathematischen Gleichungen stellte sich Einstein selbst zunächst ein statisches Universum vor, was der generellen Annahme seiner Zeit entsprach. Nach dieser Lösung sollte das Universum mit der Zeit weder größer noch kleiner werden. Damit es unter dem Einfluss der eigenen Schwerkraft nicht in sich zusammenstürzt, benötigte Einstein in seinen Gleichungen noch eine der Schwerkraft entgegenwirkende Kraft: Die kosmologische Konstante war geboren.
Kurz darauf veröffentlichte Willem de Sitter 1917 seine Ideen zur Existenz und Entwicklung des Universums. Sein Modell war allerdings noch etwas verworren und kompliziert, denn es enthielt keine Materie. Dennoch konnten sich Testteilchen von einem Beobachter entfernten, was zu der Vorhersage einer Rotverschiebung von weit entfernten kosmischen Objekten führte. Sofort machten sich die Astronomen dieser Zeit auf die Suche nach Nebeln und Galaxien mit hoher Rotverschiebung, um beobachtbare Beweise für das de-Sitter-Modell zu finden.
Fast zehn Jahre später, nachdem stellare Beobachtungen und Spektralklassifikationen der Entwicklung der Quantenmechanik und ersten Erkenntnissen auf der Suche nach der Energiequelle von Sternen im Gange waren, zeigte der belgische Priester und Physiker Georges Lemaître ab Mitte der 1920er Jahre ein umfassendes Interesse an Astronomie und dem Kosmos. Er hatte unter Eddington in England studiert, mit dem er später Modelle zur Kosmologie und der Natur des Universums über viele Jahre hinweg diskutieren würde. Lemaître war einer der Ersten, die sich intensiv mit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie auseinandersetzten, um sie auf das Universum als Ganzes anzuwenden.
Auch der Russe Alexander Friedmann war an Kosmologie interessiert. 1922 entwickelte er eine Lösung, die das Universum erst als expandierend und dann wieder kollabierend darstellt und ohne kosmologische Konstante auskommt. Ein solches zyklisches Universum, das sich ausdehnt und daraufhin wieder schrumpft, umgeht angenehmerweise das Problem des unbekannten Anfangs des Universums. 1924 fand er eine weitere Lösung für ein sich in alle Ewigkeit ausdehnendes Universum.
Seit dieser Zeit suchten auch de Sitter und Eddington gemeinsam in regelmäßigen Diskussionen im Rahmen der Sitzungen der Royal Astronomical Society in England nach einer kosmologischen Interpretation für Hubbles Beobachtungen weit entfernter und rotverschobener Galaxien von 1923. Lemaître las um 1930 einen Bericht dieser Treffen und schrieb daraufhin an Eddington, um ihm von seinen eigenen Ideen zu berichten, die er schon vor 1927 in eigenen Arbeiten entwickelt hatte. Die Feldgleichungen Einsteins lassen sich für den allgemeinen Fall nicht lösen. Durch die Einführung des kosmologischen Prinzips 1933 durch den englischen Astrophysiker Edward Arthur Milne, welches das Universum als homogen und isotrop betrachtet,[1] vereinfachen sich die Einstein’schen Gleichungen zur Friedmann-Gleichung. Zu dieser vereinfachten Gleichung hatte Lemaître eine Lösung gefunden, in welcher das Universum gleichmäßig expandiert.
Aus der Expansion des Universums leitete Lemaître weiterhin eine lineare Entfernungs-Geschwindigkeits-Beziehung für kosmische Objekte ab. Für ihn ergab sich dieses Gesetz als Konsequenz der relativistischen Kosmologie. Lemaître berechnete auch einen Wert für die »Hubble-Konstante«, die die Expansionsrate des Universums beschreibt. Allerdings war es Lemaître noch nicht möglich, diese Beziehung auch zwischen den Entfernungsdaten von kosmischen Objekten und deren Geschwindigkeitsmessungen zu erkennen. Dafür gab es 1927 noch nicht genügend astronomische Daten.
Alles in allem hatte Lemaître unbeachtet von der restlichen Welt mit Hilfe der damaligen Theorien und Galaxienbeobachtungen als Erster auf die Existenz eines expandierenden Universums geschlossen. Wenn sich das Universum ausdehnt, ergibt sich sofort die Frage nach seinem Anfang. Lemaître und Eddington diskutierten in den folgenden Jahren regelmäßig über diese Frage und ihre Konsequenzen. Mit seiner Idee des expandierenden Universums hatte er aber schon lange den Grundstein für die Urknalltheorie gelegt, von der heute angenommen wird, dass sie den Ursprung des Universums beschreibt. Erst im Nachhinein wurde ersichtlich, wie sehr Lemaîtres neue Theorie des Urknalls das damalige Weltbild eines statischen Universums verändern sollte.
Erst zwei Jahre später, also 1929, entdeckte Hubble das Entfernungs-Geschwindigkeits-Gesetz aus jahrelangen systematischen Beobachtungen weit entfernter Galaxien, die er selbst sowie Milton Humerson und Vesto Slipher gemacht hatten. Das neue Gesetz, das die Expansion des Universums beschrieb, verhalf ihm zu Weltruhm. Viele werden seinen Namen vom Hubble Space Telescope (Hubble-Weltraum-Teleskop) kennen, das in den 1990er Jahren nach ihm benannt wurde. Lemaîtres Arbeiten waren allerdings ursprünglich in einem wenig gelesenen belgischen Journal auf Französisch veröffentlicht worden, zu welchem nur wenige seiner Zeitgenossen Zugang hatten. Auch der Amerikaner Howard Percy Robertson hatte bereits 1928, unabhängig sowohl von Lemaître als auch von Hubble, eine Expansionsrate in seinen kosmologischen Berechnungen benutzt. Die Entdeckung der Expansionsrate wird aber oft allein Hubble zugeschrieben.
Angeregt durch seine Gespräche mit Eddington, entwickelte Lemaître seine Ideen zum Anfang des Universums weiter. Wahrscheinlich inspiriert von der Radioaktivität, führte er 1931 das »Uratom« ein, aus welchem sich aufgrund seines »Zerfalls« das ganze Universum Stück für Stück herausbilden sollte. So postulierte er, dass Raum und Zeit erst mit diesem Zerfall beginnen würden. Dennoch gab es auch ein nicht zu vernachlässigendes Problem mit Lemaîtres Modell. Das Alter seines Universums war mit zwei Milliarden Jahren wesentlich geringer und mit dem wesentlich größeren Alter der Sonne nicht vereinbar. Eddington hatte in der Zwischenzeit selbst ein Modell für ein erst statisches und später expandierendes Universum entwickelt. Obwohl er den Übergang dieser zwei Phasen nicht beschreiben konnte, hatte sein Modell kein Problem mit dem Alter.
Selbst als Einstein 1931 nach Entdeckung des expandierenden Universums der kosmologischen Konstante abschwor, ließen sich sowohl Lemaître als auch Eddington nicht davon abbringen, sie weiterhin zu benutzen. Im Gegenteil, 1933 verfeinerte Lemaître seine Theorien zum expandierenden Universum, was ihn endgültig zum Vorreiter der neuen Kosmologie machte. Schließlich interpretierte er die kosmologische Konstante als Resultat einer »Vakuum-Energie« mit einer perfekten Zustandsgleichung. Wie sich später herausstellte, war dies eine weise Voraussicht von Seiten Lemaîtres.
Wie sich in den 1990er Jahren herausstellte, sollte Lemaître recht behalten. Damals entdeckten zwei große Forschergruppen um Saul Perlmutter, Brian Schmidt und Adam Riess, dass das Universum sich nicht nur ausdehnt, sondern sogar immer schneller expandiert. Diese Entdeckung wurde 2011 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Mathematisch lässt sich die beschleunigte Expansion mit der kosmologischen Konstante beschreiben. Was aber physikalisch dahinter steckt, ist derzeit leider immer noch völlig unklar. Diese Ratlosigkeit spiegelt sich auch im Begriff der »dunklen Energie« wieder, der in diesem Zusammenhang verwendet wird. Allerdings wissen wir inzwischen wenigstens, dass die dunkle Energie ca. 72% zum gesamten Energie-Haushalt des Universums beiträgt.
Während all dieser Diskussionen um den Beginn und die Entwicklung des Universums in Europa beobachtete der Schweizer Astronom Fritz Zwicky 1933 in Südkalifornien systematisch den Galaxienhaufen Coma Berenices (Haar der Berenike). Er war daran interessiert, die Rotverschiebungen der Einzelgalaxien innerhalb des Haufens zu messen. Diese bewegten sich allerdings so schnell, dass sie eigentlich dem Haufen entwischen sollten, wenn man annahm, dass die Gravitationswirkung seiner beobachteten Leuchtkraft bzw. Masse entsprach. Irgendetwas stimmte da nicht, denn der Coma-Haufen sah nicht so aus, als ob ihm alle seine Galaxien verlorengehen würden. Somit stellte Zwicky kurzerhand die Hypothese auf, dass es jede Menge nichtleuchtende Materie im Galaxienhaufen geben müsse, die ihn mit ihrer zusätzlichen Schwerkraft zusammenhält. Zwickys Ideen gerieten jedoch erst einmal wieder in Vergessenheit, weil sie nicht ausreichend belegt waren. Heute wissen wir, dass es sich tatsächlich um »dunkle Materie« handelt, so wie Zwicky sie vorhergesagt hatte.
Systematische Beobachtungen zu diesem Thema wurden erst gegen Ende der 1970er Jahre von der Amerikanerin Vera Rubin durchgeführt. Um 1964 war sie die erste Frau gewesen, die legal Teleskope auf dem Mount Wilson bei Los Angeles benutzen durfte. Theoretische Arbeiten zur Existenz von dunkler Materie in Galaxien waren zuvor von den Astrophysikern James Peebles und Jeremiah Ostriker erstellt worden. Rubin arbeitete daran, Rotationskurven von einzelnen Galaxien zu bestimmen. Sie fand eine eindeutige Diskrepanz zwischen berechneten Werten und ihren Beobachtungen. Es war ihr somit möglich zu zeigen, dass Galaxien mindestens zehnmal mehr dunkle Materie als leuchtende Stern- und Gasmaterie besitzen mussten. Anders ausgedrückt bedeutete diese schwerverständliche Entdeckung, dass jede Galaxie mindestens zu 90% aus dunkler Materie besteht. Daraus folgte schnell, dass somit auch das sichtbare Universum nur ein kleiner Teil des ganzen Universums ist. Diese Ergebnisse setzten sich bald durch und etablierten die Erkenntnis, dass dunkle Materie ein wichtiger Bestandteil von Galaxien ist. Heute sind die allermeisten Wissenschaftler tatsächlich von der Existenz dieser »dunklen Materie« überzeugt, die Zwicky postuliert hatte. Aber auch die Natur der dunklen Materie ist noch nicht geklärt. Für die Galaxienstudien und die Kosmologie war die Entdeckung eine fundamentale Erkenntnis, die enormen Fortschritt mit sich bringen sollte.
Was die Aufstellung von neuen kosmologischen Modellen anging, gab es aber nach Mitte der 1930er Jahre erst einmal eine mehr als zehnjährige Durststrecke. In dieser Zeit war herausgefunden worden, warum Sterne leuchten und dass Kernenergie auch auf der Erde durch die Spaltung von schweren Kernen freigesetzt werden kann. Der Zweite Weltkrieg und der Atombombenbau »Manhattan Project« führten ihrerseits zu einem verlangsamten Fortschritt der gesamten Wissenschaften. Erst um 1948 gab es in der Kosmologie wieder Neuigkeiten. Hermann Bondi, Thomas Gold und Fred Hoyle schlugen ein neues Modell vor, das auf dem sogenannten perfekten kosmologischen Prinzip beruht. Das bedeutet, dass das Universum nicht nur räumlich homogen und isotrop ist, also in allen Richtungen über große Distanzen hinweg gleich aussieht, sondern auch noch zeitlich unveränderlich ist. Für räumlich und zeitlich unveränderliche kosmologische Modelle hat sich der Begriff »Steady-State«-Modell eingebürgert. Das Modell von Bondi, Gold und Hoyle kam ohne Einsteins kosmologische Konstante aus. Wenn das Universum expandiert, muss in ihm aber ständig neue Materie entstehen, sonst kann es das perfekte kosmologische Prinzip nicht erfüllen. Im Gegensatz dazu waren Eddingtons und Lemaîtres Modelle nicht homogen, da Materie nur aus dem Urknall kam und sich durch die Ausdehnung des Universums langsam verdünnte.
Fred Hoyle sagte 1950 in einem Radiointerview, dass die Konkurrenztheorie mit einem »Big Bang«, also einem großen Knall, beginnen würde. Der Begriff des »Big Bang«, im Deutschen »Urknall«, setzte sich von da an durch. Damit gab es nun zwei konkurrierende Theorien, die Urknall- und die Steady-State-Theorie. Wie konnte entschieden werden, welche die richtige war? Die Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung 1965 durch Penzias und Wilson, erst ein Jahr vor Lemaîtres Tod, war nicht mit dem Steady-State-Modell vereinbar. Eine heiße Anfangsphase des Universums, deren übrig gebliebene Strahlung noch heute messbar ist, war nicht mit dem Modell vereinbar. Die Urknallhypothese war somit bestätigt. Um 1980 wurde auch das Altersproblem endlich gelöst. Der amerikanische Teilchenphysiker Alan Guth sowie der russisch-amerikanische Kosmologe Andrei Linde modifizierten die Urknalltheorie unabhängig voneinander und führten eine frühe inflationäre Zeitspanne ein, in der sich das Universum für kurze Zeit extrem schnell ausgedehnt habe. Verschiedene Vorhersagen dieser Inflationstheorie sind in der Zwischenzeit mehrfach mit großer Genauigkeit bestätigt worden. Die Inflationstheorie ist deshalb heute Bestandteil des Heißen-Urknall-Modells.
Es gibt noch eine dritte Beobachtung, die für die Urknalltheorie spricht. Nach der Urknalltheorie entstehen in den ersten paar Minuten die chemischen Elemente Wasserstoff und Helium im Verhältnis drei Viertel zu einem Viertel und Spuren von Lithium, genau wie es auch in seit dem Urknall unverändertem Gas beobachtet wird.